Ein Märchen? – Es war einmal …
So fangen gewöhnlich Märchen an, manchmal auch Träume. So auch diese Geschichte:
Es war einmal ein junger Flensburger Supermarkt im Jahre 2022, der unbedingt eine Zeitreise in die Vergangenheit machen wollte, gern in die Zeit kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ins Jahr 1947 – also genau 75 Jahre zurück. Warum? Es interessierte ihn brennend, wie es wohl damals in seinem Viertel auf dem Friesischen Berg in einem typischen Supermarkt ausgesehen hat, wie das Warenangebot war und so weiter. Wie es in einem klassischen Märchen üblich ist, erhörte ihn eine gute Fee und erfüllte ihm prompt seinen geäußerten Wunsch.
So verließ der junge Supermarkt seinen wohltemperierten, hell erleuchteten und großzügig angelegten Laden in der oberen Mathildenstraße im Februar des Jahres 2022, er trat hinaus in den dunklen und nasskalten Morgen eines Februartages des Jahres 1947. Das Kopfsteinpflaster glänzte im Mondschein. Eine Straßenbeleuchtung gab es nicht: Er stolperte die abschüssige Straße hinunter. An der Ecke einer Seitenstraße schien es einen kleinen Laden zu geben. Schemenhaft erkannte er einige vermummte und gebückte, sich langsam vorwärts bewegende Frauengestalten. Nein, das konnte nicht sein Ziel sein – also ging es weiter die Straße bergab in Richtung Friesische Straße!
Klapp. Klapp. Klapp … das typische Geräusch von Pferdehufen? Von rechts kam tatsächlich ein Pferdegespann auf ihn zu, auf dem Leiterwagen befanden sich einige große silbrige Kannen mit ebensolchem Deckel. Zwei Gäule zogen den Wagen. Der Kutscher stoppte, sprang ab und wuchtete zwei dieser Kannen runter, stellte sie an einen Zaun. Der junge Supermarkt nahm seinen Mut zusammen und fragte den Kutscher: „Wo kann ich in dieser Gegend hier etwas einkaufen?“
„Du hast Glück“, antwortete ihm der Kutscher. „Heute ist Markttag, du kannst mitfahren: Los, steig‘ einfach auf!“ Gesagt, getan!
Am Fuße des Abhangs linker Hand standen einige Holztische, eher einfach gezimmerte Brettergestelle: kein hell beleuchteter zum Verkaufsstand umgebauter Wohnwagen mit roten käsegefüllten Paprika, grünen und schwarzen Oliven, Roquefort-Käse aus Frankreich oder Feta-Käse aus Griechenland. Überhaupt sah er keine Farben: Es leuchteten weder Orangen noch Zitronen, oder rote, grüne oder gelbe Paprika – oder gar Auberginen. Überhaupt gab es kaum Beleuchtung. Die einzigen Lichtquellen: An den Pfählen baumelten alte Stalllaternen „funzelig“ im Wind. Die Händler schlugen ihre mit Fäustlingen bekleideten Hände um die Schultern, um überhaupt etwas Wärme zu erzeugen.
Der Kutscher hatte gleich nach dem Halt seinen Pferden Futtersäcke an Bändern über die Ohren passgenau vor die Mäuler gehängt: Sie muffelten jetzt zufrieden vor sich hin.
Der junge Supermarkt sah sich das Warenangebot des Winters 1947 mit großen Augen an: Weißkohl, Rotkohl, Grünkohl …! Zwiebeln, einige Sandmöhren aus der Miete, etwas Porree und zwei Sorten Kartoffeln, in einer Holzschale lose Haselnüsse, daneben in einem Glas Backpflaumen – wohl übriggeblieben vom letzten Weihnachtsfest. An einem Stand roch es säuerlich. Tatsächlich: In einem Holzkübel lagen in Essig und Zwiebeln eingelegte Heringe, sogar Rollmöpse und kleine Gurken gab es dort zu sehen. Er fragte den Verkäufer nach frischen Eiern. „Zwei kannst du haben, die Hühner legen im Winter einfach nicht mehr!“
Und Fleisch? „Versuch es mal am Schlachthof im Norden, hinter der Werft … vielleicht hast du ja Glück! … und Brot gibt es beim Bäcker!“
Der Supermarkt nahm die zwei frischen Eier und dazu noch zwei angebotene Soleier. Der Händler nahm ihn dann beiseite und flüsterte ihm leise zu: „Pssst: Butter, Kaffee und Zigaretten gibt’s gleich links oben auf dem Schwarzmarkt, direkt neben der Kirchentür!“
Der Wunsch des jungen Supermarktes zerplatzte plötzlich wie eine Seifenblase: Sooo hatte er sich wohl die Zeitreise in die Vergangenheit nicht vorgestellt! Doch ein Gutes hat dieser Trip in die Vergangenheit bewirkt: Er sieht die heutige Auslage in seinem wohltemperierten, hell erleuchteten und großzügig angelegten Laden im Februar des Jahres 2022 ab sofort mit ganz anderen Augen, weiß die Vielfalt der Angebote und das dazugehörige Ambiente wieder richtig wertzuschätzen!
Und so nimmt er es eben nicht für selbstverständlich, dass einer Kundin der Wunsch, eine 125g-Schale Blaubeeren zu kaufen, natürlich umgehend erfüllt werden kann. Wobei er demnächst hinterfragen möchte, warum die Blaubeeren in einer Plastikschale angeboten werden und zudem noch aus dem Herkunftsland Peru stammen, also um die halbe Welt geflogen und transportiert werden mussten, um im heimischen Flensburg unter die Leute gebracht werden zu können …

Text: Ingeborg Asmußen-Müller, unter Mithilfe von Peter Feuerschütz

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