Der Kleinwagen, ein flotter roter Mini, vor dem Einfamilienhaus in der gutbürgerlichen Flensburger Wohngegend sorgt kurz für Irritation. Stimmt die Adresse? Wohnt hier Dr. Karin Johannsen-Bojsen, die im Juli ihren 83sten Geburtstag feiert? Ja, es passt! „Hier sind Sie richtig“, heißt sie die Gäste willkommen. Und es ist nicht nur der leuchtend gelbe Blazer, der die rüstige Dame zum Strahlen bringt. Schon während sie den Kaffee serviert, erzählt sie – lebhaft, humorvoll und gestenreich – von einem prallvollen Leben im Spannungsfeld deutsch-dänischer Geschichte und Kultur.
Karin Johannsen-Bojsen gehört der dänischen Minderheit an – und hat sich über Jahrzehnte mit der deutsch-dänischen Geschichte im Grenzland zwischen Süd- und Nordschleswig auseinandergesetzt. „Mein roter Mini sollte jetzt eigentlich vor meinem Häuschen auf Rømø stehen“, erklärt sie. Dort verbringe sie gerne die Sommermonate. Doch genauso gern sei sie in Flensburg, wo im Garten gerade der Flieder blüht: „An beiden Orten, in beiden Kulturen fühle ich mich zuhause. Ich bin Südschleswigerin, Europäerin, Erdenbürgerin … Vor allem aber bin ich ein Kind der Stadt Flensburg.“
In Dänemark kennt man sie als Schriftstellerin. Den Alltag und die Erfahrungen als Mitglied der dänischen Minderheit machte sie zu ihrem literarischen Lebensthema, veröffentlichte Gedichte, Romane, Erinnerungsbücher und zahlreiche Artikel in unterschiedlichsten Publikationen. Flensburger kennen Karin Johannsen-Bojsen noch als Kommunalpolitikerin und Studienrätin. Von 1974 bis 1982 engagierte sie sich als Ratsfrau im Südschleswigschen Wählerverband für die Belange der dänischen Minderheit, von 1966 bis 2000 arbeitete sie als Lehrerin für Deutsch und Englisch an der Duborg-Skolen. Zudem engagierte sie sich ehrenamtlich in Ausschüssen und Vereinen, war beispielsweise von 1987 bis 1989 Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes des Sydslesvigsk Forening, von 1989 bis 1996 Vorstandsmitglied des dänischen Büchereiwesens in Südschleswig und von 1996 bis 2008 Mitglied des ZDF-Fernsehrates im Ausschuss für Politik und Zeitgeschehen sowie zweite Vorsitzende im Kulturausschuss. Bis heute bringt sie sich diesseits und jenseits der Grenze in Vereinen ein, hält Vorträge und verfasst Artikel.

Von kargen Zeiten und feinem Rum

Geboren wurde Karin Johannsen im Juli 1936 als Tochter des Rumfabrikanten und Weinhändlers Otto Johannsen und der Hausfrau Mary Johannsen, der ebenso klugen wie bildschönen Tochter eines Kesselschmieds. Das Familienunternehmen hatte der Großvater väterlicherseits 1878 als „A.H. Johannsen Wein und Spirituosen en gros“ gegründet. Seit dem 18. Jahrhundert wurde in Flensburg, damals noch Teil des dänischen Königreichs, mit dem karibischen Gold gehandelt. 1755 steuerte das erste Flensburger Schiff die Karibikinsel St. Croix an und belieferte Flensburg mit Tabak, Baumwolle, Kaffee, Edelhölzern, Zucker und Rum. Ein Jahrhundert später konzentrierte sich der Handel auf Rum aus Jamaika. Heute ist die kleine aber feine Firma A.H. Johannsen in der Marienstraße 6 das einzige Unternehmen, das die Tradition Flensburgs als Rumstadt noch aufrecht erhält. Nach wie vor wird ausschließlich Rum aus Jamaika in der historischen „Marienburg“ verarbeitet, außerdem verkauft das Traditionshaus in der „Hökerei“ Fruchtliköre, Branntwein, Aquavit und hochprozentige Mix-Getränke. Der jetzige Geschäftsführer, ein Neffe von Karin Johannsen-Bojsen, schätzt unter anderem den Jamaika-Rum Royal und den „Senior“, der mehr als ein halbes Jahrhundert alt ist.
Die Marienburg mit ihrem prägnanten Turm aus dem Jahr 1760 war die Spielstube für Karin Johannsen, ihren vier Jahre jüngeren Bruder Kay und zahlreiche Freunde. „Mit Begeisterung haben wir uns gegenseitig mit der Seilwinde hochgezogen“, erzählt sie. „Das war nicht ungefährlich, aber wir waren wilde Kinder und haben niemanden gefragt, ob das erlaubt ist.“ Freundinnen zeigte sie besonders gern den kleinen Garten. „Dort konnten wir in der Kriegs- und Nachkriegszeit Obst und Gemüse ernten – das hat unsere karge Kost ein wenig aufgewertet.“
Das Unternehmen rund um das Luxusgut Rum war von 1939 bis 1945 geschlossen, die Inhaber eingezogen. Und auch nach dem Krieg war wenig zu tun. Die britischen Besatzungsmächte kontrollierten nun die Stadt und vor den britischen Soldaten habe man, so erinnert sich Karin Johannsen-Bojsen, noch mehr Angst gehabt, als vor den Nationalsozialisten.
Das während des Krieges in der Marienburg versteckte Eichenfass mit Rum war plötzlich ein gefährliches Gut. Mit einer Schubkarre wurde es heimlich in einen Hinterhof am Hafen geschafft. Später fand es den Weg zurück in die Marienburg, überstand sogar einen durch die marode Seilwinde ausgelösten Absturz und markierte den Neuanfang des Familienbetriebes.

Skal for gamle Danmark – Tyskland laenge leve

Trotz vieler Entbehrungen habe sie eine glückliche Kindheit gehabt, so Karin Johannsen-Bojsen. In der Toosbüystraße führte die Familie ein bürgerliches, von dänischen und deutschen Einflüssen geprägtes Leben. Die Großmutter stammte aus einer dänisch geprägten Familie in Egern­sund und schickte ihre Kinder, darunter die Mutter von Karin Johannsen-Bojsen, auf eine dänische Schule. Der aus Achtrup stammende Großvater hingegen, ein Kesselschmied und „eifriger Sozialdemokrat“ habe keine Verbindung zum Dänischen gehabt. Die Eltern bezeichnet sie als „zweisprachig und zweikulturell“. Bei Familienfesten lautete der Trinkspruch „Skal for gamle Danmark – Tyskland laenge leve“.
Gut in Erinnerung sind der 82-Jährigen die Ferienaufenthalte in Dänemark – zunächst bei Verwandten und später bei einer Landwirts-Familie auf Fünen. Dass der Vater während des Krieges als deutscher Wehrmachtssoldat ausgerechnet in Dänemark stationiert war, sei heikel gewesen. Aber die dänische Verwandtschaft habe es ihm nicht übel genommen: „Er war willkommen und hat uns Kinder in seiner deutschen Wehrmachtsuniform besucht, wenn wir dort unsere Ferien verbrachten.“ Später ging es auf einen Hof auf Nordfünen. In der pietistischen Familie sei abends viel gesungen worden. An die „wunderbaren dänischen Lieder“ und an das gute Essen denkt Karin Johannsen-Bojsen gern zurück. Es war eine große Freude für das begabte zehnjährige Mädchen, dass die Eltern 1946 die Umschulung von der Marienschule auf eine dänische Schule erlaubten: „Wir hatten in der deutschen Schule kaum Papier zum Schreiben, die Schule war ungeheizt und unsere Klasse bestand nur aus Mädchen, unterrichtet von freudlosen pensionierten Lehrerinnen in schwarzer Kleidung. Auf der dänischen Schule ging es viel fröhlicher zu. Die Klassen waren gemischt, die Lehrer – Männer und Frauen – deutlich jünger. Dort wurde gelacht und geflirtet. Alles war leichter.“ Ihren ersten Schultag trat sie in einem Dirndl-Kleid an, das aus „Restprodukten der deutschen Niederlage“ bestand und mit einer „guten Flasche Rum“ bezahlt worden war: Die Bluse aus Fallschirmseide gefertigt, der karierte Rock aus Lazarett-Bettbezügen und roten Herzen und die Schürze aus einer ausgedienten Hakenkreuzfahne.
Als der Vater im Jahr 1950 ganz überraschend und viel zu jung starb, änderte sich vieles. „Mein Bruder war vier Jahre jünger und meine Mutter eine zarte, verletzliche Frau, die Lyrik liebte.“ Die gerade 13-jährige Karin hatte das Gefühl: „Jetzt muss ich mich um alles kümmern!“ Doch die Schule lenkte das Mädchen ab – sie war begabt, fühlte sich wohl und genoss die Leichtigkeit der dänischen Kultur. Karin bestand 1954 das Abitur am dänischen Gymnasium Duborg-Skolen. Weil der Abschluss in Deutschland nicht anerkannt wurde, absolvierte sie 1955 in Hamburg an einer Abendschule noch einmal die deutschen Abiturprüfungen. Im selben Jahr wurden vom damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer und seinem dänischen Amtskollegen Hans Christian Hansen die Bonn-Kopenhagener Erklärungen unterschrieben und die Rechte der deutschen Minderheit in Dänemark und der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein festgelegt. Seither hat sich viel getan. Hochrangige Politiker würdigten die Minderheiten-Politik in Dänemark und Schleswig-Holstein im Jubiläumsjahr 2015 als „Modell für Europa“. Karin Johannsen-Bojsen bestätigt diese Einschätzung. „Ich finde, das Miteinander gelingt uns gut.“ „Front og brog“ lautete der Titel einer Zeitschrift, für die sie in der zweiten Hälfte der 50er Jahre zahlreiche Artikel verfasste. „Es ist mein Lebensmotto“, erklärt sie. Front stehe für die selbstbewusste Verteidigung dänischer Werte, Brog (Brücke) für das verbindende Element im Zusammenleben der Kulturen.

Ich werde Dichterin“

Schon früh begann das sprachbegeisterte Mädchen, Bücher zu lesen – und eigene Gedichte zu verfassen. „Ich werde Dichterin“, hatte sie dem jüngeren Bruder einst anvertraut. Viele Jahre später hielt sie ihren ersten eigenen Gedichtband „Sindelag“ (Gesinnung) in Händen. Doch zunächst studierte sie Germanistik, Anglistik und Nordistik an den Universitäten in Hamburg, Tübingen, Kopenhagen, Aarhus, Heidelberg, Kiel und Birmingham. 1964 promovierte sie über den englischen Künstlerroman, ein Jahr später absolvierte sie das Staatsexamen für das höhere Lehramt in Kiel und das „paedagogikum“ am Oregaard Gymnasium in Kopenhagen. Von 1966 bis 2000 arbeitete sie als Studienrätin an der Duborg-Skolen – unterbrochen nur durch die Jahre, in denen sie Bücher schrieb. Regn-
buelandet (Das Regenbogenland) erschien 1987, der Roman Himmel med mange stjerner (Himmel mit vielen Sternen) 1997. Zudem verfasste sie zwei Erinnerungsbücher über ihr Leben: Sydslesvigpige und Sydslesvigkvinde (Südschleswigmädchen und Südschleswigfrau), erschienen 2004 und 2008. Für die schriftstellerische Arbeit nahm sie sich jeweils eine längere Auszeit von der Tätigkeit als Lehrerin. Unterstützt wurde sie von ihrem 2010 verstorbenen Ehemann Hans Gunner Bojsen, Studienrat für Mathematik und Physik an der Duborg-Skolen. „Er hat mir immer den Rücken freigehalten und an mich geglaubt“, erinnert sie sich. „Mein Mann war Däne – also wurde mein Leben mit der Heirat 1977 noch ein bisschen dänischer.“ Weihnachten beispielsweise sei in Dänemark ein buntes fröhliches Fest. „Der Baum steht mitten im Wohnzimmer, man tanzt um ihn herum, singt und lacht.“ Das deutsche Weihnachten ist für Karin Johannsen-Bojsen eher „schwarz-weiß“ – stiller, feierlicher, aber gerade deswegen genauso schön. Viele ihrer Erlebnisse und Gedanken finden sich in ihren Büchern wieder. Dass nur wenig von dem, was sie im Laufe der Jahrzehnte geschrieben hat, ins Deutsche übersetzt wurde, stört sie nicht. „Vielleicht hätte ich mich mehr darum kümmern müssen, aber dann kam immer etwas Spannendes dazwischen.“ Das „Spannende“ – sei es ein Vortrag, ein Artikel, eine Vereinssitzung oder auch ein Treffen mit ehemaligen Schülern, mit der Familie oder Freunden, hat nach wie vor Vorrang. So wollte sie eigentlich schon längst die doppelte Staatsbürgerschaft beantragen. Aber es sei so viel Paperkram im Spiel – da habe bisher einfach die Zeit gefehlt.
Ähnlich geht es ihr mit den Planungen für die Zukunft. „Vielleicht sollte ich mir Gedanken über mein fortgeschrittenes Alter machen und mich in einem Seniorenheim anmelden, aber ich komme einfach nicht dazu.“ Viel lieber ist Karin Johannsen-Bojsen in ihrem Sommerhaus auf Rømø, wo sie mehrere Monate im Jahr verbringt, gerne Besuch empfängt und längere Wanderungen am Strand und durch die Fichtenwäldchen genießt. Im heimischen Wohnzimmer in Flensburg steht als kleines Zugeständnis an das Alter seit Kurzem ein Hometrainer. Ihr Lieblingsplatz ist allerdings „das Ei“, ein kurviger Leder-Sessel des dänischen Designers und Architekten Arne Jacobsen. Das gemütliche Sitzmöbel hat sie direkt vor dem großen Bücherregal platziert. „Ein Drittel dänische, ein Drittel englischsprachige und ein Drittel deutsche Literatur“ erklärt sie ihr Ordnungsprinzip. Sie habe unglaublich gerne Menschen um sich, aber hin und wieder müsse sie allein sein. Im dänischen Designklassiker lümmeln, einen Lyrikband von William Blake in der Hand und auf dem Plattenteller Schuberts Forellenquintett oder auch mal Songs von Herbert Grönemeyer – das ist nach einer turbulenten Woche der perfekte Ausgleich für Karin Johannsen-Bojsen. Professor Heinrich Detering, Herausgeber der Anthologie „Klangraum“, in der einer ihrer Texte veröffentlicht wurde, sagte anlässlich der Buchvorstellung im Jahr 2013, Schleswig-Holstein werde durch das Aufeinandertreffen von deutscher und dänischer Kultur als Feld von Schlachten wahrgenommen. Dabei sei Multikulturalität ein Teil dieses Landes: „Sie ist kein Betriebsunfall, sondern ein Grund zum Feiern.“ Diese Worte kann Karin Johannsen-Bojsen nur unterstreichen. Seit Jahrzehnten engagiert sie sich mit spürbarer Freude und viel Herzblut für die bunte kulturelle Vielfalt im deutsch-dänischen Grenzland.

Text: Petra Südmeyer, Fotos: Benjamin Nolte, privat

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