Shops und „Sex-Eck“

Beate Rotermund faszinierte die Vereinigten Staaten, die gerade im Handel als fortschrittlich galten. Am 19. September 1961 gehörte die Unternehmerin aus Flensburg zu den 2000 Teilnehmern einer Versammlung der „Direct Marketing Association of America“. Aus New York nahm sie einige Ideen mit zurück nach Deutschland: Etwa den Grundsatz bunter Werbung – und die Einrichtung eines Ladengeschäftes in der Flensburger Innenstadt. Ein praktischer Nebeneffekt: Der anwachsende Strom neugieriger Touristen zum Versandhaus in der Wilhelmstraße könnte so abgeleitet werden. Eine Rolle mag auch ein anhängendes Strafverfahren gespielt haben. Dem Versandhandel drohten aus Gründen des Jugendschutzes strikte Auflagen – einem realen Shop weniger.

Das „Fachgeschäft für Ehehygiene“ in Hamburg

Zum 20. September 1962 war ein Einzelhandel mit Büchern und Artikeln für Ehehygiene in der Angelburger Straße 58 angemeldet. Die Geschäftsräume lagen zwischen Bäcker und Metzger. Manch einer bei „Beate Uhse“ begegnete den Plänen der Chefin mit Skepsis. „Mensch, das Versandgeschäft läuft doch gut“, meinten sie. „Aber in einem Laden werden uns die Leute empört die Schaufenster einschmeißen.“ Für manche Zeitgenossen waren Spezialkondome und Aufklärungsbücher lediglich „Schweinkram“. Und die evangelische Aktion „Sorge um Deutschland“ wetterte generell gegen die Erotik-Branche: „Eine Flut dämonischer Kräfte überschwemmt unser Volk. Unzählige werden zum hemmungslosen Lebensgenuss und Ausleben ihrer Triebe verlockt.“

Es gab sogar ein eigenes Zimmer für die Beratung

Die Stimmung in der Gesellschaft war nur schwer zu kalkulieren. Der Firmenjurist schlug schließlich vor, die Neueröffnung in die Weihnachtszeit zu verlegen, da die Menschen dann besinnlicher wären und so keine Übergriffe zu befürchten seien. So stieg die Einweihungsfeier für das erste „Fachgeschäft für Ehehygiene“ am 11. Dezember 1962. Die Geschäftsleitung hatte in die Angelburger Straße 58 geladen. Bei der Premiere des ersten Sex-Shops der Welt erschienen aber nur wenige Gäste: Nachbarn, Vertreter des Bauamtes und der Handelskammer. Die Presse machte sich rar. Das „Flensburger Tageblatt“ etwa berichtete in jenen Tagen über Straßen- und Schulbau oder über einen mysteriösen „Knall“ durch die Schallmauer – aber nicht über „Beate Uhse“.
Das Grundschema des Ladens, das gemeinsam mit dem Flensburger Architekten Karl-Heinz Sönnichsen entstanden war, war schlicht. Den vorderen Teil wie auch die Schaufenster prägten die Aufklärungsbücher. Im hinteren Teil befanden sich die Produkte der „Ehehygiene“. Ein kleiner Extra-Raum war für Beratungsbedarf reserviert. Es gab noch keine Selbstbedienung: Die Kunden gingen mit Nummernschildern zur Kasse, wo sie die eingepackten Waren entgegennahmen. Diskretion war das oberste Gebot. Dennoch kamen zunächst nur wenige Einheimische, sondern hauptsächlich auswärtige Handelsvertreter. Zum 13. Dezember 1970 zog „Beate Uhse“ in den Holm 60.

„Beate Uhse“ zog ein Filialnetz über Deutschland. Im Februar 1965 wurde das erste Geschäft in Hamburg eröffnet. Dann folgte Frankfurt – und im Juli 1966 in Berlin der erste Selbstbedienungs-Shop. Alsbald geriet jede Stadt mit mindestens 250.000 Einwohnern ins Visier. Gesucht wurde stets eine gute Innenstadtlage abseits der großen Passanten-Ströme. Zum Ausklang der 60er Jahre waren bereits 14 Läden eingerichtet. Die Wortmissbildung „Ehehygiene“ war aus dem Firmenkopf gestrichen.
Die Nummer zwei in Schleswig-Holstein fiel aus dem üblichen „Beuteschema“. Auch Sylt, die „Insel der Schönen und Reichen“, wurde mit einem „Sex-Shop“ bedacht. Ende Juni 1968 suchte das Erotik-Unternehmen eine „flotte Verkäuferin“ per Zeitungs-Annonce. Die Neueröffnung in der Westerländer Strandstraße 31 entfachte einen Ansturm. An der Ladentür musste mehrfach ein Schild aufgehängt werden: „Wegen Überfüllung geschlossen“. Inzwischen überwog in der Gesellschaft die Neugier die Abneigung. Als 1969 „Beate Uhse“ auch in Hannover ihre Zelte aufschlug, waren alle Zeitungen der niedersächsischen Metropole vor Ort. Ebenso Beate Rotermund. „Bei uns wird nicht nur verkauft, sondern in allen Fragen beraten“, erklärte sie.

In den 60er Jahren entstand ein komplett neuer Firmensitz

Die „Chefin“ hatte in jener Dekade ein gutes Händchen. Für 5000 D-Mark erwarb sie den „Carl Stephenson Verlag“, der zum 8. März 1962 – mit einem Eintrag ins Handelsregister – von Berlin nach Flensburg verlegt wurde. Er wandelte sich von einem kunstwissenschaftlichen Haus zu einer Adresse für populärwissenschaftliche Sexualliteratur. Die Erfolgsformel: Schnell produzierte Bücher, die in jedem vierten Fall in Bestseller-Dimensionen vorstießen.
„Beate Uhse“ wollte mit ihrem Verlag das Netzwerk und das Renommee vergrößern, strebte die Aufnahme in den „Börsenverein des deutschen Buchhandels“ an. Die Verbandsfunktionäre protestierten: „Wir wehren uns mit Zähnen und Klauen dagegen, dass beim Versand von antikonzeptionellen Mitteln und Reizwäsche ‚Mitglied des deutschen Börsenvereins‘ auf dem Briefbogen steht.“ Das Flensburger Unternehmen schaltete das Kartellamt ein. Letztendlich glättete ein Kompromissvorschlag des Börsenvereins die Wogen. Beate Uhse zog ihren Aufnahmeantrag zurück, durfte aber fortan im Börsenblatt annoncieren und auf der Frankfurter Buchmesse einen eigenen Stand belegen. Im Oktober 1965 erschien Beate Rotermund persönlich. „Man darf heute Dinge lesen, die man noch vor fünf Jahren als ordentlicher Mensch nicht lesen durfte“, sagte sie.
Keine zwölf Monate zuvor war allerdings ein Buch auf dem Index gelandet: „Die Memoiren der Fanny Hill“. Das bereits 1749 vom Engländer John Cleland geschriebene Werk über ein Freudenmädchen hatte immer wieder Skandale entfacht. Im Frühjahr 1964 fluteten deutsche Übersetzungen den Markt. „Durchaus anregend, allerdings scheint mir der Stil ziemlich altbacken“, fand Beate Rotermund und hätte den Erotik-Klassiker fast nicht in ihr Sortiment aufgenommen. Dann gab es „Fanny Hill“ aber doch in mehreren Variationen; ein Münchener Verleger ließ sogar einen Einband in Kunstseide anfertigen.

Nachdem der katholische „Volkswartbund“ Anzeige erstattet hatte, verfügte das Münchner Amtsgericht die Beschlagnahme aller Exemplare. In der Begründung hieß es unter anderem: „Es kann dem Schriftwerk nicht den Charakter des Grobunzüchtigen nehmen, dass das Ganze in Kunstseide gebunden ist.“ Kriminalbeamte rückten an mehreren Stellen der Bundesrepublik aus – auch in Flensburg. Sämtliche Geschäftsräume von „Beate Uhse“ wurden durchsucht. Am Hauptsitz in der Wilhelmstraße wehrte sich Beate Rotermund zunächst dagegen, die Stahlschränke zu öffnen. Im Polizeibericht hieß es später: „Zusammenstoß mit der Chefin“. Letztendlich fanden sich nur acht Fanny-Hill-Bücher. Die Unternehmerin wunderte sich, dass die Beamten auch sechs Exemplare „Deutsche Erotik des 19. Jahrhunderts“ mitgehen ließen.
Kunst oder Schweinkram – unter dieser Fragestellung lief der Prozess. In Flensburg wurde er wegen Rechtsunklarheiten rasch wieder ausgesetzt. Erst als in München das Hauptverfahren startete, wurde gegen Beate Rotermund Anklage erhoben. Der Bundesgerichtshof bewertete am 22. Juli 1969 „Die Memoiren der Fanny Hill“ als „erotische Literatur“, die als Kunstwerk unter dem Schutz des Grundgesetzes stehen würde. Das Gericht in Flensburg stellte das Verfahren schließlich im Oktober 1969 ein, während sich Beate Rotermund über ein gutes Geschäft freute. „Ist ein Buch erst einmal verboten, wird es erst recht begehrt“, stellte sie fest. „Die Rücknahme einer Indizierung verspricht daher einen hohen Absatz.“

In den 60er Jahren kannte „Beate Uhse“ nur das Wachstum. Die Zahl der Kunden stieg von 200.000 im Jahr 1957 auf drei Millionen eine Dekade weiter. Der Umsatz erreichte 1967 20 Millionen D-Mark und schoss in nur zwei weiteren Jahren auf 35 Millionen D-Mark. Das größte Erotik-Unternehmen in der Bundesrepublik musste seinen Slogan immer wieder aktualisieren. „Alle 15 Sekunden wendet sich irgendjemand an Beate Uhse“, hieß es 1965. Zwei Jahre weiter waren es alle sechs Sekunden. Und 1969 verzeichnete die Bundespost 45.000 Sendungen und rund 25 Prozent des gesamten Briefportos aus dem Flensburger Raum für das Erotik-Unternehmen. Die Schattenseite des Wachstums: Die „Chefin“ wusste längst nicht mehr alle Namen ihrer inzwischen rund 300 Mitarbeiter.
Die Firmen-Immobilien legten sich fast wie ein Flicken-Teppich über die Fördestadt. In der Wilhelmstraße 1a, einem Backsteingebäude von der Jahrhundertwende, residierten Produktionsleitung und Verkaufsförderung. In den Margarethenhof mussten bald Lager, Labor und Nähstube ausgelagert werden. Auf dem Sandberg, in einer verschachtelten Marmeladen-Fabrik, breitete sich die Verwaltung aus. Kurzzeitig bildete auch Neumarkt 8 einen Teil eines Firmen-Geflechts und beherbergte unter anderem eine kleine Druckerei.
Beate Rotermund bewegte sich zwischen den Standorten in der Stadt. Immer wieder beschäftigte sie sich mit dem Bau einer großen, neuen Firmenzentrale. Doch die Komplexität ließ keinen Schnellschuss zu. Die Wirtschaftsauskunftei „Creditreform“ berichtete bereits am 11. Juni 1955: „Man spricht davon, dass Frau Uhse im Süden ein Grundstück erworben haben soll.“ Nach anderen Angaben soll sie erst 1956 oder 1958 rund 7000 Quadratmeter in der Boschstraße gekauft haben. Die Unternehmerin selbst setzte sich für eine Umbenennung in Gutenbergstraße ein, da eine Druckerei als Keimzelle von letztendlich vier Bauabschnitten angedacht war.
Zeitweise gab es allerdings auch andere Überlegungen. 1959 sicherte sich Beate Rotermund ein Grundstück in Wees mit immerhin 7700 Quadratmetern. Ein Bürohaus stand auf der Agenda. Zwei Jahre später war die Entscheidung wohl für Flensburgs Süden gefallen. Die Erotik-Firma legte noch einmal nach und vergrößerte ihr Potenzial auf 12.200 Quadratmeter in der Gutenbergstraße. Die Realisierung war nicht einfach. Die Suche nach Finanzierungshilfen „im gegenwärtigen Zeitpunkt der Konjunkturbremsung“ bereitete Beate Rotermund mehrfach Sorgen. Im Herbst 1961 war das erste Ergebnis in der Gutenbergstraße sichtbar: die „Förde-Druckerei“. Es folgten eine Betriebshalle mit einem modernen Verpackungsautomaten sowie ein Garagen-Komplex. Die Näherei erwies sich als unrentabel und wurde schnell in einen Führungskräfte-Trakt umgewandelt. Dort testete die „Chefin“ schon einmal ein Stehpult, das später zum Standard im Unternehmen wurde.
Das Filetstück sollte der Trakt mit dem Großraumbüro werden. Beate Rotermund war mit dem Architekten Karl-Heinz Sönnichsen zur City-Nord in Hamburg, in die Niederlande und in die Schweiz, um Anregungen für eine ideale Bürolandschaft der achteckigen Zentrale mit exakt 3628 Quadratmeter Nutzfläche zu bekommen. Kaum waren die Baumaschinen im April 1967 angerollt, da sprach die Presse bereits vom „Sex-Eck“. Am 22. Mai 1968, zum Richtfest, spendierte das Unternehmen Erbsensuppe und Bockwurst für 200 Bauarbeiter. Am 9. August 1969 veröffentlichte das „Flensburger Tageblatt“ eine ganzseitige Anzeige: „Das modernste Großraumgebäude Deutschlands steht in Flensburg, Gutenbergstraße 12. Es gehört Beate Uhse.“ Im Firmenprospekt hieß es: „Im Zeitalter erfolgreicher Mondflüge muss die modernste Bürotechnik selbstverständlich sein.“

So sieht es heute am ehemaligen Sitz von „Beate Uhse“ aus

Zur Einweihung am 13. August 1969 erschienen 340 Gäste und Boxerhündin Tanja, die gleich auf den gelben Teppich piete. „Flensburg ist um eine Attraktion reicher geworden“, sagte Flensburgs Oberbürgermeister Heinz Adler in seiner Festrede und wünschte dem Unternehmen „allzeit mit Lust und Liebe für die Lust und Liebe tätig zu sein.“ Stolz führte Beate Rotermund die Medien durch die „Großraumwabe“. Folgen noch weitere Baumaßnahmen, fragte ein Journalist. Die Unternehmerin verriet, dass ein achtgeschossiges Hochhaus in Planung sei. Ein Projekt, das allerdings in der Schublade landete.

Das damals hochmoderne Großraumbüro sorgte für große Resonanz. Sogar das US-Magazin „Time“ berichtete. Das Wochenblatt „Die Zeit“ schrieb zwei Jahre später: „Aus einem über 1000 Quadratmeter großen honiggelben Teppichboden ragen weiß angemalte präparierte Bäume mit riesigen Papierblumen in den kahlen Ästen. Dazwischen, wie willkürlich aufgetragene Farbtupfen, blaue Stahlschränke und Schreibtische, weiße und lila Plastiksitzmöbel, rote, gelbe und orange Papierkörbe und da und dort ein Luftballon-Arrangement. Dezente Hintergrundmusik aus unsichtbaren Klangkörpern unter der Wabendecke sorgt für einen gleichmäßigen Stimmungspegel. Dem körperlichen Wohlbefinden in diesem Burggarten Eden dient eine mit Hilfe sensibler Stabthermostaten gesteuerte automatische Klimaanlage. Zwei repräsentative Freitreppen aus afrikanischem Edelholz führen auf die Galerie der stilvollen Großraumidylle…“
Die Wilhelmstraße 1a hatte endgültig ausgedient. Zum 22. März 1971 wurde dort der letzte Mietvertrag gekündigt. In einem Rückblick bezeichnete Beate Rotermund Jahre später die Bündelung aller Geschäftszweige im „Sechseck“ einmal als ihren schönsten Geschäftserfolg. „Für mich ist Grund und Boden wichtiger als ein Büro und ein Postfach“, sagte sie. „Ich bin vom Lande und solide.“

Diese Vorlieben zeigten sich auch im Privatleben. Im Marienkirchhof 4 war die Familie noch bis zum 9. Mai 1961 gemeldet. Doch da ging die Post bereits seit einem Jahr nach Glücksburg-Rüdeheck. Die Rotermunds lebten nun direkt am Rüder See in einer alten Wehrmachtsbaracke, die zu einem behaglichen Holzhaus ausgebaut wurde. Im Frühjahr 1960 packten alle mit an, um die hügelige Fläche etwas zu glätten und Rasen zu säen. Über die Inneneinrichtung wunderten sich die Besucher bisweilen: Als einziges Bild hing ein Poster mit Mao Tse-tung. Beate Rotermund mochte es bisweilen auch schrill: Das Dach ihres Citroen DS ließ sie pink spritzen.
Das gesamte Domizil war ein kleiner Freizeitpark. Auf dem Rüder See ließ sich im Winter Schlittschuhlaufen, im Sommer wurde geschwommen – oft bis zur kleinen „Schokoladeninsel“. Am Ufer wurde gegrillt. Es entstanden eine Sauna und auch ein Tennisplatz aus Asphalt. An einem typischen Sonntag mussten alle drei Söhne nacheinander zu einer Partie antreten. Auch das leitende Personal von „Beate Uhse“ wurde am Wochenende zum Tennis vorgeladen. Firmengespräche inklusive. Beate Rotermund führte ihr Unternehmen manchmal wie einen ostpreußischen Gutsbetrieb.
Ernst-Walter Rotermund pflegte ein besonderes Eigenleben. Er hatte sich frühzeitig von der Arbeit verabschiedet und wechselte zwischen Ehefrau Beate und der Geliebten Helga. Er war aber auch oft allein am Mittelmeer unterwegs und meldete sich wochenlang nicht. Nur die Bewegungen auf dem Konto übermittelten seiner Gattin die aktuellen Aufenthaltsorte.
Die drei Söhne hatten auf dem Gelände am Rüder See ihre eigenen kleinen Holzhütten. Sie mischten immer mehr im Unternehmen mit. Für den Band „Söhne der Sonne“, der natürlich im „Carl Stephenson Verlag“ erschien, posierten sie vor der Kamera. Für ein ansehnliches Honorar. „Die haben sich doch alle so sehr ein eigenes Auto gewünscht“, schmunzelte die Mutter Jahre später.

Text: Jan Kirschner
Fotos: Privat

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