Wege in und aus der Trauer von Stadtpastor Johannes Ahrens

Trauer gehört zu den intensivsten und schmerzhaftesten Gefühlslagen, die Menschen erleben können. Eine Art umgekehrte Verliebtheit, ein Gefühlsgewitter. Geht es in dem einen Fall um das Finden eines Anfangs im Durcheinander der Emotionen, so in dem anderen um die Bewältigung eines Beziehungsabschiedes. Heikel ist beides: das Zusammenflechten zweier Lebenswege ebenso wie deren aufwändiges „Auseinanderklamüsern“, wie man hier bei uns im Norden so treffend sagt. Mit „Pietät“ und „Würde“ hat das oft wenig zu tun, so sehr das auch beschworen wird.
Wer jemals einen geliebten Menschen hat hergeben müssen, kennt die unberechenbare Abfolge von schwankenden Gefühlslagen, die einen „übermannen“ oder „überfrauen“ können. Dabei reicht die Bandbreite von ungläubigem Bezweifeln der Realität des Todes, einem Taubheitsgefühl auf der Seelenoberfläche, bis zu Momenten von Erleichterung über das endliche Eintreffen des ersehnten Endes. Die Endgültigkeit des Abschieds erscheint anfangs oft unbegreiflich. Gefühle verspäten sich gegenüber der Realisierung der brutalen Todeswirklichkeit notorisch, so dass sie einen wie Wellen hinterrücks von einem Moment zum nächsten umwerfen.

Trauern ist Arbeit. Trauern ist eine Aufgabe. Und Trauern ist – so merkwürdig das zunächst erscheinen mag – Geschenk.

Das Wichtigste zuerst: Man sollte sich seine Trauer „gönnen“. Sich zugestehen, dass man gerade nicht so funktioniert, wie Familie, Freunde, Kollegen oder Arbeitgeber das von einem normalerweise erwarten. Am herausforderndsten dabei womöglich: sich selbst auszuhalten in einer – nur vordergründig betrachtet – so unproduktiven Phase. Denn in Wirklichkeit arbeitet man gerade sehr hart, nur eben anders: an und mit der eigenen Seele. Die Bibel berichtet von Trauernden, die eine Woche lang fasten oder schweigen, sich zurückziehen und sprichwörtlich „in Sack und Asche“ gehen. Frühere Generationen haben sich im Trauerjahr schwarz gekleidet. Es ist gut, sich Zeit zu nehmen für sich selbst und seine Gefühle. Sich krankschreiben lassen, einfach nur schlafen, eine Massage buchen, seinen Lieblingsrückzugsort aufsuchen oder in der nächsten Wellness-Oase auftanken. Überhaupt ist es wichtig, sich möglichst viel zu erlauben und herauszunehmen. Dazu können gehören: „Verbotene“ Gefühle gegenüber dem Verstorbenen, wie Wut und Enttäuschung, Verletzung und Kränkung zuzulassen und anderen gegenüber auszusprechen. Oder die Erleichterung über das Ende von Pflichten wie einer aufwändigen Pflege, die jahrelang schwer auf einem lasteten. Sogar die Trauer über ausbleibende Trauer ist unbedingt zu akzeptieren und eine absolut zulässige Form von Trauer.
Jeder trauert anders. Dem einen hilft eine Runde auf dem Rennrad, der anderen stundenlange Telefonate mit der besten Freundin. Väter im Verein verwaister Eltern bauen gemeinsam ein Boot. Es lohnt sich, Wege und Methoden zu suchen, die zu einem passen. Nachdem mein Vater gestorben war, bin ich die Joggingstrecke, die wir während meiner Jugend fast täglich miteinander gelaufen waren, noch einmal gelaufen. Einmal rund um den See für ihn – und irgendwie auch mit ihm – aber letztlich vor allem für mich selbst. Vielleicht eine therapeutische Maßnahme, mir klarzumachen, dass ich auch die anderen Wege des Lebens fortan allein werde bewältigen können. Manchmal lege ich Musik auf, die uns auch über den Tod hinaus verbindet: Tom Waits mit seinem rätselhaften Weltschmerz. Oder speise Anekdoten, Redensarten, Lebenshaltungen in Gespräche mit anderen ein und hole meinen Vater auf diesem Wege für einen Moment zurück ins Leben. 
Weil jeder anders trauert, gehört gemeinsame Trauer um ein verlorenes Kind, ein verlorenes Eltern- oder Geschwisterteil zu den größten Herausforderungen für Hinterbliebene. Trauer zerreißt nicht nur das Herz Einzelner, sondern manchmal auch Partnerschaften, Ehen und Freundschaften, sogar ganze Familien. So führt nicht selten die eine Trennung – die zwangsweise durch den Tod herbeigeführte – andere nach sich: Die von Mit-Hinterbliebenen. Erbschaftsangelegenheiten sind dafür typische Anlässe.
Trauer ist auch deshalb so schmerzhaft, weil sie tief innen Liegendes, womöglich jahrzehntelang eher unbewusst Mitgeschlepptes, auf einmal an die Oberfläche spült. Das Gefühl, dem verstorbenen Angehörigen nie wirklich gerecht geworden zu sein, zum Beispiel. Oder Eifersucht auf die Geschwister. In der Gefühlskaskade der Trauer treten auf einmal Emotionen zutage, die man sich im Fluss des Alltags sonst nicht zugesteht. Oder für die zu Lebzeiten schlicht keine Zeit gewesen war. Trauer um einen Verstorbenen ist so auch immer Trauer um sich selbst. Um die Möglichkeiten, unter denen man geblieben war. Um das Versäumte, immer wieder Aufgeschobene, Ungeklärte, Unausgesprochene, nicht Vergebene, Unvollendete. Leben ist immer bruchstückhaft, und deshalb hat man es im Moment des Todes auch immer mit jeder Menge Scherben zu tun.
„Vita brevis“ – das Leben ist kurz. Selbst wenn wir 100 Jahre alt würden. Christ*innen kommen damit zurecht, nur eine der möglichen Versionen gelebt zu haben, die sie hätten sein können. Sie kommen sogar dann damit zurecht, wenn sie an wichtigen Weggabelungen womöglich eine bessere Wahl hätten treffen können. Weil sie alles Vorläufige, Unvollkommene, Brüchige, Unvollendete und Schuldhafte in die Hände ihres Schöpfers legen und darauf vertrauen, dass ihr Leben auf die nächste Evolutionsstufe springt. Das nimmt enorm viel Druck aus dem Kessel. Was immer bei Trauerfeiern sonst an Zutreffendem oder Unzutreffendem gesagt, gebetet oder gesungen werden mag: eine der für mich absolut unverzichtbaren Bestattungsformeln lautet daher: „Gott vollende an ihr/ihm, was er begonnen hat.“
Der Tod rückt alles auf ein menschliches Normalmaß zurecht. Deshalb erscheinen – vom wächsernen Lenin bis zu den Pyramiden – alle Maßnahmen, dem entgegenzutreten, so grotesk, so verzweifelt, so vergeblich. Generell dürfte es für eine langfristige Trauerbewältigung empfehlenswert sein, dem Schmerz nicht auszuweichen oder ihn zu betäuben, sondern ihn aushalten zu lernen. Trauern heißt: Der Versuchung zu widerstehen, den Schmerz zu verdrängen. Umgekehrt ließe sich sogar sagen: Trauern heißt, das Geschenk des Lebens dankbar anzunehmen. Denn selten spürt man so intensiv, dass man lebt. Selten funkeln die kostbaren unwiederbringlichen Momente so schön wie im Rückblick auf das gemeinsam Erlebte. Erst die Vergänglichkeit macht das Leben so kostbar. Danger Dan bringt es in seinem Song „Eine gute Nachricht“ so auf den Punkt:

„Ich hab ‚ne gute Nachricht
und ‚ne schlechte auch
Zuerst die schlechte:
„Wir zerfall‘n zu Staub
Wir werden zu Asche,
kehren in das Nichts
Zurück, aus dem wir alle
einst gekommen sind“
Und jetzt die gute: „Heute nicht
Es bleibt noch Zeit für dich und mich
Und wenn du willst, dann schlaf doch heut bei mir“

Viele Menschen haben eine begreifliche Furcht, Trauernde zu besuchen oder sind ratlos, was sie auf eine Kondolenzkarte schreiben könnten. Die Bibel berichtet: Bevor Hiobs Freunde den Trauernden mit ihren ungebetenen Ratschlägen nerven, schweigen sie zuerst mit ihm. Dafür nehmen sie sich immerhin eine ganze Woche Zeit. „Sie saßen mit ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte und redeten nichts mit ihm; denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.“ (Hiob 2,13). Ihre größte Tat, die sie dann anschließend mit unnützen Worten und billigen Vertröstungen beinahe wieder komplett zunichtemachen. Es genügt vollkommen, und es ist vielleicht zugleich der anspruchsvollste Weg des Beistands, einfach „nur so“ da zu sein. Nichts zu wissen. Nichts zu erklären. Höchstens eine Suppe zu kochen. Die Hand zu halten. Tränen abzuwischen. Zusammen zu weinen.
Zuletzt: Der Tod reißt nicht nur auseinander; er führt auch zusammen. Die bereits Verstorbenen und irgendwann auch uns, die wir noch hier leben, an den Ort, an dem es „kein Geschrei noch Schmerz“ gibt. Der neue Himmel, die neue Erde. Menschen und Tiere, Alte und Junge. „Es werden kommen von Osten und von Westen, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes“, sagt Jesus (Lukas 13,29). Wir sind Teil dieses ununterbrochenen Stroms des Lebens.

Stadtpastor Johannes Ahrens
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