Erdrückende Wirkung und ungebetene Einblicke vom Nachbargrundstück

Wenn auf dem Nachbargrundstück gebaut wird, stellen sich in der Praxis häufig die Fragen, ob von dem heranrückenden Gebäude eine erdrückende Wirkung auf das eigene Gebäude ausgeht und ob vom Nachbargrundstück ausgehende, als störend empfundene Einblicke in den eigenen Garten, auf die eigene Terrasse oder gar in die eigenen Wohnräume hingenommen werden müssen.

Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hat hierzu in seinem kürzlich ergangenen Beschluss vom 15. Juli 2022 (Aktenzeichen: 1 MN 132/21) ausgeführt, dass derjenige, der innerorts wohnt, nicht erwarten kann, dass die Nachbargrundstücke nur so bebaut werden, dass die Einsichtnahme auf das eigene Grundstück möglichst gering bleibt; das Gegenteil ist der Fall.

Der Entscheidung lag ein Bauvorhaben zugrunde, das bis zu 5 m an das Nachbargrundstück heranrücken sollte mit der Folge, dass die Bewohner des neuen Gebäudes ungehindert in den Garten des Nachbarn blicken könnten. Darüber hinaus wurde vom betroffenen Nachbarn angeführt, dass das neue Gebäude so nah heranrücke, dass davon eine erdrückende Wirkung ausgehe.

Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg lehnte den Antrag des Nachbarn ab. Die beschriebene erdrückende Wirkung bestehe nicht. Die bau-ordnungsrechtlich vorgeschriebenen Abstandsflächen seien eingehalten; eine erdrückende Wirkung sei dadurch gerade verhindert. Die Tatsache, dass man von den noch zu errichtenden Gebäuden Einblick in den Garten des Nachbarn nehmen könne, seien nicht beachtlich. In innerörtlichen, verdichteten Lagen müssten Grundstückseigentümer damit rechnen, dass Nachbarn Einblicke auf das eigene Grundstück erhalten. Das sei üblich und als sozial adäquat hinzunehmen, insbesondere, weil nach dem Gesetz aus Umweltschutzgründen mit Grund und Boden sparsam und schonend umgegangen werden soll und Städte und Gemeinden aus diesem Grund zur Nachverdichtung angehalten seien.
Mit dieser Entscheidung beantwortet das Oberverwaltungsgericht die Frage nach der erdrückenden Wirkung sowie dem Schutz des Grundstücks vor der Einsichtnahme Dritter, die bereits Gegenstand zahlreicher Entscheidungen waren, noch einmal in klarstellender Weise:

  1. Können die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächen zu den benachbarten Grundstücken ohne weiteres eingehalten werden, schließt dies die Annahme einer erdrückenden Wirkung in der Regel aus.
  2. In innerörtlichen Lagen besteht grundsätzlich nicht die berechtigte Erwartung, die Nachbargrundstücke würden in einer Weise bebaut, die Einsichtsmöglichkeiten möglichst gering hält; im Gegenteil sind Einsichtsmöglichkeiten bei heute gängigen Grundstücksgrößen üblich und als sozial adäquat hinzunehmen.

Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg sollte jedoch nicht dahingehend verstanden werden, dass eine erdrückende Wirkung bei Einhaltung der gesetzlichen Abstandsflächen nie in Betracht kommt. Eine bauliche Anlage kann eine erdrückende Wirkung haben, wenn sie wegen ihrer Ausmaße, ihrer Baumasse oder ihrer massiven Gestaltung ein benachbartes Grundstück unangemessen benachteiligt, indem sie diesem förmlich „die Luft nimmt“, wenn für den Nachbarn das Gefühl des „Eingemauertseins“ entsteht oder wenn die Größe der „erdrückenden“ baulichen Anlage aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls – und gegebenenfalls trotz Freihaltung der erforderlichen Abstandsflächen – derartig übermächtig ist, dass das „erdrückte“ Grundstück oder dessen Bebauung nur noch oder überwiegend wie eine von einer „herrschenden“ baulichen Anlage dominierte Fläche ohne eigene bauliche Charakteristik wahrgenommen wird.

Ob eine solche Wirkung zu erwarten ist oder nicht, kann nur unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände des Einzelfalls entschieden werden. Neben den Ausmaßen der Baukörper in ihrem Verhältnis zueinander – z. B. 
Bauhöhe, Ausdehnung und Gestaltung der Fassaden, Baumasse – kann die Lage der Bauwerke zueinander eine Rolle spielen. Von besonderer Bedeutung im Rahmen dieser Bewertung wird regelmäßig die Entfernung zwischen den Baukörpern bzw. Grundstücksgrenzen sein.

Es kommt also – wie so oft – auf eine saubere Prüfung der Besonderheiten des Einzelfalls an.

Björn Lippke
Rechtsanwalt* bei Dr. Kruse, Hansen & Sielaff Rechtsanwälte Partnerschaft mbB
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