Die Norderstraße in Flensburg ist definitiv ein Hot Spot der dänischen Minderheit. Mehrere Institutionen sind mit Gebäude und Sitz vertreten. In diesem Umfeld befindet sich auch die dänische Bibliothek. Wenn man dort eine Treppe erklimmt und dann eine Kunstausstellung quert, geht man auf ein Büro zu, in dem jemand sitzt, von denen es 736 in ganz Deutschland gibt. Es ist Stefan Seidler vom SSW, der seit Oktober 2021 als Bundestagsabgeordneter oft in Berlin weilt.
An diesem Montag ist er aber in Flensburg. Er hatte schon einen Austausch mit der dänischen Generalkonsulin und ging dann in ein Mitarbeiter-Meeting. „Das ist bei uns doch sehr auf Augenhöhe, in Berlin wundert sich manch einer über unsere flachen Hierarchien“, erzählt Stefan Seidler. „Wir zeigen keine Allüren, wir sind keine Besserwisser, die sich für die feinen Leute aus der Bundeshauptstadt halten.“

Stefan Seidler – Pendler zwischen Dänemark und Deutschland

Kindheit und Jugend in Weiche

Er hat eine Biografie, die nur die deutsch-dänische Grenzregion schreiben kann. Er wurde am 18. Dezember 1979 in Flensburg geboren. Die Mutter stammte aus Apenrade, war Lehrerin und bekleidete mehrere Funktionen im SSW, der Vater war ein Flensburger Kaufmann. Um acht Uhr die „Tagesschau“ im deutschen Fernsehen, eine Stunde später die dänischen TV-Nachrichten – das waren die Parameter eines gewöhnlichen Abends in der Jugend. Und wenn Stefan Seidler von dieser spricht, ist immer wieder die Rede von Weiche, vom Stadtteil, den damals Gleise und Briesenkaserne prägten.

Als junger Mann an der Flensburger Innenförde

Sein Orbit sah damals so aus: 200 Meter zum dänischen Kindergarten, ein noch kürzerer Weg zum Spielplatz im Hirschbogen, der Mückenwald, dessen Teich als Abenteuer-Schauplatz diente, und schließlich bis zur sechsten Klasse die „Oksevejens Skole“. Das Lieblingsfach: Geschichte. „Wikinger, Mittelalter, wie sich Gesellschaften entwickeln – das interessiert mich immer noch“, verrät Stefan Seidler. Er trug auch das Fußball-Trikot vom ETSV Weiche. Bis zur B-Jugend tauchte er im Sturm und in der Abwehr auf. Er kickte aus Spaß. Seine Trainer hießen Klaus Görres und Dennis Hagen – bis mit der B-Jugend Schluss war. „Mit der A-Jugend wurde es zu intensiv, die Schule litt zu sehr“, erinnert sich Stefan Seidler. „Außerdem engagierte ich mich nun im SSW. Aber wenn es die Zeit zulässt, verfolge ich das Geschehen beim SC Weiche 08.“

Schon in jungen Jahren engagiert

Erste politische Schritte

1996 hatte er seinen Realschulabschluss an der Gustav-Johannsen-Skolen in der Tasche, wechselte damit an die Duborg-Skolen und schaffte 2000 das Abitur. Das politische Interesse war früh gereift. Stefan Seidler war zunächst Klassen-, dann Schulsprecher und wirkte noch als Teenager in der Kommunalpolitik als bürgerliches Mitglied mit. Zudem wurde er Vorsitzender der SSW-Jugend. Seinen Zivildienst absolvierte er im „Flensborghus“, das heute nur wenige Schritte von seinem Büro entfernt liegt. Eine Präsenz im Empfang, die Vorbereitung von Veranstaltungen, Aufräumarbeiten im Archiv oder sonstige Logistik – das Aufgabenprofil war vielschichtig.

Bundestagswahlkampf in Flensburg

Danach zog Stefan Seidler nach Aarhus und studierte dort Politik, Jura und Wirtschaft. Er blieb SSW-Mitglied, sein Lebensmittelpunkt lag nun aber in Dänemark. Da er sich in seiner Wahlheimat politisch betätigen wollte, trat er der „Radikale Venstre“ bei. In dieser linksliberalen Partei lernte er seine heutige Frau Marianne kennen, die damals Mathematik und Physik studierte. Stefan Seidler beschäftigte sich in seiner Masterarbeit mit der politischen Kommunikation. Er beleuchtete Wahlkämpfe nördlich und südlich der Grenze – und hatte bald einen praktischen Einsatz in der alten Heimat. „Der SSW-Geschäftsführer Dieter Lenz bat mich, den SSW-Wahlkampf unter die Lupe zu nehmen“, erzählt Stefan Seidler. „Ich schaute dann auch nach Großbritannien oder in die USA – es war angenehm, mein Wissen einbringen zu können.“

Hafenbesichtigung mit Glenn Dierking, Bodo Neumann, Karin Haug und anderen

Der Beginn des Pendlertums

Das Ende der Studienzeit brachte auch eine Zäsur im Privatleben: Eine Familie entstand. Seine Frau wurde Lehrerin in Vejle, die Töchter wurden geboren, und das Privathaus in Vejle bezogen. Für Stefan Seidler begann mit dem ersten Job das Pendeln, das bis zum heutigen Tage anhält. Er war nun Programm-Manager für das grenzübergreifende EU-Projekt „Interreg“ und prüfte unterschiedlichste Förderanträge aus der Region, ob sie förderungswürdig sind. Der Berufseinsteiger hatte Büros in Vejle und Flensburg.

Anschließend war er Berater für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Kommunen in Dänemark und Deutschland. Einsätze von Feuerwehr und Polizei, Arbeitsmarkt, Bildungswesen oder Infrastruktur – das Spektrum war breit. „In allen Bereichen ging es darum, dass Menschen die Grenze nicht als Barriere wahrnehmen, sondern als Raum des Zusammenwirkens“, betont Stefan Seidler.

Besuch bei der Küstenwache

2014 meldete sich plötzlich Anke Spoorendonk. Die SSW-Legende war damals Landesministerin für Justiz, Kultur und Europa. „Stefan“, fragte sie an, „könntest du das, was du jetzt für die dänische Seite machst, auch für uns in Kiel machen?“ Es dauerte nicht lang, da war Stefan Seidler Mitarbeiter der Landesregierung und brachte mehr Struktur in den bunten Blumenstrauß grenzübergreifender Projekte. Und er blieb auch an dieser Stelle, als der SSW 2017 aus der Koalition ausschied und mit Sabine Sütterlin-Waack eine CDU-Politikerin den Ministerposten übernahm.

Svend Wippich, Christian Dirschauer, Stefan Seidler, Sybilla Nitsch auf dem Reichstagsgebäude

Die Wahl zum Bundestagsabgeordneten

Stefan Seidler pflegt seit jeher ein dichtes Netzwerk in der dänischen Minderheit. Er gehört Kulturvereinen wie dem SSF oder dem Grænseforeningen an und auch der dänischen Gewerkschaft „Djøf“. Und natürlich erlebte er die Debatte hautnah mit, ob der SSW nach 60 Jahren erstmals wieder zu den Bundestagswahlen antreten solle. „Früher hieß es, dass wir uns auf regionale Themen konzentrieren sollten“, skizziert der 44-Jährige die Debatte. „Jetzt war uns die Bundespolitik gerade wegen der regionalen Themen wichtig.“ Stefan Seidler entschied sich, selbst den Hut in den Ring zu werfen und zu kandidieren. „Ich hatte immer aus der zweiten Reihe für den SSW gearbeitet, nun wollte ich in den Bundestag“, erklärt er. „Ich hatte beruflich bereits viel Kontakt nach Berlin, zum Auswärtigen Amt etwa oder zu den Botschaften.“

Gitte Hougard-Werner mit Stefan Seidler und Sönke Rix

Der entscheidende Parteitag wurde 2020 zur Hängepartie, da er wegen der Corona-Pandemie mehrfach verschoben werden musste. Letztendlich behauptete sich Stefan Seidler in zwei Wahlgängen gegen zwei Gegenkandidatinnen. Eine politische Konkurrenz, die sich für ihn merkwürdig anfühlte. „Wir wollten lieber zusammenarbeiten als uns streiten“, erzählt der SSW-Abgeordnete. „Aber die politische Ausein­andersetzung gehört nun einmal zum politischen Geschäft.“

Keno Jaspers mit Stefan Seidler

Bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 reichte es für Stefan Seidler – aufgrund von gut 55.000 Zweitstimmen in Deutschlands Norden und aufgrund der Befreiung der Minderheitspartei von der Sperrklausel. Nun sitzt er im Plenarsaal des Reichstags in der letzten Reihe – als Einzelkämpfer, umringt von den Fraktionen der SPD und der Grünen. Unmittelbar vor der „Tuschelecke“, wo man auch mal lauschen oder gut den nächsten Gesprächspartner abgreifen kann. „So oft es möglich ist, nehme ich an den Plenar-Sitzungen teil, bin aber aufgrund des Arbeitspensums häufig gezwungen, parallel weitere Besprechungen und andere Termine wahrzunehmen“, erzählt der SSW-Abgeordnete, der als beratendes Mitglied im Innenausschuss sitzt, dort aber kein Stimmrecht ausüben kann.

Zu den Themen gehören auch die vier nationalen Minderheiten – das sind neben den Dänen auch die Friesen, die Sorben sowie Roma und Sinti. Ihre Förderung und ihre Rechte sind ein Schwerpunkt von Stefan Seidler. „Ich gehöre der dänischen Minderheit an, spreche auch für die Friesen und befinde mich mit den Sorben sowie den Roma und Sinti im Austausch.“ Er wertet es als Erfolg, dass er einen Parlamentskreis „Minderheiten“ initiieren und ein fester Zuschuss für die Minoritäten gesichert werden konnte.

Die erste Rede im Bundestag

Das Privatleben als Bundestagsabgeordneter

Ein normaler Monat eines Bundestagsabgeordneten sieht so aus: zwei Sitzungswochen in Berlin, die beiden anderen Wochen im Regionalbüro. Stefan Seidler hat zwei Wohnungen, eine in der Hauptstadt und die andere in der Flensburger Innenstadt. Und dann gibt es noch das Haus in Dänemark. Die beiden Töchter gehen dort zur Schule und betreiben Schwimmen als Leistungssport. Die gemeinsame Freizeit ist selten, wird aber umso mehr genossen. „Wir setzen in unserer gemeinsamen Zeit Prioritäten, wie wir sie verbringen möchten“, erklärt Stefan Seidler. „Das ist nichts Ungewöhnliches im heutigen Arbeitsleben.“ Häufiger werde gemeinsam gekocht. „Wenn wir deutschen Besuch haben, wird mir erst bewusst, wie viel dänische Gerichte wir in unserem Alltag haben“, erzählt der Politiker, der es „querbeet“ liebt. Das Leibgericht gibt es nur in der kalten Jahreszeit: Grünkohl mit allen erdenklichen Zutaten – also auch mit Schweinebacke und Süßkartoffeln.

v.l. Philipp Bohk, Sarina Quäck, Lilli Rachenpöhler, Marvin Stark, Mats Rosenbaum, Tom Hohenwald, Stefan Seidler, Simon Teebken

Gesundes Essen fällt im Berliner Politik-Zirkus bisweilen etwas kurz aus. Bei einem Empfang gibt es ein Häppchen, zwischen den Terminen eine schnelle Mahlzeit und schließlich ein Feierabendbier beim kollegialen Austausch. Das einst geliebte Laufen taucht im Tagesablauf derzeit nicht auf. Stefan Seidler schaut auf seinen Bauch und bemerkt: „Die Kilos sagen, dass mir leider die Zeit fehlt.“ Früher ging es von der Hafenspitze nach Sonwik oder vom Quellental nach Holnis. Auch als Hobby-DJ war er schon lange nicht mehr im Einsatz, er hört aber immer noch gerne Musik – vor allem während der langen Bahn-Fahrten. Stefan Seidler ist Mitglied in einem Genesis-Fanclub, mit seinen Töchtern singt er auch mal zu Songs von Udo Lindenberg. „Ich bin ein Kind der 80er Jahre“, sagt er.

Zu Besuch beim Flensborg Roklub

Die politischen Aufgaben

In den letzten zweieinhalb Jahren hat der SSW-Abgeordnete viele Einblicke hinter die Kulissen der großen Politik erhalten. Er bemüht sich stetig darum, dass der hohe Norden mehr wahrgenommen wird, stellt aber auch immer wieder fest, dass es noch viel zu tun gibt. Das merkt er beispielsweise dann, wenn er von der Spree nach Flensburg mit dem Zug reist. „Während der Fahrt kann man gut arbeiten“, sagt Stefan Seidler. „Man stellt aber auch fest, dass in Schleswig-Holstein das Prinzip der Bimmelbahn vorherrscht.“

Lars Erik Bethge, Susanne Schäfer-Quäck, Stefan Seidler, Mats Rosenbaum

Der Zustand des Gleisnetzes im nördlichsten Bundesland befindet sich im bundesweiten Vergleich an letzter Stelle, taucht auf einer Liste der bis 2029 vorgesehenen Sanierungsvorhaben dennoch nicht auf. Und auch danach tut sich auf den Strecken von Hamburg nach Kiel und Flensburg wohl nichts, wie eine Anfrage beim Verkehrsministerium ergab. Dort genießt die Fehmarnbelt-Querung offensichtlich die größere Priorität. Und die wenigen Fernzüge, die derzeit Kurs auf Flensburg nehmen, sausen an der Fördestadt vorbei, da die Schleife zum Bahnhof zu viel Zeit frisst. Aber auch die Installation eines Fernhaltepunktes an der Haupttrasse in Weiche scheint ein dickes Brett zu sein. In anderen Bereichen feierte Stefan Seidler schon Erfolg.

Als etwa beim Küstenschutz Einsparungen im Haushalt drohten, tat er sich mit anderen norddeutschen Abgeordneten zusammen, um das zu verhindern. Erfolgreich, und sein Name wurde von Bundesminister Cem Özdemir sogar in einer Rede erwähnt. Auf einem Antrag der Koalitionsfraktionen zur Stärkung der maritimen Wirtschaft tauchte der Name des Nordlichts ebenfalls auf. Und die Änderungen im Namensrecht – dazu gehören auch die Sonderzeichen der dänischen Sprache – seien sehr positiv. „Es gibt wichtigere Fragen, aber es geht auch um die Identität der Menschen“, betont Stefan Seidler und erklärt: „In einer Zeit, in der vieles nach rechts abdriftet, sollte man mehr für eine offene Gesellschaft tun und Rücksicht auf andere nehmen.“

Wahlkampf mit Gunnar Nissen

Manchmal bilden sich im Bundestag überraschende Partnerschaften. Ein Anliegen des SSW-Politikers ist es, dass angesichts wohl häufiger werdender Sturmfluten hierzulande auch Elementarschäden versichert werden – so wie in Dänemark oder Frankreich. „Da kam plötzlich ein grüner Abgeordneter aus dem südlichsten Bayern auf mich zu“, erzählt das Nordlicht. „Er erwähnte extreme Hagelstürme im Alpengebiet und ähnliche Probleme mit den Versicherungen. Wir beschlossen, gemeinsame Sache zu machen.“ Begebenheiten wie diese bestärken Stefan Seidler darin, für die Bundestagswahl 2025 erneut als SSW-Kandidat antreten zu wollen. „Aber das muss die Partei entscheiden. Ich trete auf jeden Fall gerne nochmal an. Die Arbeit macht mir Spaß und es gibt für uns im Norden noch viel anzupacken“, sagt er.

Text: Jan Kirschner
Fotos: Jan Kirschner, privat

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