Unspektakulärer können Fassade und Foyer eines Theaters nicht sein. Die Niederdeutsche Bühne Flensburg, eine graue Fassade, davor ein Parkplatz. Ein paar Stufen führen zu einer unscheinbaren Tür. Dahinter jedoch öffnet sich eine Traumwelt, sowohl für Zuschauer als auch Schauspieler. Während Neuinszenierungen zunächst im Stadttheater aufgeführt werden, wandern die Stücke anschließend zur Studiobühne in die Augustastraße. Hier erleben die Zuschauer Theater hautnah, die Darsteller auf Armreichweite, umgekehrt nehmen die Schauspieler die Reaktionen des Publikums unmittelbar wahr. Keine unsichtbare Wand, die Distanz schafft. Diese Nähe zum Publikum, von den Darstellern geliebt wie gefürchtet.
Die NDB-Studiobühne am Tage: Ohne das stimmungsbildende Scheinwer-
ferlicht wirken die Kulissen kalt und emotionslos. Es bedarf großer Fantasie, sich das Geschehen auf der kleinen Bühne vorzustellen, zu erahnen, wie die Akteure sie mit Leben erfüllen, die vom Autor gelieferte Vorlage zu einem mit allen Sinnen Erlebbaren gestalten.
Ebenso spannend die Backstage-Informationen und -eindrücke. Bühnenleiter und Geschäftsführer Rolf Petersen berichtet von künstlerischen Überlegungen bei den Inszenierungen, der Motivation von Schauspielern, alle ehrenamtlich tätig. Er erzählt jedoch mit gleichem Engagement von der ökonomischen Lage des Theaters, Ängsten und dem Kampf ums Überleben. Nach Jahrzehnten der relativen Sicherheit folgte ein Einschnitt, der das Haus in Gefahr brachte.

Spekulation bedrohte die Bühne

Jahrzehntelang war die NDB Mieter der Innungskrankenkasse IKK zu einem sehr günstigen Kurs. Dann verkaufte die IKK das Gebäude an einen dänischen Investor. Damit verbunden war eine erhebliche Mieterhöhung ab 2020. Das hätten die Betreiber des Theaters aus eigener Kraft nicht finanzieren können. Sie traten an die Stadt heran, mit Erfolg. Ab 2020 wird der Zuschuss der Kommune um 60.000 Euro erhöht. Die Gesamtkosten der NDB liegen bei 600.000 Euro. Zur Zeit noch gibt es einen kommunalen Zuschuss von 168.000 Euro. Das Theater finanziert sich darüber hinaus mit den Eintrittsgeldern aus ca. 200 Vorstellungen mit 25.000 Zuschauern.
„Ein Drittel ist Zuschuss, zwei Drittel müssen wir selbst erwirtschaften“, sagt Rolf Petersen. „Wir sind eine Amateurbühne, das muss man betonen. Es gibt in Verwaltung und künstlerischer Leitung hauptamtlich Beschäftigte. Alle, die auf der Bühne stehen, bekommen eine Aufwandsentschädigung, aber machen das ansonsten ehrenamtlich.“
Zum Erhalt des Theaters trägt ein Förderverein mit rund 170 Mitgliedern bei. Er springt ein, wenn Kosten, meist Inventar oder Instandhaltungskosten, nicht aus dem laufenden Etat finanziert werden können.
Eine gewaltige Leistung bei sieben eigenen Inszenierungen.
Petersen lobt den Fleiß der Schauspieler, etwa den von Henri Buchenau (17). Er hat einige Jahre Kinderstücke gespielt, die bis zu 60mal aufgeführt wurden. Henri geht noch zur Schule, kommt mittags um 13 Uhr nach Hause. Zur Zeit spielt er im „Strom“ in einer Hauptrolle mit.

Fast 100 Jahre Niederdeutsch in Flensburg

Die Bühne besteht in der nächsten Spielzeit 100 Jahre. Im März 1920 wurde das Theater als ‚Flensburger Speeldeel‘ gegründet. 1926 wurde es umbenannt in ‚Niederdeutsche Bühne Flensburg‘. Sie war von Anfang an sehr erfolgreich. Nach der Jahrhundertwende 1900 sind sehr viele Bühnen gegründet worden, etwa die gleich alte ‚Niederdeutsche Bühne Lübeck‘. Die Entwicklung begann 1902 mit dem Hamburger ‚Ohnsorg-Theater‘. Inzwischen ist Niederdeutsches Theaterspiel ‚Immaterielles Weltkulturerbe‘ der UNESCO.
Einen Erklärungsversuch für den Erfolg der Mundarttheater wagt Rolf Petersen: „Wenn man sieht, was draußen in der Welt geschieht, sehnen sich viele nach „Heimat“. Die Globalisierung weckt Ängste, die bewirken, dass sich die Menschen wieder nach einem kleinen, überschaubaren Rahmen sehnen. Zur Regionalität gehört auch Sprache.“

Platt – keine Sprache für alte Leute

Henri Buchenau kam aus Hannover nach Flensburg. Für ihn war die Begegnung mit dem Plattdeutschen neu und aufregend. Er musste „eine neue Sprache“ lernen.
Plattdeutsch ist kein Dialekt, wie etwa Bayrisch, sondern eine eigene Sprache, mit eigenem Vokabular und eigener Grammatik. „Man kann es also lernen“, meint Rolf Petersen. Nordisches Platt hat viele Varianten, von Angeln bis Nordfriesland. „Wir sprechen das Flensburger Platt.“
Es werden auch Stücke aus anderen Teilen Norddeutschlands gespielt, etwa aus der Oldenburger Gegend. Da müssen die Schauspieler sich die Texte in das hiesige Platt übersetzen. Diejenigen, die die Sprache noch von Hause aus beherrschen, müssen die Jüngeren, denen das eher fremd ist, an die Hand nehmen.
Plattdeutsches Theater wird oft mit seichter Komödie gleichgesetzt. Das Drama ‚De Strom‘ etwa ist alles andere als leichte Kost. Richtig allerdings ist, dass der Spielplan vorwiegend Komödien und Lustspiele umfasst. Oft sei das Spielen von Komödien schwieriger als die Darstellung in Dramen, gibt der Bühnenleiter zu bedenken. Den niederdeutschen Bühnen haftet immer noch das Etikett von ‚Opa und Oma-Theater‘ an. Da hat sich in den letzten Jahren jedoch einiges getan, was dem widerspricht. Das ‚Ohnsorg-Theater‘ hat durch die Fernsehpräsenz das Bild auch im negativen Sinne geprägt. Im Anfang der Entwicklung, also in den 20er Jahren, wurden viele ernste Stücke gespielt. Lustspiele und Komödien kamen erst im Laufe der Zeit hinzu, denn damit kann man mehr Geld verdienen. Das Theater muss hier Kompromisse machen, um die Wirtschaftlichkeit zu sichern.

Das Ensemble

Die NDB hat um die 40 bis 50 aktive Spieler. Es gibt einen guten Zulauf an jungen Schauspielern, aber natürlich auch altersbedingte Abgänge. Henri Buchenau wurde einst für ‚Nils Holgersson‘ gecastet. Kinderstücke werden in Hochdeutsch gespielt, auch um mehr Publikum anzusprechen. Zumal es bei Kinder- und Jugendstücken vorrangig darum geht, junge Leute an das Theater heranzuführen.
Mehr sprachorientiert sind die ‚Klassenzimmerstücke‘. Dazu fährt das Ensemble in die Schulen und spielt in Klassenzimmern und Schulaulen. Das Programm wendet sich an Grundschulen und betont die Interaktivität, das Mitmachen der Kinder. Sie sollen mit der plattdeutschen Sprache vertraut gemacht werden. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit der Zentralschule in Harrislee. Sie ist eine von über dreißig Modellschulen in Schleswig-Holstein, in denen Plattdeutsch als freiwilliges Angebot auf dem Stundenplan steht. Vier Schauspieler der Niederdeutschen Bühne Flensburg unterstützen die Lehrer beim Plattdeutschunterricht.

Was wird gespielt?

Das Motto von Rolf Petersen: „Die Mischung macht‘s“. Ein Mix aus Komödie, Lustspiel und Drama. „Die Stücke sollten unterschiedliche Themen behandeln“. Rolf Petersen zitiert Goethe:
„Vor allem lasst genug geschehn!“ Action in diesem Sinne gibt es bei ‚Anna, dat Goldstück“.
Den zweiten Rat des Meisters: „Greift hinein ins volle Menschenleben“, beherzigen die Flensburger mit „Fröhstück bi Kellermanns“. Auch der dritte Rat des Dichterfürsten, „An Tier und Vögel fehlt es nicht“, wird mit „Kugelfisch, Hawaii“ beherzigt. Die dramatische Empfehlung „Und wandelt mit bedächt‘ger Schnelle vom Himmel durch die Welt zur Hölle“ schlägt sich im Drama „De Strom“ nieder. Das Stück schildert das Schicksal einer Bauernfamilie vor dem Hintergrund einer Naturkatastrophe. Schwank und Aberwitz kommen nicht zur kurz: In Stücken wie „Un dat an‘n Hochtiedsmorgen“ oder „Alleen in de Sauna“.
Ein weiteres Kriterium für die Auswahl der Stücke:
Sie müssen mit den verfügbaren Schauspielern besetzt werden können. Das Besondere an der NDB: Sie arbeitet ausschließlich mit professionellen Regisseuren, die per Werkvertrag engagiert werden. Das unterscheidet die Bühne von anderen Niederdeutschen Bühnen und wirkt sich positiv auf die Qualität der Aufführungen aus.

Die Kaderschmiede

Das Flensburger Theater hat namhafte Schauspieler hervorgebracht, sicher am bekanntesten Peter Heinrich Brix (Neues aus Büttenwarder). Ein weiteres Beispiel ist Ole Lagerpusch, Sohn eines Flensburger Frisörs. Er machte nach seinen Anfangsjahren an der Niederdeutschen Bühne Karriere auf den großen Theaterbühnen des Landes, spielt die Klassiker von Goethe, Brecht und Shakespeare. Lagerpusch begann mit Kinderstücken in Flensburg, ging dann zur Schauspielausbildung nach Berlin, war danach beim Deutschen Theater in Berlin und dem Thalia in Hamburg engagiert.
Ein enger Kontakt der Niederdeutschen Bühne Flensburg besteht mit der ‚Theaterschule Flensburg‘ (wir berichteten in der Märzausgabe). Auch Henri hat das Schauspielhandwerk dort gelernt und kann sich vorstellen ins Profilager zu wechseln.
Profis sind bereits jetzt feste Mitarbeiter der Niederdeutschen Bühne. In der Schneiderei zaubert die Kostümbildnerin Barbara Büsch Kostüme aus allen historischen Epochen. Der Fundus ist gefüllt mit allem, was den Schauspieler dem Stück entsprechend schmückt. Neben der Kostümkammer stapeln sich Requisiten, vom Regenschirm bis zum antiquierten Computerterminal. Irgendwann, so heißt die Devise, wird alles einmal auf der Bühne gebraucht werden. Das ist das Reich von Angelika Kahra und ihren Kolleginnen.
Hinter, besser an den Kulissen wirkt Sascha Bucher. Er hat die technische Leitung des Theaters. Fünf Bühnenbildner gestalten beeindruckende Kulissen. Ebenso viele Souffleusen sorgen für das richtige Stichwort. Sechs Regisseurinnen und Regisseure leiten Proben und Spiel auf der Bühne.
Und schließlich sorgt Svenja Gan-schow dafür, dass die Bücher stimmen und das Theater auf allen kommunikativen Kanälen erreichbar ist.
Rolf Petersen als Bühnenleiter und Geschäftsführer der NDB stand selbst beim ‚Ohnsorg-Theater‘ in Hamburg auf der Bühne und hat jetzt alle Fäden in der Hand. Petersen ist Theaterprofi durch und durch. Bereits als Jugendlicher spielte er in Neumünster Theater, besuchte nach dem Abitur eine Schauspielschule in Hamburg und war dann zwanzig Jahre lang beim ‚Ohnsorg-Theater‘ in Hamburg als Schauspieler und künstlerischer Leiter verpflichtet.  1992 bis 1998 war Petersen darüber hinaus Abendregisseur und Oberspielleiter bei den Karl-May-Spielen in Bad Segeberg. Seit 2000 leitet er die Niederdeutsche Bühne Flensburg.
Ein Blick hinter die Kulissen eines Theaters ist ein besonderes Erlebnis, das leider nur wenigen vergönnt ist. Ein Gespräch mit den Machern offenbart Details, die dem Zuschauer im Parkett und auf den Rängen verschlossen bleiben. Das ist auch gut so! Denn Theater ist Illusion, die von zu viel Wirklichkeit zerstört wird.

Bericht: Dieter Wilhelmy,Fotos: Benjamin Nolte

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