In einer knappen Stunde beginnt das Training bei den Oberliga-Fußballern des TSB Flensburg. Ihr Coach Gramoz Kurtaj steht auf der Terrasse des Vereinsheims. Sein Blick schweift über den Eckener Platz, über das TSB-Sportgelände, hinaus und erhascht auch Hafen-Gebäude, Innenförde und Werft. Aber das alles ist doch nicht mehr als der lokale Tellerrand, der das Fernweh eines Weltenbummlers gewiss nicht zu sättigen vermag. Der 31-Jährige war mit seiner Passion in mehreren Ländern unterwegs, tauchte sogar auf einem anderen Kontinent auf und kickte mehrere Jahre in Südostasien.
Dabei hatte alles ganz bodenständig und ländlich begonnen. Gramoz Kurtaj wurde zwar 1991 im Kosovo geboren, aber schon als Zweijähriger lebte er mit seinen Eltern in Nordfriesland, im beschaulichen Schwabstedt. Sein erster Verein war der TSV Rantrum, der zweite der Rödemisser SV. „Ich war wohl besser als die Gleichaltrigen, spielte meistens mit Älteren und wurde sicherlich als Talent angesehen“, erinnert er sich. Als Teenager war klar: Der Fußball war sein Ding. Gramoz Kurtaj schloss sich der B-Jugend von Flensburg 08 an. Seine Eltern fuhren ihn stets zu den Übungseinheiten in die Fördestadt – so wie er heute selbst am Steuer sitzt, um zum TSB-Vereinsgelände zu gelangen.

Auf der Terrasse des TSB-Vereinsheims

Ein Talent bei Holstein Kiel

Er schaffte den Sprung in die Landesauswahl. Holstein Kiel wurde auf den jungen Mittelfeld-Akteur aufmerksam und holte ihn an sein Leistungszentrum. „Nach der Schule war ich kurz zu Hause, um etwas zu essen“, erzählt Gramoz Kurtaj. „Dann nahm ich den Zug nach Kiel und machte während der anderthalbstündigen Fahrt die Schulaufgaben. Nach dem Training ging es abends zurück.“
Ein enger Takt, volles Programm. Aber der Aufwand rentierte sich. In seinem letzten Jugend-Jahr traf der Nordfriese mit Holstein in der Jugend-Bundesliga auf die Nachwuchsteams der großen Profi-Klubs. Auch auf Berlin. „Wir haben dort verloren, ich spielte aber gut“, berichtet er. „Nur wenige Tage später meldete sich ein Scout von Hertha BSC.“ Kurz darauf lag ein Vertrag für die U23 auf dem Tisch. Kurzum: Im Sommer 2010 stand ein junger Fußballer vor dem Eingangstor zur großen Fußball-Welt.

Ein Nordlicht in Ostdeutschland

Aber vielleicht war er noch zu jung. Es waren ganz neue Eindrücke, die das Nordlicht in der Millionen-Metropole sammelte. Mit der U-Bahn ging es zum Wirtschaftsgymnasium und zum Training. Der Fokus richtete sich komplett auf den Fußball, der Traum vom Profitum war als Talent eines Renommierklubs absolut real. „Das war eine Riesenchance“, erzählt Gramoz Kurtaj. „Letztendlich hat die Leistung nicht ganz gereicht. Ich wohnte erstmals allein, musste mit einer ungewohnten Druck-Situation umgehen und auch damit, häufiger auf der Bank zu sitzen oder auf ungewohnten Positionen meine Qualität beweisen.“ Eigentlich war er ein „Zehner“ oder ein „Achter“, wie Fachleute das offensive Mittelfeld umschreiben. Da aber Routiniers wie „Zecke“ Neuendorf und Pal Dardai dem Nachwuchs-Team Halt geben sollten, wurde der Nordfriese ins nicht so geliebte linke oder rechte Mittelfeld verdrängt, wo er sich nicht so gut in Szene setzen konnte.
Das Ende vom Lied: In Berlin ging es nicht weiter, nach zwei Jahren lief der Vertrag aus. Auch die erhofften hochklassigen Angebote trudelten nicht ein. Erst als die Vorbereitung auf die Saison 2012/13 bereits lief, kam Gramoz Kurtaj beim Regionalliga-Neuling TSG Neustrelitz unter. Nach vielen guten Vorstellungen lotste ihn Petrik Sander, Trainer bei Carl Zeiss Jena, nach Thüringen. Dort feilte man an einem starken Kader, trainierte zwei Mal am Tag und hegte Hoffnungen auf einen Drittliga-Vorstoß. Die Euphorie wich schnell, die Thüringer rutschten in ein sportliches Tal und tauschten zwei Mal die Übungsleiter aus.

Tschechien und Schottland

Für Gramoz Kurtaj hieß es im Frühling 2014: Quo vadis? Gerade war er 23 Jahre alt geworden, aber noch immer hatte er den Sprung in eine deutsche Profi-Liga nicht geschafft. Zusammen mit einem Berater stellte der Fußballer einen Master-Plan auf. Das Fazit: Wenn es in Deutschland nicht klappt, warum denn nicht im Ausland? Der neue Vermittler hatte gute Kontakte nach Osteuropa. Wenige Tage später lag ein Angebot von einem tschechischen Zweitligisten vor: FK Banik Most. Der Klub gehörte einst sogar zur ersten Liga des Landes. Das klang nach einer echten Perspektive.
Im nordböhmischen Most war es beschaulich: Das kleine Stadion belebte eine zarte Fan-Szene von 80 Leuten. Das Fundament für einen Höhenflug fehlte allerdings, der Verein stieg sogar ab. Das Glück im Unglück: Gramoz Kurtaj selbst lieferte eine sehr passable Spielzeit ab, erzielte sieben Tore und glänzte mit noch mehr Vorlagen. Diese guten Referenzen rentierten sich, denn plötzlich lag der Zwei-Jahres-Kontrakt eines Erstligisten auf dem Tisch. Der Absender: Hamilton Academical aus der „Scottish Premiership“.
Am 4. Oktober 2015 platzte das nur 6000 Fans fassende Stadion „New Douglas Park“ aus allen Nähten. Celtic Glasgow gastierte in Hamilton. Auf der Tribüne saßen die Eltern von Gramoz Kurtaj. Sie jubelten bereits nach fünf Minuten: Ihr Sohn drang in den Strafraum ein und zog ab. Tor, das erste in Schottland! Eine Sensation lag in der Luft, am Ende siegte aber der Favorit mit 2:1. Dennoch wurde der Mann im rot-weißen Hamilton-Trikot mit der Nummer zwölf zum „Player of the match“ gekürt.
Der deutsche Profi erlebte in Glasgow, Aberdeen oder Edinburgh fantastische Kulissen. Ihm gefiel es bei Hamilton Academical. „Die Mitarbeiter in der Geschäftsstelle kümmerten sich rührend, und der Klub hatte schöne Rasenplätze“, erzählt er. „Aber alles war etwas kleiner als bei den großen Vereinen. Es war so ähnlich, als wenn Greuther Fürth in der Bundesliga auf Bayern oder Dortmund treffen würde.“ Sportlich schien mehr möglich. „Mein Berater erwähnte einige Anfragen, die festgeschriebene Ablösesumme schreckte aber ab“, verrät Gramoz Kurtaj.
Das zweite Jahr in Schottland verlief weniger gut. Schon in der Vorbereitung zwickte das Knie. Als der Mittelfeldakteur auf den Platz zurückgekehrt war, säbelte ihn ein gegnerischer Verteidiger um. Eine Knöchel-Blessur! Die Rückschläge häuften sich, der Rhythmus fehlte. „Dem Verein ist wohl das Vertrauen abhanden gekommen, dass ich noch einmal richtig zurückkommen könnte“, glaubt das Nordlicht heute.

Ganz eigene Erfahrungen in Asien

Kurzum: Ein neuer Verein musste gefunden werden. Als Gramoz Kurtaj im Frühling 2017 einen Holländer traf, konnte er noch nicht ahnen, dass die lukrativste Zeit seiner Karriere noch bevorstehen sollte. Der neue Berater hatte einst selbst in China und Vietnam gekickt und hatte sich inzwischen auf die Vermittlung von europäischen Profis nach Südostasien spezialisiert: Indonesien, Malaysia, Singapur – alles klang nach einer ganz anderen Fußball-Welt. Es meldete sich ein Klub aus Vietnam, aus Da Nang. „Ich musste erst einmal schauen, wo das liegt“, schmunzelt der Nordfriese. „Dann dachte ich nur: Wow, direkt am Meer, eine Tourismus-Hochburg. Ich komme vom schottischen Regen an den tropischen Strand.“
Die Abreise war dann doch nicht so beschwingt. Als sich Gramoz Kurtaj von seiner Schwester am Berliner Flughafen verabschiedete, wurde ihm der Schritt erst so richtig bewusst: Tausende Kilometer und 20 Flugstunden von der Heimat entfernt. „Soll ich das wirklich machen?“, fragte er sich plötzlich. Zweifel tauchten auf, sogar Tränen flossen. Bei der Ankunft in Da Nang herrschte wieder Vorfreude auf ein neues Abenteuer, auf eine ganz neue Lebenserfahrung. Es wurde „einfach eine schöne Zeit“, bilanziert er. „Nach dem Training ging es regelmäßig an den Strand zum Entspannen.“
Eine Fußball-Saison in Vietnam erstreckt sich – anders als in Europa – über ein Kalender-Jahr. So war der Juli-Ankömmling aus Deutschland ein Rückrunden-Transfer, der den Mittelfeld-Rang seines neuen Arbeitgebers absichern sollte. Das sportliche Niveau beeindruckte den Neuzugang durchaus. „Die Fußballer in Vietnam sind alle schnell, haben eine sehr gute Technik“, berichtet er. „Sie sind aber auch ziemlich klein. Mit meinen 1,82 Metern war ich in Europa einer unter vielen, aber in Vietnam einer der Größten.“ Die Vietnamesen empfingen ihn oftmals mit staunenden Blicken. „Ich fühlte mich wie ein Star“, erzählt er. „Das Interesse an Fußballern aus Europa oder Südamerika ist sehr groß.“ Gramoz Kurtaj bekam eine Wohnung gestellt – und einen Roller, mit dem er sich durch den Verkehr der Millionen-Metropole schlängelte.
Pro Team waren nur drei ausländische Spieler zugelassen. Neben ihm kickten zwei Argentinier, die leidlich Englisch beherrschten. Sonst war die Verständigung in Fernost schwierig. „Vietnamesen sprechen kein Englisch“, weiß der 31-Jährige. „Und ich habe es mit Vietnamesisch zwar versucht, aber diese tonale Sprache ist wirklich verdammt schwierig.“ Der Verein beschäftigte einen Dolmetscher, der die Ausführungen des Trainers übersetzte. Immerhin hatte Gramoz Kurtaj bald die landesüblichen Bezeichnungen für links, rechts oder „Hintermann“ drauf.

Verletzungen und Corona-Pandemie

Nicht so gute Erfahrungen machte er in Da Nang mit der medizinischen Abteilung. Kummer bereitete eine Fuß-Blessur, die der Profi letztendlich in Deutschland auskurierte. So hatte er über viele Monate keinen Verein und bekam nur etwas Arbeitslosengeld. Anfang 2019 packte er zwei Koffer und reiste auf eigene Faust wieder nach Vietnam: Gramoz Kurtaj hatte ein Probe-Training beim FC Thanh Hoa vereinbart und konnte überzeugen. Er durfte bleiben, absolvierte eine ganze Saison in der vietnamesischen Liga und nutzte die Pausen im Terminkalender für einige Touren durch ganz Südostasien, nach Südkorea oder auch nach Australien. Alles Länder, die er bis dahin nur von Erzählungen kannte.
Anfang 2020 weilte der Globetrotter wieder bei der Familie in Husum. Er observierte den Markt, hielt sich fit und verletzte sich dabei. So konnte er zunächst keinen neuen Verein finden. Und dann kam die Corona-Pandemie. Der internationale Reise-Verkehr brach völlig zusammen, der Spielbetrieb wurde weltweit eingestellt. Als sich die Grenzen wieder öffneten, verschlug es Gramoz Kurtaj in den Kosovo, in sein Geburtsland, zum SC Gjilani. „Es war wirklich schön, dass ich dort ein paar Monate spielen konnte und mein Albanisch auffrischen konnte“, erzählt er. Danach war klar: Er möchte weiter Fußball spielen und damit Geld verdienen.

Das Ende der Spieler-Karriere

Tatsächlich landete der Nordfriese 2021 ein zweites Mal beim FC Thanh Hoa. Er konnte die Saison allerdings nicht zu Ende spielen, Schmerzen an der Hüfte plagten ihn. Verschleißerscheinungen. Der Profi suchte einen Spezialisten in München auf, der ihm das Karriereende nahelegte. Ein Schock. „Das war eine schwierige Zeit“, erinnert sich Gramoz Kurtaj. „Ich wusste nicht wie es weitergehen sollte. Ich war ja erst 31 Jahre alt und wollte eigentlich noch eine Weile Fußball spielen.“
Im letzten Frühjahr hatte er die Hiobsbotschaft einigermaßen ver-daut – und er hatte eine Idee, wie er seiner sportlichen Leidenschaft treu bleiben kann: ein Trainer-Job. Er fragte vor der Haustür, bei der Husumer SV, an. Doch dort hatte man gerade einen neuen Coach für das Oberliga-Team verpflichtet. Man wusste aber, dass der Liga-Kontrahent TSB Flensburg noch bei der Suche war. Der Trainer-Novize nahm Kontakt zum TSB-Ligamanager Rainer Andresen auf.
Nach drei Gesprächen hatte man eine Übereinkunft: Gramoz Kurtaj war nun Übungsleiter im Amateurfußball, womit er sich erst einmal etwas arrangieren musste. „Fußball ist für die Spieler beim TSB nur ein Hobby, sie haben alle Berufe oder studieren“, weiß er. „Ich würde gerne viel häufiger trainieren.“ Und wenn die Zahl der Akteure wegen Urlaub oder Verletzung zu klein wird, streift er sich auch selbst noch mal das Spieler-Trikot über. Inzwischen hat er die B-Lizenz in der Tasche und macht kein Geheimnis daraus, dass er noch einmal in einer höherklassigen Liga oder im Ausland tätig sein möchte. Vielleicht Vietnam? „Da sage ich bestimmt nicht nein!“, lächelt Gramoz Kurtaj. Dabei blickt er von der Terrasse des TSB-Vereinsheims über den Eckener Platz. Ein Blick, der am lokalen Tellerrand endet.

Text: Jan Kirschner
Fotos: Jan Kirschner, privat

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