Auf der Bühne wird geprobt. Die Darstellerin und der Regisseur sind im Studio aber nicht die einzigen, die an diesem Vormittag die Augustastraße 5, den Sitz der Niederdeutschen Bühne, beleben. Das Treppenhaus hoch geht es durch einen tunnelartigen Gang und schließlich an „Emma“, der bekannten Lokomotive aus einem noch bekannteren Kinderstück, vorbei. Da kommt dem Besucher ein Bahnfahrer des Tages entgegen: Mit einem Lächeln grüßt Rolf Petersen. Er ist – wenn man so will – der Lokführer der Niederdeutschen Bühne. Die künstlerische Leitung und die Geschäftsführung sind seine Aufgabenfelder. Normalerweise immer donnerstags und freitags kommt er aus seiner Wahlheimat Hamburg – per Zug oder mit dem Auto – in den hohen Norden. Er ist nunmehr seit fast einem Vierteljahrhundert eine prägende Figur des Flensburger Kulturlebens.

Künstlerische Anfänge in Neumünster

Rolf Petersen wurde 1963 im „Herzen von Schleswig-Holstein“ – wie er die Stadt Neumünster nennt – geboren. In Großenaspe (Kreis Segeberg) wuchs er auf einem Bauernhof auf, im Umfeld von Viehwirtschaft und Ackerbau erhielt der Junge eine plattdeutsche Prägung. Es gab keinen Schauspieler in der Familie, in künstlerischer Hinsicht wurde da also nichts in die Wiege gelegt. „Ich habe nichts angestrebt, die Dinge haben sich so ergeben“, erzählt Rolf Petersen. „Es kam immer das eine zum anderen.“ So war es auch „eher ein Zufall“, wie Neumünster zur Keimzelle seines künstlerischen Schaffens wurde.

Er war 14 Jahre alt und besuchte eine Realschule im „Herzen von Schleswig-Holstein“. Die Klassenlehrerin hatte ein besonderes Hobby: Sie war Darstellerin an der Niederdeutschen Bühne in Neumünster. Eines Tages suchte sie zwei kecke, aufgeweckte Jungs für das Stück „Spektakel üm den Soot“, und zwar nicht nur als Statisten, sondern für eine richtige kleine Rolle. Rolf Petersen und ein weiterer Klassenkamerad meldeten sich. Ihm gefiel es so sehr, dass sein Theater-Debüt nur der Anfang war. Er blieb, eine volle Dekade lang. Er spielte nicht nur diverse Charaktere hinter der Bühne, sondern kümmerte sich auch um die Technik oder schob die Kulissen. Ein zeitaufwändiges Hobby.

Das Ziel: Schauspielerei als Beruf

Nach dem Abitur war Rolf Petersen zwei Jahre bei der Marine in Kiel. Die Phase des Wehrdienstes war zugleich auch eine der persönlichen Findung. Warum sollte er die Schauspielerei nicht zum Beruf machen? Ein zartes Netzwerk für den Einstieg bestand. Ein Regisseur der Niederdeutschen Bühne Neumünster hatte einen kurzen Draht zu Karl-Heinz Kreienbaum, einem der bekanntesten Schauspieler des Ohnsorg-Theaters. Gerade diese legendäre Hamburger Institution erschien wie der ideale Ort einer plattdeutschen Karriere. Der bekannte Schauspieler gab den naheliegenden Tipp, den Intendanten des Ohnsorg-Theaters anzuschreiben. Das war damals Konrad Hansen, der später einmal Intendant der Niederdeutschen Bühne Flensburg werden sollte. Der registrierte die Motivation und die Begeisterungsfähigkeit eines Talents, stellte aber auch glasklar fest: „Ohne Ausbildung geht es nicht.“

Also besuchte Rolf Petersen für einige Jahre eine private Schauspielschule in Hamburg, nahm zusätzlich Unterricht in Sprecherziehung bei der Schauspiel-Legende Annemarie Marks-Rocke und studierte später zusätzlich Germanistik und Theaterwissenschaften. Nicht ohne Praxisbezug: Seit 1986 gehörte der Student dem Ensemble des Ohnsorg-Theaters an. Kurios: Mit der Rolle eines behinderten Jungen im Stück „Afschaben“ gab Rolf Petersen in Neumünster seinen Abschied und mit gleichem Stück – aber unter dem Titel „Halfklook“ – an der Elbe sein Ohnsorg-Debüt. Kurz darauf mimte er einen Bäckerlehrling im Stück „Een Mann mit Charakter“ und stand mit Hamburgs Schauspiel-Legende Heidi Kabel gemeinsam auf der Bühne.

Ohnsorg-Theater und Bad Segeberg

Er tauchte in Hamburg auch im Ernst-Deutsch-Theater auf. Oder im „St. Pauli Theater“, wo er in einer bekannten Groteske als „Charly“ brillierte – an der Seite der „Tante“, von Freddy Quinn. Rolf Petersen übernahm nun häufiger auch die Regie. So war er in den 90er Jahren sechs Sommer lang als Oberspielleiter bei den Karl-May-Spielen in Bad Segeberg tätig. Am Kalkfelsen vollzog sich damals ein Umbruch. Es war nur die Spitze des Eisberges, dass Gojko Mitic, der „Winnetou des Ostens“, anstelle von Pierre Brice mit Indianerschmuck über die Freilichtbühne ritt. Rolf Petersen war nun im Sommer ganz in der Nähe seiner Heimat tätig, während er im Winter in Hamburg Theater inszenierte. Von 1996 an führte er neben seiner Schauspielertätigkeit das künstlerische Betriebsbüro des Ohnsorg-Theaters. Diese Aufgabe hatte ihm Christian Seeler, Intendant und über Jahre ein Förderer, angeboten.

Anfänge in Flensburg

Einer der Regisseure, nämlich Christoff Bleidt, hatte inzwischen die Leitung der Niederdeutschen Bühne in Flensburg übernommen. Für die Spielzeit 1998/99 lotste er Rolf Petersen auf Empfehlung von Regisseur Frank Grupe erstmals in die Fördestadt. „Lütte witte Siedenschoh“ hieß das persönliche Flensburg-Debüt. Am Premierenabend trafen sich die beiden Herren vor der Herren-Toilette. Christoff Bleidt formulierte eine überraschende Offerte: „Ich mache das jetzt seit fünf Jahren und möchte gerne zurück nach Berlin. Wäre das nichts für dich? Du kennst doch die Seite der Spieler, die des Regisseurs und auch die betrieblichen Notwendigkeiten eines Theaters.“

Die Gedanken ratterten bei Rolf Petersen durch den Kopf: „Regie und Schauspiel – das sind ja meine Dinge. Aber traue ich mir wirklich die Leitung zu?“ Er beriet sich mit Christian Seeler. Schließlich wollte er dem Ohnsorg-Theater treubleiben. Der Hamburger Intendant hatte Kompromiss und Rettungsanker zugleich parat. Falls sich die neue Aufgabe doch als Irrweg herausstellen sollte, wären zwei Teilzeit-Engagements die Lösung: zur Hälfte in Flensburg, die andere Hälfte weiterhin in Hamburg. So wurde Rolf Petersen 2000 künstlerischer Leiter und Geschäftsführer der Niederdeutschen Bühne Flensburg und nahm gleich etliche Stücke ins Programm, die im hohen Norden noch nie aufgeführt worden waren. „Diese Bühne ist eine Perle und hat einen besonderen Stellenwert“, betont der Chef. „Die Darsteller sind zwar nicht ausgebildet, sie sind aber mit viel Leidenschaft dabei.“ Die Niederdeutsche Bühne baut als eingetragener Verein auf viel Herzblut und Ehrenamt. Neben der Leitung gibt es nur vier hauptamtliche Stellen: für Technik, Maske, Bühnenbau und Betriebsbüro inklusive Ticketing.

Doppelaufgabe in Flensburg und Schwerin

Rolf Petersen hatte 2000 einen Fünf-Jahres-Vertrag geschlossen. Gerade war die Hälfte der Laufzeit vorbei, flatterte ein weiteres überraschendes Angebot ins Haus. Die Fritz-Reuter-Bühne am Mecklenburgischen Staatstheater suchte einen neuen Direktor. Zur Erläuterung: Neben dem Hamburger Ohnsorg-Theater hat nur noch Schwerin eine plattdeutsche Voll-Profi-Bühne. Wieder saß Rolf Petersen mit Christian Seeler zusammen. Er sah eine große Chance, hatte aber auch Gewissensbisse wegen des laufenden Vertrages in Flensburg. Dennoch fuhr er zu einem Vorstellungsgespräch nach Schwerin. Danach konkretisierte sich die Offerte, sie barg aber auch das erlösende Schlupfloch: „Machen Sie doch die beiden Jahre in Flensburg zu Ende“, hieß es in Mecklenburg von Generalintendant Joachim Kümmritz. „Hauptsache, Sie machen die Fritz-Reuter-Bühne wieder flott.“

Das Ohnsorg-Theater passte nun aber nicht mehr ins Gesamtpaket. Mit der Titelrolle in der vom Fernsehen aufgezeichneten Komödie „Hannes im Glück“ verabschiedete sich Rolf Petersen im Frühjahr 2003 von seinem Hamburger Publikum. Alle drei Standorte waren einer zu viel, aber die Flensburg-Schweriner Koexistenz besteht inzwischen seit 20 Jahren. Rolf Petersen gefällt diese Abwechslung.

„Da ist zum einen der Unterschied von Ost und West, der sich merkwürdigerweise auch so viele Jahre nach dem Fall der Mauer immer mal wieder bemerkbar macht“, erklärt er. „Ich möchte aber auch den Kontrast nicht missen, dass ich in Flensburg mit Amateuren arbeite, die aus Spaß an der Freude spielen, während ich es in Schwerin mit Vollprofis zu tun habe.“ Eine Zeit lang hatte der Theater-Enthusiast drei Wohnungen: in Schwerin, Hamburg und Flensburg. Herrlich war die Lage am Fuße der Sankt-Jürgen-Treppe, doch es gab auch Nachteile. „Am Ende musste ich mich um drei Wohnungen kümmern, das schafft man gar nicht“, verrät Rolf Petersen, der sich für Hamburg entschied.

„Ich habe aber gute Freunde in Flensburg und kann dort immer übernachten, wenn es sinnvoll ist.“ Etwa am Abend nach den Premieren. Und sicherlich wäre er nun noch häufiger in Flensburg, wenn er 2019 auch Schauspieldirektor am Landestheater geworden wäre. Rolf Petersen hatte noch vor Antritt der neuen Aufgabe um Aufhebung seines Vertrages gebeten, nachdem das Ensemble des Landestheaters einen offenen Brief formuliert hatte, in dem ihm jegliche Theaterkompetenz abgesprochen wurde und der viel Kopfschütteln erntete.

Wohnsitz ist Hamburg

So ist Hamburg der Schauplatz seines Privatlebens. Der 60-Jährige schätzt Radtouren durch das Niendorfer Gehege oder Spaziergänge durch „Hagenbecks Tierpark“. „Ich habe einen guten Freundeskreis, mit dem ich viel unternehme“, erzählt er und ergänzt mit einem Augenzwinkern: „Niemand hat etwas mit Theater zu tun – diesen Ausgleich brauche ich auch mal.“ Die einzige hanseatische Ausnahme, die an seinen künstlerischen Beruf erinnert: Beim niederdeutschen Hörspiel, das Radio Bremen in Koproduktion mit dem NDR in einem Studio an der Elbe produziert, ist Rolf Petersen ein gern gebuchter Sprecher – insofern es die umfangreichen organisatorischen Aufgaben an den zwei Bühnen zulassen.

In Flensburg sucht er Stücke aus, besetzt zusammen mit den Regisseuren die Rollen, und kurz darauf muss er sich als Geschäftsführer mit Verwaltungstätigkeiten, Marketing und Öffentlichkeitsarbeit beschäftigen. Immer im Blick: die Wirtschaftlichkeit und eine schwarze Null. Der Verein bildet mit seinem Vorstand eine Art Aufsichtsrat. Um die persönliche Haftung der Vorstandsmitglieder abzuschaffen, wurde zusätzlich eine gemeinnützige GmbH gegründet.

In den letzten 20 Jahren stand Rolf Petersen selbst so gut wie gar nicht mehr auf der Bühne. Zwei Ausnahmen sind dokumentiert: Im Frühjahr 2006 hatte ihn eine größere Rolle noch einmal ans Ohnsorg-Theater gelockt, sodass die NDB-Leitung in Flensburg vorübergehend in anderen Händen lag. Und in allen Flensburger Spielzeiten musste Rolf Petersen nur einziges Mal aushelfen. Er spielte 2008 bei „Mien Mann, dat Prachtstück“ einen Möbelpacker. Die ursprüngliche Besetzung war gestürzt und hatte sich einen Fuß gebrochen.

Eine plattdeutsche Erfolgsstory

Fünf bis sieben Inszenierungen prägen das Programm einer Spielzeit. So erlebt die NDB in Flensburg etwa 200 Vorstellungen in zehn Monaten. Nur einen Teil davon verfolgt Rolf Petersen selbst. Der persönliche Rekord liegt bei 30 Aufführungen für ein Stück, das ab 2006 zum Highlight in der NDB-Historie wurde: „Barfoot bet an’n Hals“. Dabei waren sich alle anfangs der Sache gar nicht so sicher. Rolf Petersen erinnert sich noch gut, wie eine Mitarbeiterin im Büro ihn nach der Hauptprobe fragte: „Wird es eine gute Premiere?“ Er antwortete damals humorvoll: „Sag den Abonnenten: danach spielen wir noch einen Bauernschwank.“ Er war selbst etwas irritiert. Männer, die sich auszogen, die laute Musik – das neue Stück war so anders als all seine Vorgänger. „Haben wir den Bogen überzogen? Waren wir zu mutig?“, zweifelte der künstlerische Leiter.

Tags darauf verfolgte er gespannt die Premiere im Stadttheater, hatte stets das Publikum im Blick. Wie kommt die neue Inszenierung an? „Als sich der Vorhang zur Applaus-Ordnung wieder öffnete, sprangen 450 Leute von ihrem Platz und applaudierten im Orkan“, erzählt Rolf Petersen mit einem Leuchten in den Augen. „Das hatte ich so noch nie erlebt. Wenn ich an diesen Moment denke, kriege ich immer noch Gänsehaut.“ Stolze 114 Mal wurde „Barfoot bet an’n Hals“ in sechs Jahren aufgeführt. Und das an den verschiedensten Orten. 2008 machte der plattdeutsche Hit auf der Landesgartenschau Schleswig sogar der Fußball-Europameisterschaft Konkurrenz. „Es kamen trotzdem 1200 Leute“, erzählt der NDB-Leiter. „Ins Stück bauten wir immer wieder den aktuellen Zwischenstand beim Fußball ein.“

Richard Wagner und ein ausgefallenes Jubiläum

Er selbst pflegt ein opernaffines Hob­by: Rolf Petersen ist seit Kurzem der Vorsitzende des Richard Wagner-Verbandes von Mecklenburg-Vorpommern. Diese Institution vergibt Stipendien für angehende Musiker nach Bayreuth, organisiert Vorträge zu Leben und Werk von Richard Wagner, ebenso Konzerte. So kommen vier bis fünf jährliche Veranstaltungen zusammen, die Rolf Petersen zusammen mit seinen beiden Vorstandskollegen organisiert.

Vor gut drei Jahren hatte Rolf Petersen ein Jubiläum vorbereitet, das nicht gefeiert werden konnte. Zum 100-jährigen Bestehen der Niederdeutschen Bühne Flensburg stand mit „Lütte Mann, wat nu?“ eine besondere Inszenierung auf dem Spielplan. „Die zweite Hauptprobe war gerade vorbei“, erinnert sich der NDB-Leiter. „Alles fieberte schon der Generalprobe und vor allem der Premiere entgegen, da musste ich vor das Ensemble treten und alles absagen.“ Es war Mitte März 2020, der Corona-Lockdown begann. Was vom Jubiläum blieb, ist eine lesenswerte Chronik, in der die wechselvolle Geschichte der NDB ausführlich wiedergeben wird. Und in den letzten Kapiteln taucht ein Name immer wieder auf: Rolf Petersen.

Szene aus dem Schwank: „Mien Mann, dat Prachtstück“

Text & Fotos: Jan Kirschner, Fotos: privat & Sönke Pencik 

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