Mieses Wetter über Flensburg. Regen, Regen und nochmals Regen. Der Campus ist an diesem Vormittag alles andere als einladend. Der Anblick eines mehrgeschossigen Zweckbaus aus den 80er Jahren verbessert da nicht unbedingt die Laune.
Und ich soll zum Zimmer C206, muss mich dafür durch eine enge, grüne Drehtür zwängen und dann irgendwie ins dritte Stockwerk finden. Aber ich habe Glück, ich werde im Foyer abgefangen – vom Professor persönlich. Von Kai Petersen, einer Koryphäe der Wirtschaftsinformatik.

Eine Pressemeldung aus dem Jahr 2022 hatte uns neugierig gemacht. Dort war zu lesen: Eine aktuelle Studie stellt fest, dass Kai Petersen einer der einflussreichsten Wissenschaftler in der Welt ist.“ Und der forscht und lehrt in Flensburg?
Ja, tatsächlich. Er sitzt mir nun gegenüber. Er wirkt bodenständig, sympathisch und gesprächsbereit – alles andere als abgehoben. Abgehoben klingen für viele aber die Themenbereiche, mit denen sich der Professor beschäftigt: Künstliche Intelligenz (KI) und Software Engineering. Was Kai Petersen sicherlich erdet: Er ist ein Kind der Region. 1979 in Schleswig geboren, in Schuby aufgewachsen. „Dieses Dorf“, erzählt er, „hat sich in den letzten Jahren sehr entwickelt, sodass ich wohl vieles nicht wiedererkennen würde, denn ich war lange nicht mehr da.“

Kai Petersen

Von der Hauptschule auf die Hochschule

In Schuby besuchte er einst die Grundschule und dann – man mag es bei einem Professor kaum für möglich halten – auch die Hauptschule. „Ich habe damals am liebsten die Lehrer gemalt“, verrät Kai Petersen und setzt dabei ein Lausbuben-Lächeln auf. Vielleicht war er auch ein Lausbube, in jedem Fall zunächst kein guter Schüler. Zu seinem Glück öffneten berufsbildende Schulen einen zweiten Bildungsweg. So konnte er pünktlich mit der Jahrtausendwende das Studium der Informatik aufnehmen. Zunächst an der Universität Kiel.

Nach nur einem Semester wechselte der Student an die Hochschule Flensburg. „Dort war bereits mein Bruder Stephan“, erzählt Kai Petersen. „Er hatte schon etwas früher in Flensburg angefangen. Ich versuchte, schnell aufzuholen, damit wir möglichst viel parallel machen und wir gut zusammen mit dem Auto fahren konnten.“ Die Brüder wohnten weiterhin in Schuby. Flensburg lernten sie hauptsächlich in den Freistunden kennen, wenn sich ein Bummel durch die Innenstadt anbot. Und im „Café Central“ hatten die Wirtschaftsinformatiker ihren Stammtisch.

Sein Praktikum absolvierte Kai Petersen in der Friesischen Straße bei einer IT-Firma, die damals damit beauftragt war, einen Chat mit dem DSDS-Star Daniel Küblböck zu moderieren. In seiner Bachelor-Arbeit beschäftigte er sich mit der ökonomischen Produktivität – in Zeiten von Börsen-Crash und zunehmender Digitalisierung.

Kai Petersen
Star Trek Convention Bonn 2006

Studium in Schweden

Einige seiner Kommilitonen schwärmten von der Partner-Hochschule in Karlskrona („Blekinge Institute of Technology“). Kai Petersen kam auf den Geschmack und entschied sich, in Schweden seinen Master anzugehen. Da hatte er schon eine wissenschaftliche Karriere im Blick.
„Mit ein paar Kisten unter dem Arm und nur mit einem Hauptschul-Englisch ausgestattet, kam ich im Studentenwohnheim an“, erinnert er sich. Es war für ihn sehr beeindruckend, wie sich um den Campus ein Industrie-Park mit großen Unternehmen aufreihte und ein sehr praxisnahes Studium ermöglichte.

Magere Englisch-Kenntnisse machten nur anfangs Probleme. Noch in Deutschland hatte sich Kai Petersen eine Akte X-DVD besorgt, um viel Englisch zu hören. Das Vokabular war allerdings nicht immer das passende. Anfangs musste sich der Student aus Deutschland noch jedes dritte Wort von einem Programm übersetzen lassen. Förderlich war der intensive Kontakt mit anderen „Internationalen“, die aus Pakistan, Indien, Polen oder Russland nach Schweden gekommen waren. „Man war gezwungen, Englisch zu sprechen“, erklärt Kai Petersen. „So lernte ich Englisch innerhalb eines halben Jahres.“

Interessant war auch der Austausch mit den anderen. „In Flensburg hatten alle einen ähnlichen Hintergrund, jetzt bekam ich die Geschichten aus der ganzen Welt zu hören“, erzählt Kai Petersen. Er lernte exotische kulinarische Spezialitäten kennen und revanchierte sich mit einem ausgefallenen Kartenspiel: Skat. 2006, nach anderthalb Jahren, war die erste schwedische Mission beendet.
Der Student machte zum Abschluss ein paar Experimente zur Durchführung von Studien und hatte kurz darauf seinen „Master of Science“ in der Tasche.

Kai Petersen
Professor Inauguration 2016 BTH Sweden

Doktor und Professur in Schweden

Seinen Doktor wollte Kai Petersen eigentlich in Essen machen. „Promovieren in Deutschland ist aber so eine Sache“, stellte er fest.
Als wissenschaftlicher Assistent ging etwa 80 Prozent seiner Zeit für den Lehrbetrieb drauf, nur 20 Prozent hatte er für die Forschung. Das war nicht das, was sich das Nordlicht ausgemalt hatte. Kurzum: Der junge Mann brach nach 18 Monaten seine Zelte im Ruhrgebiet ab und ging zurück nach Karlskrona. Beim Unternehmen „Ericsson AB“, das Software-Entwicklung im Telekommunikationssektor betreibt, sah es ganz anders aus.

Kai Petersen konnte sich auf seine Doktorarbeit im Bereich der „agilen Transformation“ konzentrieren. „Ericsson hatte festgestellt, dass man langsamer als die Konkurrenz arbeitete und wollte flexibler wie auch effizienter werden“, erläutert Kai Petersen den Hintergrund seiner damaligen Untersuchungen. Die waren durchaus global. Der schwedische Konzern hatte immerhin fünf Standorte auf drei Kontinenten. Der deutsche Doktorand befand sich hauptsächlich mit Indern im Austausch und präsentierte seine Ergebnisse in internationalen Konferenzen. Dort wurden sie bisweilen zerpflückt, aber waren letztendlich von Gewicht. Die Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Publikationen häuften sich. Bald war klar, dass Kai Petersen mit dieser Arbeit kein „fail“ kassieren konnte.

2010 startete er in Schweden die nächste wissenschaftliche Etappe: den Weg zum Professor. Getreu dem angloamerikanischen System mussten fünf Stufen genommen werden: PostDoc, Industrial PostDo, Assistant Professor, Associate Professor und schließlich Professor. Kai Petersen erklomm diese Leiter in sechs Jahren und tauschte seine Wohnung gegen ein schwedisches Holzhaus, in das seine Mutter sehr gerne zu Besuch kam. Ein Zuckerschlecken war diese Zeit aber nicht. „Ich spürte die hohe Arbeitsbelastung“, erzählt der 44-Jährige. „Außerdem war man abhängig von Fördermitteln. Wenn ein Projekt abgeschlossen war, musste man schon die Förderung für das nächste klar haben. Es kommt in Schweden auch vor, dass ganze Fachbereiche geschlossen und Professoren entlassen werden, wenn kein Geld mehr da ist.“

Kai Petersen
Minneapolis Conference 2006

Rückkehr nach Flensburg

Eine Verbeamtung war in Schweden nicht möglich. Familie und die Freunde der Kindheit verstärkten den Wunsch, nach Deutschland zurückzukehren. Da passte es gut, dass Bruder Stephan eine Stellenausschreibung entdeckte: An der Hochschule Flensburg wurde der Lehrstuhl für Software Engineering frei. Peter Knorr, bei dem Kai Petersen einst studiert hatte, ging in den Ruhestand. Mit seinen internationalen akademischen Titeln bewarb er sich. Bald darauf stellte er sich der Flensburger Bewerbungskommission vor. Professoren, Studierende und Mitarbeiter der Verwaltung befragten ihn. Der Kandidat hielt Probe-Vorlesungen und Fachvorträge. Er reiste zurück nach Karlskrona, fischte nur kurze Zeit im Ungewissen. Denn rasch klingelte das Telefon. Der Vorsitzende der Kommission teilte ihm die positive Entscheidung mit: Zum September 2017 stieg Kai Petersen als Professor für Software Engineering an der Hochschule Flensburg ein. Software Engineering und KI wurden zu seinen Forschungsschwerpunkten, während die Studierenden der Wirtschaftsinformatik das neue Gesicht erst in den höheren Semestern zu Gesicht bekamen.

Kai Petersen gefällt die Mischung aus Forschung und Lehre gut. 18 Semester-Wochenstunden ist er als Dozent tätig.
In den Semesterferien bereitet er das Lehrmaterial und die Übungsbücher für die nächsten Monate vor. Der Rest seiner Arbeitszeit besteht aus Forschung. „Ich sehe es als einen Vorteil für die Lehre, wenn der Professor forscht und so immer die neuesten Informationen erhält.“ Der Flensburger tauscht sich weiterhin hauptsächlich mit seinen früheren schwedischen Kollegen und einem internationalen Netzwerk aus. Die Daten-Analysen mit der Künstlichen Intelligenz faszinieren ihn. „Man arbeitet wie ein Bildhauer“, erklärt er plastisch. „Man modelliert allerdings keine Figur, sondern die Anforderungen für KI so, dass man die richtigen Antworten bekommt.“

Kai Petersen
EASE 2017 Conf presentation

Einflussreicher Wissenschaftler

2022 stellte eine Studie fest, dass Kai Petersen einer der einflussreichsten Wissenschaftler in der Welt sei. Ein interdisziplinäres Forscher-Team durchsuchte dazu die letzten sechs Dekaden und baute eine Datenbank mit den Ergebnissen der unterschiedlichsten Fachbereiche auf. Ferner wurde der Flensburger vom Fachblatt „Journal of Systems and Software“ ausgezeichnet. Die Suchmaschine „GoogleScholar“ weist nach, dass Publikationen von Kai Petersen bereits über 13.000 Mal in anderen Werken erwähnt wurden. Am besten lief die anfangs umstrittene Arbeit von 2008. Dabei half sicherlich auch der prominente schwedische Doktorvater Claes Wohlin. „Es ist nur schwer vorherzusehen, ob eine Studie eine große Relevanz erfährt“, erklärt Kai Petersen. „Es ist wie bei einem Musiker, der keinen Hit vorhersagen kann.“ Das Erfolgsrezept ist wohl die richtige Mischung aus Menge und Qualität.

In den Semesterferien ist er oft in Görlitz. In Sachsen praktiziert sein Bruder Stephan als Arzt, Kai Petersen selbst hat dort seit 2019 einen Zweitwohnsitz. „Damals wohnte ich in Flensburg nur zur Miete und fand nichts Geeignetes“, verrät er. „Aber in Görlitz gab es direkt gegenüber von meinem Bruder eine sehr schöne Wohnung. Da habe ich zugegriffen.“ Er bezeichnet Görlitz als das größte „Flächendenkmal“ in Deutschland, ist verzaubert von der historischen Altstadt, die als „Görliwood“ oft als Kulisse für Film-Crews dient.

Nach Sachsen und zurück reist Kai Petersen mit dem Zug. Er hat gar kein Auto, bei seinen Wegen ist auch keines nötig. Inzwischen hat er am Bahnhof etwas Nettes gefunden. Zu Fuß geht es zur Hochschule, einen Kaffee trinkt er gerne in der Campus-Suite. Der Professor kann auch ganz anders. Inzwischen hat er einen „Mitbewohner“: einen Flügel. Er hat sich Klavierunterricht genommen. Ein weiteres Hobby ist ein Männerbund. Die Schlaraffen bilden einen Ritterstaat mit Thron nach und verbringen die Zeit mit Musik, Humor und Kultur. Kai Petersen schaute zunächst als Pilger vorbei und ist inzwischen Knappe.

Kai Petersen
Am Piano

Kleiner Arbeitsplatz, große Rechner-Kapazitäten

Überdies pflegt er nicht nur eine große Leidenschaft für Wissenschaft, sondern auch für Science Fiction. Die Rückwand der Bürotür ziert ein großes Star-Wars-Poster. Während seines kurzen Ruhrpott-Intermezzos besuchte Kai Petersen mal eine Star-Treck-Convention in Essen. In seinem Büro ist aber wenig Platz für Besucher aus dem All und aus der Nachbarschaft. Umfangreiche Analysen brauchen keinen Saal, sondern hauptsächlich Rechner-Kapazitäten. Große Datenmengen werden auch mal in Gruppen aufgeteilt, um die Computer nicht zu überlasten. Ab und an lässt der Wissenschaftler auch zu Hause ein Gerät laufen. Kürzlich wertete er sieben Millionen englische Tweets im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie aus. KI übernahm die Sprachdaten-Untersuchung und quantifizierte etliche Schlagwörter. Es ging darum, wie Einfluss auf die vorherrschenden Themen in der Bevölkerung genommen wird, wie Öffentlichkeitsarbeit fruchtet oder gesteuert werden kann.

Im Moment widmet sich Kai Petersen intensiv sogenannten Literatur-Studien. Es geht darum, der Studienschwemme in allen Fachrichtungen Herr zu werden. Mit KI werden mehrere Arbeiten klassifiziert und skizziert. Dabei wird die technische Lösung immer wieder optimiert, und zwar mit Vergleichen zu den Eigeneinschätzungen der Autoren und einer Schar von menschlichen Lesern. „KI ist genauer“, ist sich der Flensburger Professor sicher. Mit den schwedischen Kollegen läuft gerade ein kleiner Wettbewerb. Was funktioniert besser? Die Klassifizierung nach herkömmlicher Art oder mit KI? Kai Petersen ist der Protagonist der technischen Seite.

Text: Jan Kirschner
Fotos: Kirschner, privat

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