In unserer Serie „Flensburger Straßen und Stadtteile“ bitten wir Zeitzeugen, uns von ihren ganz persönlichen Erinnerungen zu berichten. In dieser Ausgabe kommt Günter Petersen zu Wort.

Es ist nur der berühmte Katzensprung nach Flensburg. Dennoch bietet Tastrup, die kleine eigenständige Gemeinde vor den Toren der Fördestadt, eine Dorfidylle, die die Landkarte nicht verrät. Die Straßen schlängeln sich an Häusern und Bäumen entlang. Wenn man den Ort schon fast wieder in Richtung Hürup verlassen hat, fällt dem Passanten das Gebäude „Zur Ziegelei 9“ auf: Ein hübsches Haus im Stile der Kaiserzeit. Günter Petersen hatte es 1985 ersteigert, obwohl ihn die Trostlosigkeit konfrontiert hatte. Das Hauptgebäude hatte lange leergestanden und war heruntergekommen. Eine angebaute Bäckerei war abgebrannt und nicht wieder aufgebaut worden. Die Sanierung würde aufwändig werden, dass wusste der gelernte Zimmermann. Aber wahrscheinlich war es genau dieser katastrophale Zustand, der ihn reizte. Schon bald wohnte einer seiner beiden Söhne mit seiner Familie in Tastrup, 2000 zog er selbst mit seiner Frau Renate in das neue Domizil. Unter demselben Dach, in zwei weiteren Wohnungen, leben aktuell zwei weitere Generationen: Zum einen der zweite Sohn, zum anderen die Enkeltochter mit ihrem Freund. „Wir waren schon immer ein Familien-Clan, das Haus war immer voll“, erzählt Günter Petersen, der selbst sieben jüngere Geschwister hatte.
Seine Leidenschaft für das Handwerk zieht sich durch das gesamte Haus und über das ganze Grundstück. Den Teich, in dem viele Goldfische und auch einige Kois schwimmen, zieren Wasserrad, eine Meerjungfrau, und mehrere Wasserspiele. Auf dem Garagendach sprießt ein Vegetationsteppich. In der großen Wohnküche ist das Sofa der Lieblingsplatz. Von dort kann der 79-Jährige auf das Vogelbad blicken, das sich an den Wintergarten anschließt. Im Rücken dehnt sich ein großes Aquarium aus. Ein Hobby seit Kindesbeinen. Der Sammler-Instinkt zeigt sich am Schreibtisch, über dem etliche alte Pfeifen hängen. Man glaubt, den Duft von Tabak zu riechen.

Hühner und Räucherei

Der Tastruper befindet sich nur offiziell im Ruhestand. Er ist zu gerne draußen und viel im Garten unterwegs. Durch einen mit Wein bewachsenen Gang gelangt man zum Terrassenbereich, in dem auch schon mal ein Storch gelandet ist. Nun sorgen mehrere Hühner und zehn Küken, eines davon im schwarzen Kleid, für Getümmel. Und ein Hahn: „Der kräht schon mal um 4 Uhr, aber das ist kein Problem – wir sind ja auf dem Land“, schmunzelt Günter Petersen. In seiner Werkstatt präsentiert er einen Schrank mit etlichen Petroleumlampen. „Die repariere ich weiter, wenn mal schlechtes Wetter ist“, sagt er und erklärt: „Um 1900 hatte man in Tastrup noch keinen Strom, da hatten alle Bauernhöfe solche Lampen.“
Ein überdachter Grill ist der gesellige Hotspot. Zu Ostern war die Familie zum Frühstück eingeladen. In einem Nebenraum dreht sich alles um die Räucherei. Ein befreundeter Schlosser hatte einst den Ofen installiert, nun freut er sich immer mal wieder über ein paar Scheiben Schinken. Zu Weihnachten türmen sich hier Aal, Forelle oder Schinken – alles geräuchert. Es gab auch schon mal Auerhahnbrust aus Schweden. Günter Petersen experimentiert gerne, zeigt dabei auf eine 100 Jahre alte Wurstpresse. Er freut sich, wenn Nachbarn und Freunde seine Erzeugnisse mit dem Prädikat „So wie es Oma gemacht hat“ bewerten.

Tastrup um 1900

Einige sehr alte Bilder existieren vom Grundstück „Zur Ziegelei 9“. Zur vorletzten Jahrhundertwende führte Jacob Lorenzen eine Gastwirtschaft in einem Reetdachhaus. Dieses war nur wenige Jahre später verschwunden. 1903 entstand das Gebäude, dessen Grundzüge bis in die heutige Zeit erhalten geblieben sind. Ein Blick in die Chronik gibt Johannes Diedrichsen als ersten Besitzer aus. Der Bäckermeister und Gastwirt war von großer, schlanker Gestalt und trug eine blonde Perücke. Ein paar Jahre später war er plötzlich verschwunden, nachdem er in Flensburg 2400 Mark abgehoben hatte. Selbst Hamburger Zeitungen berichteten über diesen Vorfall.
Die Nachfolger von Johannes Diedrichsen betrieben ein Café, an dem die Dampfloks vorbeischnauften. In Tastrup befand sich eine Bahnstation der Kleinbahnstrecke von Flensburg nach Satrup, die 1901 eröffnet und 1938 bereits wieder eingestellt wurde. Damals gehörte Tastrup als eigenständige Gemeinde dem Amt Adelby an. Nachdem zwischen 1970 und 1974 die anderen Orte an Flensburg abgetreten worden waren, schloss sich Tastrup dem Amt Hürup an.

Kindheit in Mürwik und in der Neustadt

Günter Petersen wurde 1940 in der Gerhart-Hauptmann-Straße, ganz in der Nähe des Stadions, geboren. Er kann sich noch erinnern, wie er in die Straßenbahn stieg und mit zahlreichen anderen Dreikäsehochs bis zur Bismarckstraße fuhr, wo er Flensburgs ersten Kindergarten besuchte. 1945, als der Zweite Weltkrieg endete, war der Vater Vorarbeiter bei der Werft.
Die Familie zog auf die andere Seite der Förde in die Terrassenstraße. Die Stichstraße der Apenrader Straße lag in der Nachbarschaft des Straßenbahn-Depots. Das erste, was auffiel: Die große, breite Treppe. Ihr Rhythmus von zehn recht flachen Stufen und fast ebenen Zwischenflächen reizte die amerikanischen Soldaten.
„Die haben sich einen Spaß daraus gemacht, im Jeep die Treppe herunterzufahren“, erzählt Günter Petersen. „Wir Kinder sind im Winter mit den Schlitten runtergerast – über die Apenrader Straße hinweg in die nächste Einfahrt. Über den Autoverkehr mussten wir uns noch keine Gedanken machen, den gab es fast gar nicht.“ Damals wurde viel auf der Straße gespielt.
Als 1959 der jüngste Bruder Helmut geboren wurde, lebten kurzzeitig acht Kinder unter einem Dach. Zwei Etagenbetten standen in einem kleinen Zimmer.
„An jedem Ende schlief einer – so passten vier in ein einziges Bett“, erinnert sich Günter Petersen an die bescheidenen Verhältnisse seiner Jugend. Der Vater hatte drei Gärten an der Grenzlandkaserne. Sein ältester Sohn erzählt: „Im Blockwagen transportierten wir auf dem Hinweg den Mist der US-Pferde, auf dem Rückweg dann die Ernte. Ich erinnere mich an riesige Kürbisse.“
Er besuchte die nahegelegene Dänische Schule, die damals in der Petrischule untergebracht war. 1958 entstand ein Neubau im Alten Kupfermühlenweg. Günter Petersen steckte da bereits in seinem dritten Lehrjahr und durfte beim Richtfest seinen ersten Richtspruch aufsagen. Seit 1955 war „Steffensen & Sohn“ sein Lehrbetrieb. Eine Traditionsfirma, die damals in der Angelburger Straße saß und zuletzt in Kauslund, wo heute die Wohnmobile stehen.

Ein junges Paar zieht nach Kattloch

Der gerade ausgelernte Zimmermann lernte seine Renate kennen. Sie arbeitete bei einer Bäckerei in der Apenrader Straße. Eine Kollegin hatte einen Freund, der wiederum Günter sehr gut kannte. Schnell wurde aus beiden ein Paar, das im April 1961 heiratete. Gefeiert wurde im Gasthaus in Ekebergkrug bei Thumby. Dort lebte ihre Familie seit der Flucht aus Pommern. Das junge Paar bezog ein Zimmer im neuen Haus seiner Eltern. Im Wachtelhof an der Bauer Landstraße erblickte am zweiten Weihnachtstag 1961 Sohn Gerd das Licht der Welt.
Das Eigenheim rief, die Wohnungssuche lief. „Einmal mussten wir in der Norderstraße in einem Hinterhof eine Hühnerleiter hoch, das ging gar nicht mit Kinderwagen“, berichtet Günter Petersen.
„Ein Makler zeigte uns dann ein uraltes Haus in Kattloch, das damals Teil der kleinen Ortschaft Sünderup war.“ 1000 Quadratmeter umfasste das Grundstück. 20.000 D-Mark mussten berappt werden.
Eine große Summe für einen 21-jährigen Gesellen, der nur 1,76 D-Mark die Stunde verdiente. Der nette Mann von der Stadtsparkassenfiliale in Ahnebylund half – und auch der Flüchtlingsausweis mit der Abkürzung „A“ von Renate. Die junge Familie war so von der Grunderwerbssteuer befreit. Günter Petersen stellt klar: „Für das Haus haben wir auf einiges verzichtet, zum Glück war die wirtschaftliche Entwicklung gut.“
Die Petersens hatten lange Zeit kein Auto. Der junge Familienvater fuhr von der Flensburger Westseite mit dem Rad nach Sünderupfeld, zum neuen Wohnsitz im Kattloch 20, und nahm im Karren wichtige Dinge mit. Erworbene Balken wurden am Rahmen des Fahrrads festgebunden. Freunde und Firmen lieferten das Gros des Materials mit dem Lastwagen an. Es musste fast alles erneuert und umgebaut werden. Sechs kleine Zimmer erhielten neue Zuschnitte, wurden teilweise zusammengefasst. Als Stube und Bad fertig waren, erfolgte der Einzug.
Danach wurde während des Feierabends oder am Wochenende weiter gewerkelt. Ein Freund, der als Bäcker ab dem Nachmittag immer viel Zeit hatte, unterstützte tatkräftig und wurde zum Freund des Hauses.
Später wurde das Dachgeschoss auf dem Hinterhaus aufgesattelt, der Raumbedarf stieg. 1964 wurde ein zweiter Sohn geboren, 1966 Tochter Beate, die allerdings als Kind tödlich verunglückte. Die Mutter und Oma von Renate Petersen bekamen ebenfalls ein Heim im Familienhaus. „Das war praktisch“, erzählt Günter Petersen mit einem Lächeln. „So war immer jemand zu Hause und konnte auf die Kinder aufpassen.“

Ländliches Leben am Stadtrand

Alltag kehrte in Kattloch ein. Von einem Bauern wurde auf der anderen Straßenseite Land für einen Gemüsegarten gepachtet. Die Kinder marschierten zur Schule in Adelbylund, wo sich auch die Gemeindeverwaltung befand. Die Tante-Emma-Läden der Familien Hoppe und Warenholz in Sünderup hatten das Nötigste im Angebot. Nach 13 Jahren Bauzeit bog der Hausbau endlich auf die Zielgerade ein. Günter Petersen fertigte ein Schild an und befestigte es über der Eingangstür. „Kattloch“, stand darauf. Der Ortsname gefiel.
Das Schild war eine echte Qualitätsarbeit und hängt noch immer. Verschwunden ist allerdings der Schuppen der Bauhof-Mitarbeiter. Er wurde nicht mehr gebraucht. Tarup und Sünderup mit dem Ortsteil Kattloch schlossen sich am 24. März 1974 der Stadt Flensburg an. Wo einst die Gemeindearbeiter ihre Gerätschaften aufbewahrten, steht heute ein schickes Einfamilienhaus. Dahinter ragt das neue Einkaufszentrum aus dem Boden. Vor fünf Dekaden war die Eisenbahnbrücke der Strecke von Flensburg nach Kiel das markanteste Bauwerk der Gegend. „An Geräuschen und Gerüchen stört man sich nur zuerst, später fallen sie dann gar nicht mehr auf“, erzählt Günter Petersen. Schlimmer sei es gewesen, als in den 70er Jahren das Müllkompostwerk den Ausbau des alten Schotterwegs nach Tastrup zur Ringstraße erforderte und der Verkehr dadurch stark zugenommen hätte.
Die Petersens feierten schöne Feste im Garten. Eine Nachbarin schaute fast täglich vorbei. Obwohl Kattloch nun zu Flensburg gehörte, dominierte am Stadtrand weiterhin der ländliche Charakter. Eine Begebenheit, die sich während der Schneekatastrophe 1978/79 ereignete, ist in bester Erinnerung geblieben. Auf der Ringstraße waren mehrere Laster in den Schneewehen steckengeblieben. Ein Fahrer kämpfte sich zu Fuß bis zum ersten Haus von Kattloch durch und klingelte bei der Familie Petersen. Sie lud ihn zu sich in die Stube ein, ein zweiter Fahrer wurde durch das Fenster hereingewunken. Einige alte Kameraden von der Feuerwehrwache Sünderup machten sich auf den Weg zu den eingeschneiten Autos, landeten letztendlich aber bei Petersens. Es entwickelte sich ein kurzweiliger Tag, am Stromausfall und an den Schneeverwehungen störte sich niemand mehr. Einige Wochen später bedankten sich die Kraftfahrer mit einem Glückschwein und einer Buddel.

Die Erfahrungen eines Poliers

Günter Petersen war nun als Bauleiter tätig – freiberuflich für diverse Firmen. „Immer wenn eine Baustelle fertig war, hatte ich schon die nächste“, denkt der ehemalige Polier zurück an volle Auftragsbücher. Besonders beschäftigt hatte ihn die Baustelle des „Café Kö“, das in den Hang des Sandbergs gebaut werden musste. Ein Gutachter hatte im Vorfeld keine Bedenken gehabt. Doch plötzlich wirkten die Kräfte des Hanges und lösten einen Grundbruch aus. Das Wasser flutete die Baustelle. „Wenn das nachts passiert wäre, dann wäre der ganze Sandberg abgerutscht“, kräuselt der damalige Schock noch immer die Haare von Günter Petersen. „Wir mussten uns nach diesem Zwischenfall ein Jahr lang mit der Senkung des Wasserspiegels beschäftigen.“
Auch mit dem Soldatenheim in Kielseng und der Stadtsparkasse am Südergraben „baute“ er sich in die Stadtgeschichte Flensburgs. Als Günter Petersen zurück in ein normales Beschäftigungsverhältnis kehrte, war er für die dänische Firma „Larsen & Nielsen“, ständig nach Hamburg unterwegs. Dort erzählten ihm einmal Kollegen von einer Studie: „Bauleiter haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von 56 Jahren.“ Das Nordlicht antwortete dem beruflichen Stress auf seine Art und ging schon mit 56 Jahren in den Ruhestand.
Danach beschäftigten sich Günter Petersen und seine Frau Renate mit dem Umzug von Kattloch nach Tastrup. „Ein Haus soll man in Ruhe verkaufen“, dachten sie sich. Ein Jahr sollte es dauern. Da genoss das Ehepaar bereits die Ruhe von Tastrup. Doch Flensburg nähert sich. Durch den stetigen Ausbau des Ortsteils Sünderup dehnt sich der Stadtrand aus. Bereits 2007 gab die Gemeinde Tastrup eine erste Fläche an Flensburg ab, damit sie sich in ein Wohngebiet wandeln konnte. Auf dem Grundstück „Zur Ziegelei 9 “ regiert aber nach wie vor die ländliche Idylle.
Text Jan Kirschner, Fotos: Jan Kirschner, privat

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