Rüstungsminister Albert Speer war am 3. Mai 1945 erst seit wenigen Stunden in Flensburg, als er zum Reichspostgebäude chauffiert wurde. Am Norderhofenden geleitete man die NS-Größe in den zweiten Stock, wo im bisherigen Erfrischungsraum für weibliche Beamte ein Mikrofon aufgestellt war. Um 19.30 Uhr, nur wenige Minuten zuvor, hatte diese provisorische Radiostation ihren Betrieb aufgenommen. Ihr großspuriger Name: „Reichssender Flensburg“. Zwischen 20.21 und 20.38 Uhr schrillte an diesem Abend in Flensburg das Geheul der Sirenen. Dieses war zu hören, als Albert Speer redete. In seiner Ansprache deutete er das baldige Kriegsende und die aussichtslose Lage für das Deutsche Reich an. „Es ist der einzige Sinn des Kampfes, der jetzt noch geführt wird, deutsche Menschen, die vor der Sowjetarmee auf der Flucht oder von ihr bedroht sind, nicht sterben zu lassen“, sagte er und fügte mit viel Pathos an: „Diese letzte Pflicht in dem Heldenkampf Deutschlands muss unser Volk, das alle Leiden des Krieges so tapfer getragen hat, auf sich nehmen.“
Der „Reichssender Flensburg“ war die letzte verbliebene Stimme der NS-Propaganda. Als Ableger des Hamburger Rundfunks erhielt er erst wenige Stunden zuvor diesen Bedeutungszuwachs, als britisches Militär das Funkhaus an der Elbe besetzt hatte. Blitzschnell entstand in der Nachbarschaft des verbliebenen NS-Regimes ein Provisorium – mit Mikrofon und kleinem Plattenarchiv. Und im Hof des Postgebäudes stand ein Übertragungswagen der Kriegsmarine. Von dort wurden das Programm und die Verlautbarungen der Dönitz-Regierung zum „hölzernen Eiffelturm“, zum Sendemast in Jürgensby, übertragen und von dort über eine Mittelwellen-Frequenz landesweit ausgestrahlt. Der Hörerkreis des „Reichssenders Flensburg“ war vermutlich begrenzt. Viele Menschen besaßen kein Radio mehr oder hatten kein Strom. Zudem war die Sende-Qualität bescheiden.

Schützengräben und 300 Schiffe
Während große Teile des Deutschen Reiches bereits von den Alliierten besetzt waren, hatten sich Großadmiral Karl Dönitz und viele weitere NS-Akteure nach Flensburg zurückgezogen. Im hohen Norden gaben noch SS und die Wehrmacht den Ton an. Die Zufahrtswege zur Stadt waren mit Panzersperren gesichert und Schützengräben waren ausgehoben, Sprengladungen wurden an Brücken und Eisenbahnschienen installiert. Teile der Hitler-Jugend bereiteten sich als „Werwolf“ auf Partisanen-Aktionen vor. Täglich rollten Munitionszüge durch die Stadt zum Marinestützpunkt Mürwik. Beobachter staunten über die 300 Dampfer und Frachter im Hafen: „Vor dem Krieg und bis gegen Ende war er verödet, heute liegt er gestopft voll von Schiffen.“ Keine Frage: Standort-Kommandant Wolfgang Lüth war zur bedingungslosen Verteidigung Flensburgs entschlossen.
Die Kulisse der vermeintlichen Festung war allerdings beklemmend und Ausdruck einer Hoffnungslosigkeit. Zehntausende Ost-Flüchtlinge und rund 2000 misshandelte KZ-Häftlinge waren auf See und Schienen eingetroffen. Örtliche Apotheker riefen zu Sammlungen von Verbandsstoffen für die vielen Lazarette auf. Die Lebensmittel wurden knapp. Es regierte eine „Endzeit-Stimmung“, als Albert Speer sich auf den Weg zum Flensburger Reichspostgebäude machte. Für seine Rede hatte er grünes Licht von Hitler-Nachfolger Karl Dönitz und ein paar Anregungen von Reichsfinanzminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk bekommen. Es ging deshalb auch um den Wiederaufbau und um Antworten auf die Lebensmittelknappheit. Albert Speer schloss mit „Gott schütze Deutschland“. Kurz darauf traf er auf Heinrich Himmler, der im benachbarten Polizeipräsidium Quartier bezogen hatte. Der Reichsführer-SS schimpfte: „Diese Rede war schädlich, man könnte aus ihr schließen, dass wir die Gebiete kampflos und ohne Gegenleistung überlassen würden.“
Eine „geschäftsführende Reichsregierung“
Er wollte weiterhin eine führende Rolle spielen. Albert Speer wusste mehr, führte er doch in diesen Stunden im Mürwiker Hauptquartier etliche Gespräche mit Karl Dönitz und Lutz Graf Schwerin von Krosigk über eine „Geschäftsführende Reichsregierung“. Sie wurde am 5. Mai 1945 gebildet – als „Grundlage für den neuen Aufbau, falls der Feind nicht eine andere Form der Regierung und Verwaltung vorsieht“. Der langjährige Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop oder der NS-Chefideologe Alfred Rosenberg wurden nicht mehr berücksichtigt. Ebenso Heinrich Himmler, der wegen unzähliger Kriegsverbrechen von den Alliierten gesucht wurde.
Im Polizeipräsidium rief er während einer Besprechung ein „unantastbares Deutschland von Flensburg bis zur Eider“ aus. Karl Dönitz enthob ihn schließlich aller Ämter. „Er ist für den Feind als Verhandlungspartner in der jetzigen Situation völlig indiskutabel“, meinte der Großadmiral. Heinrich Himmler tauchte mit neuer Identität ab, wurde noch in der Gastwirtschaft „Schwarzer Walfisch“ und in Ausacker gesehen, ehe er in der Lüneburger Heide von den Briten gefasst wurde und Suizid beging. Auch ohne ihn war das neue Kabinett eine Ansammlung von NS-Ministern und NSDAP-Größen. Albert Speer war nun nicht mehr Rüstungsminister, sondern Reichswirtschafts- und Produktionsminister. Der neue Reichsinnenminister Wilhelm Stuckart war ein Teilnehmer der „Wannsee-Konferenz“, Herbert Backe blieb Ernährungsminister, und Julius Dorpmüller hatte als Verkehrsminister die Juden-Transporte mit der Reichsbahn zu verantworten.
Kriegsende in Norddeutschland
Am 4. Mai unterzeichnete Hans-Georg von Friedeburg, der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, im Auftrag von Karl Dönitz die Teilkapitulation für die Truppen in Norddeutschland. Sie trat tags darauf um 8 Uhr in Kraft. Nur 16 Stunden vor dem Ende der Kampfhandlungen warfen fünf Tiefflieger acht Sprengbomben über dem Flugplatz Schäferhaus ab. Zwei Soldaten starben, eine Reparaturhalle und drei Flugzeuge wurden zerstört. Es war der letzte Luftangriff auf Flensburg, das als „offene Stadt“ seit dem 4. Mai nicht mehr verteidigt werden sollte. Der Flensburger Wilhelm Clausen schrieb in sein Tagebuch: „In der Bevölkerung atmete alles auf; denn eine Verteidigung der Stadt mit ihren Flüchtlingen und Verwundeten hätte sehr große Opfer gefordert, ohne dass das Schicksal des Reiches dadurch gewendet worden wäre.“
In Flensburg herrschte nun eine Frage vor: Wann kommen die Engländer? In der Bevölkerung war eine Mischung aus Furcht, Neugier, Verzweiflung und Erleichterung zu spüren. Viele Familien fanden in Lauben der Kleingartenkolonien oder im Umland Unterschlupf. Einige waren ausgebombt, andere hatten Angst vor den Besatzern. Wolfgang Lüth, Nazi durch und durch, forderte: „Alle Soldaten und die Zivilbevölkerung sind sofort darauf hinzuweisen, dass es mit der aufrechten Haltung eines deutschen Menschen und dem Stolz eines Nationalsozialisten nicht zu vereinbaren ist, wenn der vordringende Feind durch Tücherwinken oder ähnliche Handlungen begrüßt wird und Zigaretten oder Schokolade von ihm angenommen wird.“
Erste englische Soldaten in Flensburg
Erstes britisches Militär tauchte am 5. Mai 1945 am Flugplatz und dann in der Stadt auf. Einige jugendliche „Werwölfe“ waren mit einem Karren voller Waffen in der Angelburger Straße unterwegs und wunderten sich, dass plötzlich eine Kolonne von Lastwagen und Panzern über den Süderhofenden rollte. Von der Teilkapitulation hatten die fanatisierten Jungen nichts mitbekommen. Auf dem Schießplatz im Twedter Feld wurden fast zeitgleich drei deutsche Matrosen erschossen. Sie hatten auf einem deutschen Kriegsschiff die Kompassanlage außer Kraft gesetzt, um das Auslaufen zu einem Einsatz im Baltikum zu verhindern. Im Protokoll ließ das Gericht notieren: „Die deutsche Kriegsmarine muss und wird anständig aus dem Krieg hervorgehen.“
Ein britischer General nahm Verbindung zu Ernst Kracht auf. Der Oberbürgermeister blieb vorerst im Amt. Erst tags zuvor hatte er eine Sitzung im Kollegiensaal des Rathauses mit den Stadträten gehabt. Er und einige Sachbearbeiter informierten über Versorgung, Energie und Transport, um mit „Missverständnissen und Geschwätz von Wichtigtuern“ aufzuräumen. Mühlen, Bäckereien, Meiereien und weitere Lebensmittel-Produzenten standen an erster Stelle bei der Stromversorgung. Der Einzelhandel wurde angewiesen, keine Lebensmittelmarken zu bedienen, die nicht in Flensburg ausgestellt worden waren.
Karl Dönitz beim „Reichssender Flensburg“
Zwei englische Nachrichtensoldaten trafen ebenfalls am 5. Mai in Flensburg ein. Sie begutachteten die technischen Anlagen des „Reichssenders Flensburg“ und begaben sich zur Nachtruhe ins Bahnhofshotel auf der anderen Straßenseite. Das Programm ging weiter. Ingenieur Ernst Thode hatte die Sendeleitung inne. Panzerspähfunker Karl Kahlenberg, ein gelernter Zeitungsredakteur aus der Nähe von Berlin, und ein Marine-Obergefreiter aus Stuttgart fungierten als Sprecher. Die Texte und Nachrichten kamen direkt vom Oberkommando der Wehrmacht. Dazu gesellten sich aktuelle Hits, Marschmusik, Klassik und Operettenlieder. Und hin und wieder ließ sich eine NS-Größe blicken. Karl Dönitz war am 5. Mai 1945 abends im Flensburger Reichspostamt und ließ eine Ansprache aufnehmen, mit der er sich an alle deutschen Schiffs- und U-Boot-Besatzungen richtete. Er beschwor den Mythos der „sauberen“ Wehrmacht, ihre Soldaten hätten „makellos“ und „heldenhaft“ gekämpft. Um Mitternacht wurde die Rede wiederholt, nachdem der „Reichssender Flensburg“ die Teilkapitulation verkündet hatte.
Am 6. Mai erklang Orgelmusik in der Nikolaikirche. Im Hauptquartier in Mürwik empfingen Karl Dönitz und seine ranghöchsten Regierungsmitglieder den General Eberhard Kinzel, um ein Treffen von Hans-Georg von Friedeburg und Generaloberst Alfred Jodl mit den Westmächten in Reims vorzubereiten. Das Ziel: eine erweiterte Teilkapitulation. Die Flensburger Bevölkerung bereitete sich bereits auf Frieden vor. Eifrige Hände beseitigten die Panzersperren. Oder war der Brennstoffmangel der motivierende Motor? Die Faschinen aus Tannenreisig und auch die Baumstämme eigneten sich bestens für die Holzöfen.
Die Kapitulation im Rundfunk
Am Abend herrschte Bestürzung bei der nach Reims entsandten deutschen Delegation. Der oberste US-General Dwight D. Eisenhower bestand auf eine „gleichzeitige, bedingungslose Übergabe an allen Fronten“ und drohte mit neuen Bombardierungen und einer Schließung der Grenze nach Osten. Der 7. Mai 1945 war erst eine Viertelstunde alt, als Alfred Jodl aus Nordfrankreich an Karl Dönitz funkte: „Ich sehe keinen anderen Weg als Chaos oder Unterzeichnung.“ Aus Flensburg kam die Vollmacht für die Kapitulation, die am 9. Mai 1945 um 0.01 Uhr deutscher Sommerzeit in Kraft treten sollte.
Am 7. Mai traf um 10.55 Uhr der genaue Wortlaut der Kapitulationsbedingungen in Flensburg ein. Keine zwei Stunden später begab sich Lutz Graf Schwerin von Krosigk zum „Reichssender Flensburg“. Der leitende Minister sprach ins Mikrofon: „Wir Deutschen haben von allen Völkern der Erde am stärksten erlebt, was der Krieg schon jetzt in seiner Vernichtung aller Kultur bedeutet hat. Unsere Städte sind zerstört, unsere Kulturdenkmäler in Dresden und Nürnberg, in Köln und Bayreuth …“ Die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg fand keine Erwähnung. Das Regierungsmitglied versuchte aber, den Alliierten eine Hand auszustrecken. Es hieß: „Die Achtung vor geschlossenen Verträgen soll uns ebenso heilig sein wie das Gefühl der Zusammengehörigkeit unseres Volkes zur europäischen Völkerfamilie, als deren Glied wir alle menschlichen, moralischen und materiellen Kräfte aufbieten wollen, um die furchtbaren Wunden zu heilen, die der Krieg geschlagen hat.“

Am nächsten Vormittag verbreitete sich eine Nachricht wie ein Lauffeuer im Post- und Fernmeldeamt: „Dönitz kommt! Dönitz wird sprechen!“ Gegen Mittag rollte eine Fahrzeugkolonne in den Posthof. Die Angestellten luscherten durch die Fenster. Karl Dönitz verschwand mit seinem Stab im Mittelaufgang. Er wirkte angeschlagen. Am 8. Mai 1945 um 12.30 Uhr kündigte der Großadmiral über den „Reichssender Flensburg“ das unmittelbare Kriegsende an. „Um dieses Ziel zu erreichen, habe ich in der Nacht vom 6. zum 7. Mai dem Oberkommando der Wehrmacht den Auftrag gegeben, die bedingungslose Kapitulation für alle kämpfenden Truppen auf allen Kriegsschauplätzen zu erklären“, sagte er. „Am 8. Mai um 23 Uhr schweigen die Waffen.“
Das Ende vom „Reichssender Flensburg“
Am 9. Mai 1945 trat die Verordnung in Kraft, dass Deutschen jegliche publizistische Tätigkeit untersagt war. Beim „Reichssender Flensburg“ wurde sie nicht sofort umgesetzt. Klaus Kahlenberg war abends auf Sendung. Er sagte: „Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen. Auf Befehl des Großadmirals hat die Wehrmacht den aussichtslos gewordenen Kampf eingestellt. Damit ist das fast sechsjährige heldenhafte Ringen zu Ende. Es hat uns große Siege, aber auch schwere Niederlagen gebracht. Die deutsche Wehrmacht ist am Ende einer gewaltigen Übermacht ehrenvoll unterlegen. Wir brachten den Wortlaut des letzten Wehrmachtsberichts dieses Krieges. Es tritt eine Funkstille von drei Minuten ein.“ Nach der kurzen Sendepause läutete Klaus Kahlenberg die Nachkriegszeit mit einer Instrumentalversion des Deutschlandliedes ein. Er wollte sich von Hörern verabschieden, doch ein Offizier mit der Bezeichnung „Nachrichtenführer Reich“ hatte seine Pistole gezogen.
Am 10. Mai beschlagnahmte die britische Besatzungsmacht die Sendeeinrichtungen. Ein britischer Offizier markierte die Eingangstür mit Kreide: „Reserved for Information-Control“. Mitteilungen hatten ab sofort die britische Zensur zu passieren. Dennoch konnte Generalfeldmarschall Ernst Busch am 11. Mai über den Sender das Kommando für die noch existierenden deutschen Truppenteile und zivilen Dienststellen beanspruchen. Die westlichen Alliierten waren irritiert. Scharfe Kritik kam von der sowjetrussischen Nachrichtenagentur TASS: Die Autorisierung durch Briten war offenbar unzureichend.
Am 13. Mai 1945 um 10.45 Uhr erschien ein englischer Offizier in Begleitung von Soldaten und empfahl Betriebsleiter Ernst Thode, die Sendung sofort einzustellen. Dann baute er das Steuerelement aus, versiegelte den Starkstromanschluss und entfernte die Sende- und Verstärkerröhren. Aus dem Hauptquartier von Dwight D. Eisenhower kam zwei Tage später die Meldung: „Der Sender Flensburg ist von einer alliierten Kommission übernommen worden, um einer Wiederholung unautorisierter Rundfunksendungen wie die Ansprachen von Dönitz und Busch vorzubeugen. Die alliierte Kommission wird in Zukunft stärkste Kontrolle auf die Dönitz-Verwaltung ausüben.“
Text: Jan Kirschner