Der 14. Juni 1945 war eigentlich ein Feiertag. Der britische König Georg VI. hatte Geburtstag. Öffentliche Gebäude flaggten mit dem Union Jack. Behörden und Geschäfte hatten geschlossen. Offiziell herrschte „Arbeitsruhe“. Mit der Ruhe war es in Flensburg aber schnell vorbei. Am Morgen war der Blick vom Westufer auf die andere Seite der Förde zunächst wie immer: ein extrem frequentierter Hafen. „Man kann ja von Schiff zu Schiff bis nach Dänemark gehen“, scherzte man. Um 8.10 Uhr plötzlich ein anderes Bild. „Über der Stadt erhob sich eine feurige Wolke in Gestalt eines mächtigen Ballons“, berichtete ein Augenzeuge. „Nach einigen Sekunden erfolgte ein gewaltiger Knall, dass die Fenster erzitterten und Türen aufsprangen.“

In der Flensburger Innenstadt waren die Schäden beträchtlich. Am Holm waren praktisch alle Schaufenster zerstört. Am Südermarkt waren einige Dächer ramponiert, einige Teile lagen auf der Straße. Was war passiert? „Munitionsdepot in die Luft geflogen“, meldete die Berufsfeuerwehr kurz und knapp. Es war ein Inferno, das mehr Todesopfer forderte als jeder Bombenangriff während des Weltkriegs auf Flensburg. Auf den Straßen spekulierte man über die Ursache. War es ein „Sabotage-Akt“?

Flensburg 1945 Folge 8: Schwere Explosion, schwerer Alltag
Explosionstrichter in Kielseng

Mehrere Explosionen in Kielseng

Der Feuerherd war ganz klar Kielseng. Dort befand sich an der Spitze des Freihafens ein U-Boot-Stützpunkt, der seit einigen Wochen als Sammelplatz für Granaten, Minen und Wasserbomben diente – als Folge der deutschen Demilitarisierung. An diesem Morgen war alles ein wenig anders – wegen des Feiertags. Die britischen Lastwagen, die regelmäßig Munition abfuhren, kamen an diesem Morgen nicht nach Kielseng. 80 deutsche Soldaten traten dennoch zum Dienst an und wurden auf verschiedene Gruppen verteilt. 15 Mann waren damit beschäftigt, Kartons mit Flak-Munition von einem ungeordneten Haufen in ein Lagergebäude zu schleppen. Plötzlich setzte ein heftiger Regenschauer ein. Während der kurzen Pause entdeckte ein 19-jähriger Maschinengefreiter im Gebäude eine offene Kiste mit ihm unbekannten Brandzündern. Neugierig nahm er einen in die Hand und wunderte sich: Der Kopf war locker. Das beobachtete der danebenstehende Oberfähnrich und befahl, ihm das sonderbare Stück auszuhändigen.

Der Vorgesetzte versuchte offenbar das lockere Teil mit dem Brandkörper zu verschrauben. Der junge Gefreite sollte seine Arbeit wieder aufnehmen und hatte sich ein paar Meter entfernt, als ihn eine Explosion an die nächste Wand schleuderte. Auch andere Kameraden lagen am Boden, teilweise mit Sprengsplittern in Bauch und Beinen. Umringt von mehreren Brandherden und dichtem schwarzen Rauch. Das Lager stand binnen Kürze in Flammen und fiel dann in sich zusammen. Fünf Minuten später explodierte der ungeordnete Munitionsstapel vor dem Gebäude.

100 Meter weiter lagerten 900 Wasserbomben. Deren Detonation erschütterte die ganze Stadt. Einzelsprengstücke gingen in Engelsby herunter. Einige Marineschiffe wurden stark beschädigt und kenterten. Vom Hafenspeicher wurde eine Ziegelwand heruntergerissen. Auf dem Hang zum Volkspark wurden die Bäume abrasiert. Die Druckwelle der Detonation raste auch über die Innenförde. In einer Halle der Werft war eine U-Boot-Besatzung untergebracht. Die großen Scheiben des Waschraums zersplitterten und verwundeten die Hälfte der Männer. Die Unverletzten wurden kurz darauf von einer Barkasse abgeholt und beim Silo auf der anderen Hafenseite abgesetzt, um bei den Bergungsarbeiten eingesetzt zu werden. Ihnen boten sich schockierende Bilder: Verstümmelte und verschmorte Leichen lagen weitverstreut auf dem Gelände. Die als Behelfsquartier für Flüchtlinge abgestellten Eisenbahnwaggons waren völlig zerstört.

Umfangreiche Hilfseinsätze

Etliche Hilfskräfte waren bereits vor Ort. Schon um 8.20 Uhr hatten 35 Mann des dritten Polizei-Reviers das Gebiet abgesperrt und begannen mit der Erkundung. Drei Gruppen der Feuerschutzpolizei waren bis in die Abendstunden mit dem Ablöschen der Brandstelle beschäftigt. Die Mannschaft eines britischen Zerstörers und ein britischer Marine-Stab arbeiteten mit dem deutschen Personal Hand in Hand. Ab 10.25 Uhr bewegte sich ein Lautsprecherwagen durch Flensburg. Die Meldung: „Die entstandenen Schäden sind sofort zu beseitigen und die Straßen von Glassplittern und Trümmern zu säubern.“ In wenigen Stunden waren in der Innenstadt die meisten Schaufenster vernagelt und die Straßen saubergefegt. 15 Kräfte des Luftschutz-Instandsetzungsdienstes waren mehrere Tage auf der Suche nach Verschütteten. Recht bald fanden sie zwei Frauen und ein Kind, dann nur noch Leichen. Die Kriminalpolizei registrierte insgesamt 88 Tote, 212 Schwerverletzte und 167 Leichtverletzte. Der geschätzte Sachschaden außerhalb des Marine-Stützpunktes: vier Millionen Reichsmark.

In jenen Tagen hatte kein Flensburger Bestattungsunternehmen einen Kraftwagen. Daher wurden die Leichen mit Lastwagen der Polizei zum Friedhof „Friedenshügel“ transportiert. Dort war für den 20. Juni um 10.30 Uhr die Gedenkfeier angesetzt. Die Anteilnahme Flensburgs war sehr groß. In einem riesigen Grab lagen – mit Grün und Kränzen bedeckt – 53 Särge. Darin befanden sich 28 deutsche Soldaten, 14 Zwangsarbeiter aus der Ukraine und Polen sowie elf Zivilisten, darunter auch Kinder. Marine-Angehörige standen als Ehrenwache um die viereckige Grube. Nach den gedämpften Klängen eines Streichorchesters sprachen zwei Pfarrer, der Flensburger Oberbürgermeister und ein britischer Fregatten-Kapitän.

Aufbau einer „freien demokratischen Verwaltung“

Dieses Unglück hatte die Neuordnung des Alltags für einige Tage unterbrochen. Dann dominierten wieder die Signale, die die britische Militärregierung sendete. Anfang Juli 1945 fanden erstmals seit fast 13 Jahren freie Wahlen in Flensburg statt. Es beteiligten sich die britischen Soldaten an den Parlamentswahlen. Die deutsche Bevölkerung kam noch nicht wieder in den Genuss einer Demokratie. Die britischen Generäle gaben Befehle aus, die einige deutsche Funktionsträger an ihre Landsleute vermittelten.

Einer der ersten Schritte war eine „freie demokratische Verwaltung“. Seit dem 16. Mai hatte Flensburg einen neuen Oberbürgermeister. Angeblich soll eine Befragung von Passanten auf dem Holm den passenden Kandidaten ergeben haben: Jacob Clausen Møller, Kaufmann und Stadtrat der dänischen Minderheit. Er verdiente sich schnell Respekt bei den Briten, die ihn bisweilen als „Dr. Muller“ betitelten. Er galt als volksnah. Überliefert ist eine seiner ersten Amtshandlungen, als der Oberbürgermeister bei einer Familie im Südergraben klingelte und sich bei einem Kaffee nach den Bombenschäden erkundigte. Wenige Tage später war das Dach repariert und die Fenster neuverglast.

Arbeitsteilung im Flensburger Rathaus

Jacob Clausen Møller war der erste Repräsentant der Stadt und für Hauptamt, Personalamt, Polizei, Bauwesen und Finanzen zuständig. Er hatte zwei Bürgermeister an seiner Seite. Christian Carsten Christiansen, ein Kaufmann und Fabrikant, widmete sich hauptsächlich den Wirtschaftsfragen, Kriegsfolgen und Liegenschaften. Friedrich Drews stammte aus der Arbeiterbewegung und kümmerte sich um Bildung, Kultur und Wohlfahrtspflege. Baurat Martin, Kämmerer Schumann und Dr. Karding als Chef des Wohnungsamtes komplettierten den ersten Flensburger Magistrat der Nachkriegszeit.

Flensburg war in diesen Tagen ein besonderes Kon­glomerat. Es galt mit inzwischen mehr als 100.000 Einwohnern als „jüngste Großstadt Deutschlands“. Neben der angestammten Be­völkerung zählte man tausende Flüchtlinge. Dazu kamen entlassene Wehrmachtssoldaten, viele Zwangsarbeiter aus Osteuropa, die nicht so einfach in ihre Heimatländer zurück konnten, und KZ-Häftlinge. Zudem war Flensburg die „Stadt der Lazarette“. Bei Kriegsende hielten sich rund 10.000 Verwundete und Versehrte im hohen Norden auf. Der Arzt Dr. Werner Kuntze bot im Deutschen Haus ehrenamtlich eine Berufs- und Rechtsberatung für dieses Klientel an und regis­trierte überfüllte Sprechstunden.

Flensburg 1945 Folge 8: Schwere Explosion, schwerer Alltag
Oberbürgermeister Jacob Clausen Möller; Foto: JCMF

„Jeder hungert, keiner verhungert!“

Das Leben der meisten Menschen war bescheiden. Feldmarschall Bernard Montgomery hatte eine Ansprache an die Bevölkerung gerichtet und die obersten Ziele genannt: Nahrung, Obdach und Gesundheit. Aber selbst diese Grundversorgung war keine Garantie und verlangte viel Aufwand. So waren am 20. Juni 1945 alle städtischen Dienststellen geschlossen – wegen der Ausgabe der neuen Lebensmittelkarten. Die Lage war angespannt. Es hieß: „Jeder hungert, keiner verhungert!“ Die Stadtverwaltung bemühte sich, überschüssige Magermilch aus Angeln zu bekommen. Doch es mangelte an Milchkannen. Es musste viel improvisiert werden: Die Kinder hatten noch keinen Unterricht, wurden aber ab und an klassenweise zusammengerufen, um Heilpflanzen und Früchte für Tee, Marmelade und Apotheken zu sammeln. Das städtische Kulturamt organisierte eine Sonderausstellung am Holm: „Hausgetränke von heimischen Gewächsen“.

Die vier Wirtschaftsämter in Flensburger fertigten täglich 2000 Antragsteller ab, die persönlich vorstellig wurden. Als einmal ein Mann das Personal „umlegen und aus den Knochen Kleiderbügel machen“ wollte, wurde er von der Menge gebändigt. Die allermeisten Menschen warteten offenbar diszipliniert auf die Bezugsscheine. „Die lauten Schreier und Rabiaten bekommen auch nicht mehr!“, betonte ein Beamter. Allerdings gab es im Mai und Juni ohnehin kaum etwas. Im Juli konnten Anzugsstoffe zumindest im Verhältnis eins zu drei bewilligt werden, und im August gab es sogar Bettwäsche und Frauenschuhe.

Maßnahmen gegen den Schwarzmarkt

Großer Andrang herrschte bei der amtlichen Tauschzentrale, die zwei Schaufenster bei „Hansen & Co“ am Holm belegte. Dort konnten Privatpersonen benötigte Gebrauchsgüter aus zweiter Hand erwerben. Ein Sachverständiger taxierte Werte der Kleidung und Schuhe. Es handelte sich um eine legale Alternative zum Schwarzmarkt, der unterbunden werden sollte, aber dennoch nicht gestoppt werden konnte. Wer allerdings erwischt wurde, musste mit drastischen Strafen rechnen.

Im August 1945 wurde ein Ehepaar, das mit britischen Soldaten Radiogeräte und Kameras gegen Lebensmittel und Zigaretten tauschte, mit der Ware handelte und überdies eine Pistole besaß, zu fünf Jahren Haft verurteilt. Die Regeln waren streng. Es war ein nächtliches Ausgangsverbot verhängt – von 22 bis 5 Uhr. Für unerlaubte Aufenthalte im Freien verhängte das Gericht der Militärregierung Gefängnisstrafen von zwei Wochen bis zwei Monaten. Und das kam gar nicht so selten vor.

Die schwere Aufgabe des Wohnungsamtes

Die größten Einschränkungen bereiteten sicherlich die sehr beengten Wohnverhältnisse. Oft lebten Fremde zusammen. Streit um Schrank oder Kochtopf blieben nicht aus. Das Flensburger Wohnungsamt schickte Kontrolleure – zumeist Lehrer und Mitglieder des Theaters – los, um „die volle Wahrheit“ zum Grad der Belegung zu erfahren. Gerecht ging es nicht immer zu. Der Rechtsanwalt Dr. Christian Ravn mäkelte: „In letzter Zeit hat das Wohnungsamt wiederholt Räume bei Angehörigen der dänischen Minderheit beschlagnahmt, obwohl sicherlich in deutschen Heimen, insbesondere bei früher hervorgetretenen Nazisten, mit geringer Beschwer für die Wohnungsinhaber Zimmer beschlagnahmt werden könnten.“

Bisweilen drängten sich Wohnungssuchende zu Hunderten in den Gängen des Wohnungsamtes. Die Vertreter der Stadtverwaltung schüttelten meistens mit dem Kopf: „Wir sind ausverkauft – es sind keine Räume mehr bekannt, in die Flüchtlinge einziehen könnten.“ Die große Not mussten Baracken-Lager lindern. Im Juli 1945 lebten 3800 Personen in 18 provisorischen Unterkünften, die zu einer längerfristigen Lösung wurden. Flensburg verhängte einen Aufnahmestopp. „Im Hinblick auf die bestehenden Unterbringungsschwierigkeiten ist der Zuzug in die Stadt untersagt“, erklärte der Oberbürgermeister. „Wer ohne Genehmigung nach Flensburg kommt, kann nicht mit der Zuweisung von Wohnraum oder Lebensmittelkarten rechnen.“ Hoffen taten es dennoch einige.

Flensburg zu Dänemark?

Auf große Gegenliebe stießen die Neuankömmlinge oftmals nicht. Sie wurden als „Gäste des Führers“, als „Fremde“ oder als „preußische Flüchtlinge“ bezeichnet. Einige Zeitgenossen schimpften gar: „Die Bekanntschaft mit den Flüchtlingen hat mich überzeugt, dass ich nicht zu Deutschland, sondern zum Norden gehöre.“ Diese Problematik wie auch die wirtschaftliche Not und die eigene Gesinnung entfachten praktisch mit Kriegsende eine neue Debatte um die Grenzziehung. Am 8. Juni 1945 sprach sich die Flensburger Arbeitergemeinschaft für den Anschluss ans dänische Königreich aus. Zwei Wochen später hatten rund 10.000 Bürger einen Aufruf unterzeichnet: „Wir erklären hiermit, dass wir loyale Bürger des dänischen Staates sein wollen und dass wir uns von Herzen bemühen wollen, auch unsere Kinder zu dieser Gesinnung zu erziehen.“

Den Briten blieb diese Bewegung nicht verborgen. Am 11. Juli hatte Bürgermeister Christian Carsten Christiansen eine Vorladung bei Major Nicholls. Der interessierte sich für die Urheber der Aufrufe und bat darum, die Polizei einzuschalten – nicht als Druckmittel, sondern um „die wahre Stimmung in der Bevölkerung festzustellen“. Dabei herrschte nördlich der Grenze ein ganz anderer Tenor. „Dänemarks Grenze liegt fest, eine Grenzverschiebung nach Süden ist nicht beabsichtigt“, teilte die erste dänische Nachkriegsregierung mit. Das Elend südlich der Grenze schreckte offenbar ab – und auch andere Vorbehalte. „Wir Dänen sind tatsächlich Demokraten“, dachten einige. „Die Deutschen hingegen sind es seit der Völkerwanderung nicht mehr gewesen und werden es auch nie mehr sein, da ihnen seit geraumen Jahrhunderten die natürliche Veranlagung dazu fehlt.“

Die Rückkehr von Straßenbahn und Bussen

In Flensburg war man über jeden kleinen Fortschritt froh. Ab Mitte Juni gab es wieder einen zivilen Reichs­postdienst. Bald wurde auch das Reisen wieder etwas freizügiger. Am 16. Juli 1945 – ein schöner Sommertag – tauchte erstmals in der Nachkriegszeit am ZOB ein Omnibus auf. 40 Passagiere warteten bereits auf das graue Fahrzeug, das um exakt 8.15 Uhr abfuhr. Das Ziel: Neumünster. Die Reisedauer: stolze vier Stunden. Ab dem 27. August gehörte die Straßenbahn wieder zum vertrauten Stadtbild. Zwischen Ostseebadweg und Mürwik tingelte zunächst nur ein Wagen mit Anhänger – im Berufsverkehr aber immerhin im Zehn-Minuten-Takt.

Was nach dem Unglück vom 14. Juni 1945 ein treuer Flensburger Begleiter blieb, war die Angst vor einer erneuten Detonation. Nicht ohne Grund: Im Norden Deutschlands befand sich weiterhin viel Munition. Stetig wurden Schiffswracks und Unterwasserminen gesprengt. Die lauten Knallgeräusche am 15. August zu später Stunde schreckten einige Menschen kurz auf, hatten aber einen harmlosen Grund. Ein Feuerwerk erhellte das Gebiet über Hafen und Marineschule Mürwik. Scheinwerfer formten am Himmel das Wort „Victory“. Die Briten feierten die Kapitulation Japans. Nun war der Zweite Weltkrieg wirklich beendet.

Text: Jan Kirschner 

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