Dieses Haus befindet sich in einer Stichstraße auf der Westlichen Höhe – und gewiss abseits von Lärm und Stress. Der Besucher steht nach dem Durchschreiten des Eingangs direkt vor einer Tür, die mit ein paar Noten verziert ist. Dahinter verbirgt sich ein Zimmer, wie man es sich für einen Musik-Profi vorstellt: Flügel und Cembalo, etwas versteckt eine silbrige Stereoanlage älteren Jahrgangs. An den Wänden hängen viele Gemälde mit Komponisten. In Längsrichtung steht ein Schreibtisch – für die organisatorischen Dinge. Das Telefon klingelt: Für die Probe einer bekannten Konzertreihe ist etwas zu regeln. Die Blicke des Gastes schweifen derweil zum Bücherregal. Der Name „Mozart“ steht auf vielen Titeln. Es gibt aber auch eine Festschrift, die das Wirken des Gastgebers würdigt. Matthias Janz ist Kirchenmusiker und Dirigent und dank seiner Passion seit inzwischen 50 Jahren mit Flensburg verwurzelt.

Im Lebenslauf taucht allerdings auch ein Vierteljahrhundert ohne Fördestadt auf; denn Matthias Janz wurde 1947 in Lübeck geboren. In der Hansestadt, die sehr unter den Bombenangriffen des Weltkrieges gelitten hatte, lebte er die ersten sechs Jahre der Kindheit. Dann wollte der Vater, ein Pastor, seiner Frau und den vier kleinen Kindern vermutlich eine andere Umgebung bieten und übernahm eine Kirchengemeinde in Altenau. Die kleine Stadt im Oberharz erschien in den Kinderaugen als eine heile Bergwelt mit viel Schnee und Wintersport. Langlauf und Skispringen waren die Klassiker.

Die Musik in die Wiege gelegt
Innerhalb der privaten Wände dominierte die Musik. In der sechsköpfigen Familie spielten alle mindestens ein Instrument und pflegten das gemeinsame Singen. „Meine Mutter war Grundschullehrerin und hatte eine sehr schöne Stimme“, erzählt Matthias Janz. „Bevor ich zur Schule kam, konnte ich bereits Flöte spielen und Noten lesen.“ In der Schulzeit kamen Klavier und Violoncello hinzu, später Posaune. Spannend war auch die große Kirchenorgel. Eines Tages, mitten im tiefen Winter, brach sich ausgerechnet die Organistin den Arm. „Mein Vater fragte mich, ob ich einspringen könnte“, erinnert sich Matthias Janz. „Ich spielte aber ohne die Fußpedale.“ Das war in dieser besonderen Situation ausreichend. Davon inspiriert legte er schnell eine Prüfung ab und bediente mit 14 Jahren in der Kirche die Orgel, während sein Vater predigte.

Eine andere Anekdote dreht sich um einen Jungen, der vor dem Radio auf einen Stuhl stieg und zu etlichen Sinfonien dirigierte. So war früh klar, dass sich Matthias Janz nach seinem Abitur 1966 den musischen Künsten widmen würde. Er schrieb sich zunächst in Göttingen ein und studierte Musikwissenschaften und Theologie. Recht bald folgte Station zwei: Heidelberg. „Das war eine tolle Universitätsstadt“, schwärmt Matthias Janz. „Es ist immer anregend, etwas anderes zu sehen.“

Volle Konzentration auf das Studium der Musik
Es war aber auch die Zeit der Studenten-Unruhen. Am Neckar gehörten Demonstrationen und Polizei-Einsätze mit Wasserwerfern für viele Gleichaltrige fast schon zum Alltag, für den Norddeutschen allerdings nicht. „Als Soziologe war so etwas vielleicht ein Teil des Studiums, ich habe mich aber auf die Musik konzentriert“, betont er. Kirchenmusik, Gesang und Dirigieren prägten den persönlichen Kanon der Musikschule. Und dann war da eine junge Frau: Eva-Maria, eine verzückende Sopranistin. „In Heidelberg habe ich mein Herz verloren“, verrät Matthias Janz. Das junge Paar machte nicht nur zusammen Musik, es baute auch eine Familie auf. 1974 wurde Sohn Tobias geboren. Wohnort war damals Karlsruhe. Der junge Absolvent hatte nach kurzen Engagements in Frankfurt, Heidelberg und Stuttgart eine erste Stelle in der Kirchengemeinde Durlach als Kantor und Organist angetreten.

Der Weg nach Flensburg
Als Organist gehörte Matthias Janz zu den Protagonisten eines Weihnachtskonzerts in Würzburg. Danach saßen alle bei einem Gläschen Wein oder einem Bier noch für eine Weile beisammen. Dabei erzählte ein Kollege, dass eine Kirchengemeinde einen Organisten und Chorleiter suchen würde, und zwar in Flensburg. „Wo ist denn das? Das kenne ich ja gar nicht“, dachte Matthias Janz und war drauf und dran, sich einer Möglichkeit zu verschließen. Zufällig saß die Tochter des Flensburger Diako-Rektors mit am Tisch. Sie hatte es in den Süden verschlagen, brach aber eine Lanze für den hohen Norden: „Zu dieser Kirchengemeinde gehört der Bach-Chor – und der ist ganz hervorragend.“

Vielleicht doch interessant, dachte Matthias Janz. Da seine Frau – wie er – auch in Norddeutschland aufgewachsen war, schickte er eine Bewerbung ab. Und siehe da: Er gehörte zu den vier Kandidaten, die für ein Orgelkonzert und eine Chor-Probe nach Flensburg geladen wurden. Sein Bruder setzte sich ins Publikum und schnappte zufällig eine eher entmutigende Behauptung auf. „Die Stelle ist ja schon vergeben“, tuschelten die Leute. „Es gibt einen Abiturienten vom Alten Gymnasium. Und der bisherige Chorleiter, der nach Hannover geht, wird ihn bei den großen Auftritten unterstützen.“

Matthias Janz plagten andere Zweifel. Er war zwar älter als der Flensburger Abiturient, aber er war auch erst 28 Jahre alt. „Ist er vielleicht zu locker und zu jung für den seriösen Kirchenchor?“, fragte er sich. Der Bach-Chor sollte letztendlich entscheiden – und der sprach sich für den Bewerber aus Karlsruhe aus. Es ging also in den hohen Norden. Als davon Professor Helmuth Rilling, der einstige Lehrer an der Musikhochschule Frankfurt, erfuhr, schüttelte dieser mit dem Kopf: „Was willst du da oben in der Kulturwüste? Gibt es da mehr als grüne Wiesen und Kühe?“

Die Anfänge in Flensburg
Matthias Janz hatte die Neugier auf das Neue gepackt. Er und seine Familie zogen 1975 in das Haus des Organisten ein. Nach zwei Jahren kam Tochter Ine zur Welt. Die Vorführungen im Deutschen Haus und in der Marienkirche hatten ihren Reiz. Das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach entwickelte sich zum alljährlichen Klassiker. Lediglich die Orgel entsprach nicht ganz den Vorstellungen. Ihr Klang war bescheiden, und sie war nicht immer zuverlässig. Matthias Janz kaufte schließlich das Wohnhaus, wodurch die Gemeinde genug Einnahmen für eine Neuanschaffung genierte. Ab 1983 erklang in der Marienkirche eine „wundervolle“ Marcussen-Orgel. Und den Organisten hatte die Stadt Flensburg da bereits mit dem Kulturpreis und dem Titel „Kirchenmusikdirektor“ bedacht.

Matthias Janz schlug weitere Wurzeln in Schleswig-Holstein. An der Musikhochschule Lübeck unterrichtete er von 1978 an zunächst in den Fächern Orgel und Chorleitung und danach im Fach Oratorien-Gestaltung. 1991 wurde er vom Land Schleswig-Holstein zum Professor ernannt. Zeitzeugen beschrieben ihn als locker, unkompliziert, schnörkellos, aber doch fordernd. 1993 übernahm der Flensburger den Landesjugendchor Schleswig-Holstein – für 28 Jahre. Die Nachwuchsförderung liegt ihm bis heute am Herzen. „Es ist für mich beglückend, wenn ich das, was ich liebe und gelernt habe, an junge Menschen weitergeben kann“, erklärt er. Mit einem Schmunzeln erzählt er von der anfänglichen Kritik, als er in Flensburg eine Jugendkantorei einrichtete: „Eine mitsingende Oberstudienrätin meinte tatsächlich: Da muss man sich schon morgens mit den Gören herumschlagen, und jetzt kommen sie auch noch zum Bach-Chor.“ 1997 erhielt er – nicht zuletzt wegen seiner Verdienste um die Nachwuchsförderung – das Bundesverdienstkreuz.

Eine besondere Reise nach Polen
Qualität spricht sich herum – und setzt sich durch. 1985 hatte Matthias Janz bei einem Probe-Dirigat gesiegt und leitete seit 1985 auch den Symphonischen Chor Hamburg. Die Zahl der Konzerte nahm zu und erhielten zunehmend einen internationalen Touch. Paris, Orleans oder Rouen – Frankreich stand häufiger im Kursbuch. „Flensburg ist schön, liegt aber auch abseits“, erklärt das Nordlicht die vielen zurückgelegten Kilometer. „Schon Hamburg ist nicht mehr um die Ecke.“

Mit dem Bach-Chor ging es 1979 erstmals nach Polen, in besonderer Erinnerung blieb eine kleine Osteuropa-Tournee acht Jahre später. Nach einer Aufführung der Johannes-Passion im Theater von Olszytyn begaben sich Chor und Orchester ins vorher gebuchte Hotel. Aber das war schon so gut wie voll: eine ärgerliche Doppelbuchung. Die Gäste aus Deutschland mussten in der Hotel-Lobby und in den wenigen verbliebenen Zimmern die Nacht überstehen.
Zum Glück wartete auf die übernächtigte Reisegesellschaft am nächsten Tag kein Auftritt, sondern nur der Transfer nach Warschau. Dort kündigte sich für den Abend darauf das nächste Konzert an: Der polnische Rundfunk übertrug. Matthias Janz betrat mit den Gesangssolisten die Bühne, verbeugte sich vor dem Publikum und drehte sich um. Er traute seinen Augen nicht: Das Orchester war präsent, aber der Chor fehlte. Die Organisatoren hatten vergessen, die Sängerinnen und Sänger zu informieren. „Ich bin nach draußen gegangen und habe den Chor in den weitläufigen Gängen der Hochschule gesucht“, erinnert sich der Dirigent. „Irgendwann kam er mir auf den Treppen entgegen.“ Mit Verspätung konnte der Auftritt beginnen.

Konzerte in Übersee, Europa und in der Grenzregion
Als Organist und Cembalist konzertierte Matthias Janz in vielen Ländern Europas, in Südafrika und in den USA. Er war auch als Gastdirigent tätig. 1986 trat er in Tondern, Sonderburg und Lögumkloster mit verschiedenen dänischen Chören auf. Die bis heute andauernde Zusammenarbeit mit dem „Sønderjyllands Symfoniorkester“ entstand. Der „Messiah“ von Georg Friedrich Händel ertönte in der Nikolaikirche. Manch Flensburger fragte sich: Warum nicht in der Marienkirche? Und: Wo ist der Bach-Chor? Gemeinsame Konzerte boten sich an. Sie wurden zu einer deutsch-dänischen Tradition.

2006 feierte der Bach-Chor sein hundertjähriges Bestehen. Dieses Jubiläum begleiteten Diskussionen über Sparmaßnahmen der Kirche. Die Idee für ein Stadtkantorat mehrerer Kirchengemeinden stand im Raum. Der Bach-Chor wollte seine Eigenständigkeit behalten. Matthias Janz konnte nicht gekündigt werden. Aber es war klar, dass es mit seinem Ruhestand keine Neubesetzung gegeben hätte. Der Bach-Chor entschied sich für eine Vereinslösung und verpflichtete Matthias Janz als Chorleiter auf Lebenszeit. „Es ist ein schöner Beruf, um alt zu werden“, betont der Dirigent. „Musik ist mein Hobby, das ich zum Beruf machen konnte.“ Sein schwedischer Kollege Herbert Blomstedt ist bereits 98 Jahre alt.

Kein Ruhestand in der Musik-Branche
Den Lehrstuhl in Lübeck hat Matthias Janz zwar abgegeben, aber auch so ist er viel zwischen Sonderborg und Elbe unterwegs. Neben dem Bach-Chor leitet der 78-Jährige noch ein Ensemble junger Musiker und den Symphonischen Chor in Hamburg, wo er einmal die Woche aufschlägt. Zuletzt gab es einen zusätzlichen Termin. Für die Weihnachtszeit kündigen sich drei Konzerte im Michel vor 2000 Leuten an. Da müssen schon im Sommer Absprachen getroffen werden.

Höhepunkte sind nach wie vor die Chorwochenenden. Früher dienten das Schloss Salzau oder das Nordkolleg Rendsburg als musikalisches Domizil, jetzt ist es die Nordseeakademie Leck. Zwei Übernachtungen mit Abendessen und Frühstück verstärken den sozialen Kitt. „Der Bach-Chor ist wie eine große Familie“, weiß Matthias Janz. Die eigene Familie genießt einen hohen Stellenwert. Dazu gehören inzwischen vier Enkelkinder. Zwei kicken ambitioniert im Nachwuchsbereich, weshalb der Musiker gerne auch mal am Fußballplatz steht und mitfiebert. Ein anderer Enkel hat das Cello des Großvaters übernommen. Der Senior geht gerne mal in den Keller ans Fitness-Gerät und fährt Rad. Sonst dreht sich aber alles um die Musik, die Passion, Profession und Hobby gleichermaßen ist. Reisen führen zu den Salzburger Festspielen oder zum Bayreuther Opernhaus. Im Auto laufen Klassik oder Kirchenmusik. „Pop höre ich nicht“, sagt Matthias Janz. „Aber jeder soll das hören, was er möchte – da bin ich tolerant.“

Das Gespräch endet. Der Dirigent möchte eine vielseitige Partitur weiter studieren. Mit einem Schmunzeln erzählt er eine Weisheit: „Wenn man einen Tag nicht übt, merkt man es selbst, bei zwei Tagen hören es die Fachleute, und bei drei Tagen merkt es das Publikum.“ Die nächsten Konzert-Ereignisse stehen bevor. Das große Festkonzert zu seinem 50-jährigen Chorleiter-Jubiläum liegt aber bereits hinter Matthias Janz. Am 31. Mai dirigierte er den Bach-Chor durch die monumentale h-Moll-Messe, spornte das Orchester gleichermaßen zu fulminanten Höchstleistungen an und erntete von den 1500 Plätzen im Deutschen Haus stehende Ovationen. Mit einem Lächeln sagte Matthias Janz: „Es ist ein großes Glück, dass ich den Bach-Chor seit 50 Jahren leiten darf.“
Text: Jan Kirschner
Fotos: privat, Jan Kirschner















