Simon Pytlick verstand die Welt nicht mehr. Nein, das musste die falsche Medaille sein. Sie war doch gar nicht goldig, sondern nur silbern. Die neue dänische Königin Mary war für das Endspiel der Handball-Europameisterschaft nach Köln gereist und nahm nun an der Siegehrung teil. Sie sollte ihren Landsleuten die Medaillen umhängen, doch sie hatten nicht die erhoffte Prägung. Die Dänen waren favorisiert, verloren aber das Finale mit 31:33 gegen Frankreich. „Mir fehlen die Worte, jetzt gehen wir mit einem schlechten Gefühl nach Hause“, sagte Simon Pytlick. Der 23-Jährige, seit Sommer eines der Rückraumasse der SG Flensburg-Handewitt, bildete während des Turniers zusammen mit Linkshänder Mathias Gidsel und Kreisläufer Magnus Saugstrup ein „magisches Dreieck“, dem ein goldener Abschluss versagt blieb.
Auf der Rückfahrt befand sich im Gepäck noch die Enttäuschung. Es dauerte ein paar Tage, die letzten Wochen einzuordnen. Für Simon Pytlick war es die erste Europameisterschaft, sein Aufstieg in den letzten Jahren kometenhaft. Wie bei jedem Handballer waren die Anfänge klein, bei ihm vielleicht sogar besonders klein. Denn sie sind mit einer kleinen dänischen Insel verbunden, die ein wenig an das bilderbuchhafte Lummerland erinnert. Simon Pytlick stammt von Thurö, einem kleinen Eiland in der dänischen Südsee, das keine acht Quadratkilometer misst und keine 4000 Einwohner zählt. Eine Brücke stellt die Verbindung her zur großen Nachbarinsel Fünen.
Handball-Gene
In seiner Kindheit probierte der heutige Handball-Profi viele Sportarten aus. Er schwamm, trainierte Kickboxen, machte auch mal Gymnastik und spielte Fußball. „Beim Handball“, erzählt er, „war ich schon mit in der Halle, als ich sehr klein war. Da hatte ich eigentlich keine Wahl und fing bereits mit drei Jahren an.“ Der runde Ball war ihm praktisch mit in die Wiege gelegt worden. Vater Jan war ein sehr bekannter Handball-Trainer, der das dänische Frauen-Nationalteam bei den Olympischen Sommerspielen 2000 und 2004 zu Gold führte, Mutter Berit Bogetoft war Nationalspielerin. Auch seine beiden Schwestern wurden vom Handball-Bazillus infiziert. Camilla, die ältere, spielte in der ersten Liga bei Holstebro, musste aber aufgrund einer Verletzung aufhören. Josephine, die jüngere, steht beim dänischen Zweitligisten Hadsten unter Vertrag. Wenn Bruder Simon mal nach Hause kommt, wird natürlich viel über Handball gesprochen. „Wir haben aber auch ganz andere Themen“, verrät er. „Mit meinem Vater diskutiere ich manchmal über Fußball. Er ist für Manchester City, ich für mehr Tradition und Manchester United.“
Simon Pytlick begann auf Thurö mit dem Handball. Für die kleine Insel war er aber schon sehr bald zu gut. Er wechselte bereits mit zwölf Jahren nach Fünen zu GOG und bekam das Trikot mit seiner Nummer zwei – das einzige Trikot, das passte. „Der Verein lebt von vielen Talenten, guten Trainern und einer Zusammenarbeit mit einer Schule in Oure“, erzählt der 23-Jährige. „Außerdem hat GOG einen familiären Zusammenhalt, was sehr förderlich ist.“ So kommt es vor, dass die Liga-Spieler den Nachwuchs trainieren. Zum Beispiel Lasse Möller, der sich heute bei der SG die linke Rückraum-Position mit Simon Pytlick teilt. Der Kollege von heute war einst der Co-Trainer der A-Jugend von GOG.
Kometenhafter Aufstieg
Mit dem dänischen Top-Verein gewann Simon Pytlick die dänische Meisterschaft und drang ins Viertelfinale der europäischen Champions League vor. Im Januar 2023 erlebte er mit der Weltmeisterschaft sein erstes Großturnier, gewann auf Anhieb Gold und war sogar Mitglied des All-Star-Teams der Weltmeisterschaft. Das große Talent hatten viele Vereine im Blick, die SG war schneller. Schon Ende 2021 hatte Lars Christiansen, damals Chefscout der SG, angeklopft. Der Vertrag bei GOG war aber noch eine zu hohe Hürde. Ende 2022 folgte ein gutes Gespräch mit dem damaligen Trainer-Team, also mit Maik Machulla und Mark Bult. „Es gab auch Kontakte zu anderen Vereinen, ich hatte aber sofort ein gutes Gefühl mit der SG“, verrät Simon Pytlick. „Ich sprach auch mit Emil Jakobsen, den ich schon von GOG kannte und mit dem ich ein Zimmer im Nationalteam teilte.“
Schließlich wechselte Simon Pytlick in Begleitung zweier GOG-Weggefährten, nämlich Coach Nicolej Krickau und Kreisläufer Lukas Jörgensen, im Sommer nach Flensburg. In seiner neuen Wahlheimat lebte er sich schnell ein. „Hier gibt es wirklich viele schöne Plätze und Cafés“, erzählt der Handballer. „Ich war schon häufiger mal mit der Familie oder auch mit einem Schulausflug in Flensburg gewesen. Ich wusste aber nicht, dass es so viele nette Ecken gibt.“
Neue sportliche Heimat
Der Transfer-Hammer der Bundesliga sorgte in der neuen sportlichen Umgebung durchaus für Furore, zahlte bisweilen aber auch Lehrgeld. Ende Oktober ein doppelter Tiefpunkt: Simon Pytlick verletzte sich am Fuß, musste mehrere Wochen pausieren und verließ eine Reise mit der Mannschaft vorzeitig. Bei der Rückkehr nach Flensburg hatte das Hochwasser das Erdgeschoss im Etagenhaus überschwemmt. „Ich wohne zwar im vierten Stock, aber der Strom war im ganzen Haus ausgefallen“, erzählt der 23-Jährige. „Ich war dann ein paar Tage bei meinen Eltern auf Thurö, bis wieder alles funktionierte.“ Dann begann er mit seiner Reha, stieg im Dezember wieder in das Mannschaftstraining ein und gab kurz vor Weihnachten sein Comeback bei der SG. Rechtzeitig, um auf den dänischen Zug zur Europameisterschaft aufzuspringen.
Text und Fotos: Jan Kirschner