Im Wacholderbogen wird gebuddelt. Die Kanalisation wird erneuert, Glasfaser kommt. Für die Anwohner ergeben sich teilweise neue Wege zu ihren Häusern, manchmal durchaus mit sportlichem Charakter. Für Lothar Raasch stellen diese kleinen Einschränkungen kein Problem dar. Er ist trotz seiner 72 Jahre eine sportliche Natur, spielte lange Zeit Handball und Tennis und sieht nun in Golf eine neue Herausforderung. In der Region bekannt wurde er hauptsächlich mit Wirtschaftsthemen. Er war insgesamt 35 Jahre für die Industrie- und Handelskammer tätig und somit an der Entwicklung Flensburgs beteiligt.
Lothar Raasch ist ein echter Flensburger Jung. Am 16. Juni 1948 wurde er in der Brixstraße geboren, doch bereits fünf Jahre später zog die Familie an den Nettelbeckplatz in Fruerlund. Dort, wo sich heutzutage der neugestaltete Willy-Sander-Platz ausdehnt, existierten damals Kneipe, Lebensmittelladen, Milchmann, Schlachter und Bäcker. Mittendrin der Friseur Aloysius Raasch. Die Eltern betrieben einen angesehenen Salon, der in seinen besten Zeiten über zehn Mitarbeiter hatte. Für den Filius war der hintere Bereich am interessantesten: Dort lag ein Raum, in dem man nur die Stühle an die Wände schieben musste – und es war genug Platz für eine Tischtennis-Platte. Am Samstagabend ging es mit Freunden oft um Punkte in der „Bundesliga“ oder „Regionalliga“.
Sport war für Lothar Raasch schon in der Jugend eine Leidenschaft. Der Parkplatz eignete sich aufgrund des noch geringen Autoverkehrs als Fußball-Manege. Oder es wurde im nahen Stadion gekickt. Still und heimlich träumte der Junge von einer Profi-Karriere. „Meine Eltern waren gar nicht begeistert, ich sollte mich mehr um die Schule kümmern“, verrät Lothar Raasch. „Und so bin ich zum Handball gekommen.“ Der Vorteil: Der Trainer hieß Bernd Kuchenbecker, war einst Feldhandball-Weltmeister, nun Pädagoge und auch Kunde im Salon der Eltern. Ihr Sohn schloss sich mit 13 Jahren der starken Handball-Abteilung von Flensburg 08 an und genoss eine sehr gute Ausbildung. Mit Peter Pickel und Torwart Ulrich Althoff gab es noch zwei weitere Jungen, die es einmal bis in die Bundesliga bringen sollten. Und ganz ohne Fußball ging es auch nicht: Zum Aufwärmen wurde regelmäßig für zehn Minuten das runde Leder gekickt.
Die Infrastruktur war in den frühen 60er Jahren noch eine ganz andere als heute. Mit dem Fahrrad wurde die kleine Duburghalle, die einzige für Handball halbwegs geeignete Sportstätte, angesteuert – auch im Winter. „Manchmal hatten wir minus zehn Grad“, schmunzelt Lothar Raasch. „Das galt für draußen wie für drinnen.“ Die bescheidene Halle hatte keine Heizung, die Fensterscheiben waren oft eingeschlagen. Aus den einfachen Anfängen entwickelte sich Großes. Lothar Raasch schaffte den Sprung in das Männer-Team von Flensburg 08 und in die damals zweitklassige Regionalliga. In der Serie 1969/70 sorgten erstmals Doppel-Spieltage der beiden heimischen Top-Klubs für immense Begeisterung in der neuen Idraetshalle. „Wir waren die kämpferische Komponente, der FTB versuchte es eher spielerisch“, erzählt Lothar Raasch, der auch mehrfach in der Stadtauswahl stand. So durfte er sogar einmal gegen den späteren Olympiasieger Sowjetunion antreten. Allerdings begann der Handball-Stern von 08 allmählich zu sinken.
Die berufliche Ausbildung rückte in den Vordergrund. Spätestens als nach der Käte-Lassen-Schule und der höheren Handelsschule auch das Wirtschaftsgymnasium abgeschlossen war, musste für den weiteren Werdegang eine Entscheidung getroffen werden. Es war keine Option, den elterlichen Salon zu übernehmen. „Zum Leidwesen meiner Eltern hatte ich sogar lange Haare, das passte nun gar nicht zu einem Friseur“, schmunzelt Lothar Raasch.
Er absolvierte zunächst ein Praktikum bei „Liebelt“ in der Liebigstraße. Dort wurden Extrakte angeliefert und dann die Flaschen mit „Coca-Cola“ oder „Fanta“ gefüllt. Der neugierige Praktikant durchwanderte alle Stationen, erhielt umfangreiche Einblicke in einen Produktionsbetrieb und sicherte sich mittelfristig einen Job für die Semesterferien. Er fuhr die Getränkekisten aus. Dazu qualifizierte ihn der LKW-Führerschein, den er beim Technischen Hilfswerk abgelegt hatte. „Damals genügte es, sich vier Stunden mit einem Bus vertraut zu machen und dann den Prüfer von Duburg zum Bahnhof zu fahren“, plaudert Lothar Raasch aus dem Nähkästchen.
Er studierte Betriebswirtschaft, bastelte binnen drei Jahren erfolgreich am Diplom. Da dieses Fach noch nicht in Flensburg angeboten wurde, schrieb er sich an der Fachhochschule Kiel ein. Er zog allerdings nie in die Landeshauptstadt und bildete stattdessen eine sehr aktive Fahrgemeinschaft mit einem Kommilitonen aus Sörup. „Das studentische Leben konnten wir so allerdings nicht genießen, und manchmal stellte sich auch die Frage, ob wir für eine einzige Vorlesung nach Kiel fahren sollten“, verrät Lothar Raasch. „Ich würde es heute nicht empfehlen, sein Studium so zu gestalten.“ Dennoch hat sich aus dem Abschlussjahrgang 1976 ein jährliches Treffen einer Gruppe etabliert.
In der Heimat war es für den Diplom-Betriebswirt zunächst nicht ganz so einfach, etwas zu finden. Er landete am Südermarkt, war zunächst stellvertretender Geschäftsleiter bei „Quelle“. Die Begeisterung hielt sich in Grenzen. „Ich sah keine Zukunft für mich“, sagt Lothar Raasch im Rückblick. „Wenn ich im Konzern Karriere gemacht hätte, wäre alle zwei Jahre ein Ortswechsel unvermeidbar gewesen.“ Doch der junge Mann wollte in Flensburg bleiben, wollte Handball spielen. Deshalb war auch ein Angebot des ehemaligen Bundesligisten TV Grambke Bremen für ihn nicht wirklich interessant.
08, sein Stammklub, befand sich da längst im freien Fall. Im Herbst 1974 wechselte Lothar Raasch zur frischgegründeten SG Weiche-Handewitt. Einige Spieler hatten ihn angesprochen, eine neue Halle war auf der Geest im Entstehen. Lothar Raasch denkt gerne an die fünf „Handewitter“ Jahre zurück. „Auf dem Dorf wurde man von jedem gegrüßt, wenn man zum Training oder zum Spiel kam“, erzählt er. „Und nach den Spielen ging es immer in die Vereinsgastronomie. Wenn man es endlich an den Tischen vorbei zum Tresen geschafft hatte, war man schon gar nicht mehr nüchtern.“ Die junge SG manövrierte sich schnell an die Regionalliga-Spitze, lieferte sich packende Derbys mit dem TSB Flensburg und stand im Juni 1978 sogar im Halbfinale um den DHB-Pokal. Dort erwischten die Nordlichter allerdings das schwerste Los. Lothar Raasch: „Den VfL Gummersbach wollten wir nach Handewitt holen. Aber nach der Weltmeisterschaft und der langen Saison waren die vielen Nationalspieler müde und wollten ihr Heimrecht unbedingt behalten.“ Der Außenseiter schlug sich mit 13:16 dennoch sehr achtbar.
Eine Saison weiter wagte Lothar Raasch einen Schritt, der damals als „No-Go“ galt: Ein Wechsel zum Lokalrivalen TSB Flensburg, der gerade in die Bundesliga aufgestiegen war. So konnte er sich den Traum erfüllen, zumindest einmal in die höchste Spielklasse zu schnuppern. Der sofortige Abstieg war nicht zu verhindern, einige Impressionen blieben aber im Langzeitgedächtnis haften. Zuschauer strömten schon Stunden vor dem Anpfiff in die KGS Adelby, um sich dort einen Notplatz zu sichern. Der neue Trikotsponsor „Beate Uhse“ sorgte für Furore. Der erste Sieg gelang ausgerechnet gegen den THW Kiel. Der entscheidende Schachzug: Lothar Raasch stellte nach der Halbzeit den zehnfachen Torschützen Predrag Timko mit einer Manndeckung kalt. Auswärts gab es kuriose Touren: Von Hamburg über Köln nach Stuttgart mit dem Flieger und dann mit dem Bus nach Hofweier am Rande des Schwarzwaldes. Am nächsten Tag ging es über Frankfurt zurück. Einmal musste der TSB am Mittwoch auswärts ran und kehrte erst um 5 Uhr morgens zurück. Dann hieß es: „Duschen und zum Dienst“.
Seit dem 24. März 1978 war Lothar Raasch für die Industrie- und Handelskammer in der Heinrichstraße tätig. Die IHK Flensburg hatte 40.000 Mitglieder, davon allein 10.000 im Einzelhandel. Der Einzugsbereich reichte von Holnis bis Brunsbüttel. Für den Betriebswirt ergaben sich daraus vielschichtige Aufgaben in verschiedenen Bereichen. „Das war gewiss kein Bürojob“, betont er. „Ich war viel unterwegs und hatte viel Kontakt mit interessanten Mitmenschen.“ Zunächst ging es um Zonenrandförderung, Exporte und Existenzgründungen. Lothar Raasch betreute lange die Wirtschaftsjunioren in Schleswig.
Als eine knifflige Aufgabe erwies sich oft das „Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb“ (UWG). Die IHK trat als Aufsichtsbehörde für eine faire Konkurrenz im Einzelhandel auf. Früher gab es klare Vorschriften für Werbung, Vorschriften für Rabatte und Räumungsverkäufe. Wer dagegen verstieß, riskierte Abmahnverfahren und Unterlassungserklärungen. Mancher Unternehmer nahm die Strafgebühren sogar bewusst in Kauf oder spekulierte mit einer kurzfristigen Annonce darauf, dass niemand mehr so schnell reagieren könnte. Doch auch am Freitagnachmittag wurden noch einstweilige Verfügungen verhängt. Mit dem EU-Binnenmarkt wurde das Gesetzt harmonisiert und liberalisiert. „Früher war der Verbraucher mehr geschützt“, meint Lothar Raasch.
Beim Handball erlebte er eine Zäsur. Zwar wurde er 1982 noch einmal vom TSB Flensburg für einige Monate reaktiviert, doch die ambitionierte Handball-Laufbahn war beendet. Gespielt wurde nur noch bei den „Alten Herren“. Dafür wirkte Lothar Raasch als Trainer beim TSV Jarplund-Weding, TSV Medelby und vor allem beim TSV Hürup, mit dem er mehrere Aufstiege feierte. Seine letzte Station war die „Dritte“ der SG, wo er einmal sogar Geschäftsführer Dierk Schmäschke auflaufen ließ. Heute schaut Lothar Raasch „sporadisch“ bei den Bundesliga-Partien in der „Hölle Nord“ zu.
Ab 1984 faszinierte ihn ein anderer Sport: Tennis. Für den TC Glücksburg bestritt er Punktspiele bei den Jungsenioren und Senioren. „Mit meiner Grundschnelligkeit, Antizipation und Ballgefühl konnte ich viele Gegner ärgern“, erzählt der ehemalige Handballer. Später war er sogar zwei Jahre Vereinsvorsitzender und maßgeblich an den drei Mal ausgetragenen „Glücksburg Open“ beteiligt. Das Preisgeld – immerhin 20.000 Euro – lockte ambitionierte Spieler ab 35 Jahren an die Förde. In einem Zelt stieg die „Player´s Night“. Lothar Raasch verstand es, über sein Netzwerk Sponsoren einzubinden, sodass der Klub „nie mit einem Minus rausging“. Über den Draht zur SG erschienen Kapitän Jan Fegter und einige andere Spieler beim Tennis-Event.
Bei der IHK wurde Lothar Raasch 1997 Referent für Handel, Stadtmarketing und Gastronomie. Flensburg als einziges Oberzentrum im Einzugsgebiet stand besonders im Fokus. Unter der Moderation der IHK saßen 15 Flensburger Persönlichkeiten an einem Tisch und arbeiteten ein Image- und Vermarktungskonzept aus. „Wirklich genutzt wurde es allerdings nicht und landete in der Schublade“, berichtet der einstige IHK-Fachmann. „In dieses Konzept sollte man öfter hineinschauen, da stehen gute Ideen drin.“ Seine Institution war vielfach involviert, wenn sich der Einzelhandel gegenüber dem Tourismus vernachlässigt fühlte. Wenn die Planung eines neuen Grenzhandels in Handewitt Sorgen in Harrislee auslöste. Oder wenn die Geschäfte an der Grenze auch sonntags geöffnet hatten, während den Kaufleuten der Flensburger Innenstadt ein Betrieb am Sonntag untersagt war.
Das Flensburger „Herzstück“ brachte schließlich die größte Einzelaufgabe in der beruflichen Laufbahn von Lothar Raasch. Vitrinen, Blumenkübel und Bänke in S-Form galten nach der Jahrtausendwende nicht mehr als der letzte Schrei für eine Fußgängerzone. Die neue Losung lautete: Nordisches Flair mit vielen Freiräumen, was eine Ideen-Werkstatt unter den Einzelhändlern bestätigte. Da für Flensburg keine Fördergelder in Aussicht standen, sollte das neue Instrument „Business Improvement District“ (BID) das rechtliche Fundament bilden. Hamburg war in dieser Hinsicht Vorreiter, hatte schon das nötige Gesetz erlassen, da die Eigentümer der zentralen Immobilien die Gelder für die Baumaßnahmen aufzubringen hatten. Die IHK organisierte Versammlungen für den Holm, die Große Straße und die Norderstraße, moderierte zwischen Eigentümern, mietenden Gewerbetreibenden, dem Land und der Stadt mit einem engagierten Oberbürgermeister Klaus Tscheuschner.
Im Frühjahr 2007 stand die „Partnerschaft zur Attraktivierung von City-, Dienstleistungs- und Tourismusbereichen“ (PACT), nachdem deutlich weniger als ein Drittel der Eigentümer Widerspruch eingelegt hatten. Vier Millionen Euro wurden in die Verschönerung der Innenstadt investiert. Für Kanalisation, Fernwärme und Telefonkabel wurde gleich mitgebuddelt. „Eine wahnsinnige Baumaßnahme“, erinnert sich Lothar Raasch. „Wir haben es aber so geschafft, dass jedes Geschäft immer erreichbar war.“ Eine Baustellen-Halbzeit-Party erhöhte zwischenzeitlich die Frequenz im Einzelhandel. Viele Gebäudebesitzer restaurierten zugleich die Fassaden. Ein Gutachten kam später zum Schluss, dass Flensburgs City nach dem Umbau wesentlich mehr skandinavische Gäste anzog. „Die Sortimente in den Kleidungsgeschäften sind nun sehr auf dänische Kunden ausgerichtet“, beobachtete Lothar Raasch. „Dieser Trend wird auch wichtig für die Wiederbelebung nach der Corona-Phase sein.“
Kurz vor seinem Ruhestand im August 2013 wurde noch „PACT II“ auf Reisen geschickt, speziell ein gemeinsames City-Marketing in mehreren Etappen. Da galt unter BID-Experten die Flensburger Innenstadt längst als Vorzeigeprojekt, da vielerorts deutlich mehr Widersprüche ähnliche Vorhaben torpedierten. Auf einem bundesweiten Kongress wurde Flensburg mit dem BID-Award ausgezeichnet. „Eine Werbung für die Stadt“, sagt Lothar Raasch, der selbst mit viel Beifall aus der illustren Runde verabschiedet wurde.
Wenn nicht gerade das Corona-Virus regiert, trifft sich der „ewige“ Sportler jeden Donnerstag mit alten Weggefährten in der Duburghalle. Inzwischen wird Fußball gespielt, da Kicker die altersmäßig ausgeschiedenen Handballer ersetzten. „Handballer können ja auch Fußball spielen, umgekehrt ist es schon schwieriger“, lächelt Lothar Raasch. Nach gut einer Stunde gehen die Aktiven die Treppen zur TSB-Vereinsgaststätte hinunter und treffen auf viele bekannte Gesichter. Die Handball-Veteranen haben sich noch immer viel zu erzählen.
Über seine Lebensgefährtin Jutta hat Lothar Raasch eine neue Herausforderung entdeckt: Golf. „Sie ist sehr früh dran“, erzählt er. „Wir spielen oft schon um 7.30 Uhr, wenn sonst noch niemand auf dem Platz in Bockholmwik ist.“ Der 72-Jährige stellte fest: „Die bei mir vorhandene Kraft ist nicht das beste Mittel, den Ball muss man schon ganz genau treffen. Man sagt ja nicht umsonst, dass Golf nach Stabhochsprung die zweitschwierigste Sportart ist.“ Das Paar genießt das Reisen, war schon auf zwei Kreuzfahrten nach Mittelamerika und Südostasien unterwegs. Der Urlaub auf Mauritius war gerade noch rechtzeitig angetreten worden: im Februar. In Kürze soll es mit dem Wohnmobil losgehen: vier Wochen durch Süddeutschland.

Text: Jan Kirschner
Fotos: Jan Kirschner, privat

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