In unserer Serie „Flensburger Straßen und Stadtteile“ bitten wir Zeitzeugen, uns von ihren ganz persönlichen Erinnerungen zu berichten. In dieser Ausgabe hält Günter Schmidt, Jahrgang 1928, Rückblick.
Günter Schmidt kam am 16. Dezember 1928 in der Harrisleer Straße Nr. 79 zur Welt. Aufgewachsen ist er im Haus Nr. 67. Die kleine Sackgasse zwischen 65 und 67 war „Klein England“! Diese Bezeichnung stammte noch aus der Kaiserzeit, als englische Werftbau-Konstrukteure mit ihrem Knowhow zum Bau der Werft nach Flensburg geholt worden sind. Sie hatten ihre Wohnungen in der Harrisleer Straße. Während des Zweiten Weltkriegs wurde „Klein England“ in Spechtstraße umbenannt!
Günter Schmidt hat 22 Jahre in der Harrisleer Straße gelebt. Schon drei Generationen seiner Vorfahren waren hier zuhause. Die Männer arbeiteten auf der Werft. Entlang der Harrisleer Straße und in den Höfen herrschte pralles Leben! Bis 1949 waren hier rund 68 Einzelhandel- und Gewerbebetriebe vielfältigster Art angesiedelt.
Als unser Chronist nach langer Abwesenheit in seine Heimatstadt Flensburg zurückgekehrt war, hat er, auf der Suche nach der Vergangenheit, seine Straße kaum wiedererkannt. Er konnte nur etwa 10 Gewerbetreibende und eine Moschee entdecken! Die ihm von damals vertrauten Menschen sind fast alle weggezogen oder längst verstorben! Günter sagt es nicht ohne Wehmut: „Wir lebten damals in nachbarschaftlicher Freundschaft – auch in der Diktatur haben wir versucht, unser Leben mitzugestalten; jedenfalls das bisschen Leben, das uns übrig geblieben war!“ Günter Schmidt hat alle Läden, Betriebe und Wohnhäuser in der Harrisleer Straße von Nummer 1 bis 111 (bestehend aus der Zeit um 1948) im Längsformat 90 x 35 cm aufgezeichnet und nach Branchen bebildert.
Generationen von Flensburgern wohnten in der Harrisleer Straße und arbeiteten auf der Werft
Günter nannte seine Uroma „Alte Oma“. Als er 1928 auf die Welt kam, war sie 64 Jahre alt! „Alte Oma“ war eine Friesin mit dunkelbraunen Augen, die gern Tee trank. Sie hatte kaum Haare auf dem Kopf und keinen Zahn im Mund. Sie lebte in einer winzig kleinen Wohnung in der Harrisleer Straße 85. Ihre Tochter war Günters Oma, die mit Wilhelm Schmidt, sen. verheiratet war. Der Opa arbeitete als Nieter auf der Werft. Die Familie wohnte in der Harrisleer Straße 52a. Deren Sohn Wilhelm Schmidt, jr., Günters Vater, lebte mit seiner Familie in der Harrisleer Straße 67. Er war Schiffbauhelfer auf der Werft.
Als zwischen 1939 und 1945 U-Boote auf der Werft gebaut wurden
Nach langer Arbeitslosigkeit bekam Günters Vater im Jahr 1933 als Schiffbauhelfer eine Anstellung auf der Werft. Gearbeitet wurde 60 Stunden in der Woche. Die Stellagen bestanden noch aus Holz. Beim Neubau von Schiffen waren die Männer im Sommer der Hitze und im Winter dem eiskalten Seewind ausgesetzt. Ab 1939 war Günters Vater mit dem Bau von U-Booten beschäftigt. Wie unser Chronist berichtet, musste er im Kiel des Bootes Verstrebungen anbringen, an denen die Batterien befestigt werden konnten. Diese Arbeiten mussten liegend durchgeführt werden.
Die Löhne wurden immer freitags in bar ausgezahlt. Nach Feierabend standen dann einige Ehefrauen an der Pforte des Werfttors, um ihren Männern noch vor dem Gang in die Kneipe die Lohntüte abzunehmen. Diese Peinlichkeit ist Günters Mutter erspart geblieben. Dem Vater hat ein Taschengeld für Tabak und Zigarettenpapier gereicht. Im Jahr 1943 wurde er von der Werft abgezogen und in den Krieg geholt.
Spielplatz war die Harrisleer Straße und „Klein England“
Unser Chronist Günter Schmidt berichtet von den vielen Kindern, die in seiner Wohngegend gleichzeitig aufgewachsen sind. Dabei handelte es sich nicht um kinderreiche Familien – es gab höchstens mal eine Familie mit 6 Kindern! Es waren die vielen Familien mit insgesamt etwa 40 Kindern, die in den Häusern von Nummer 2 bis 10 und im Haus Nummer 67 auf engstem Raum wohnten. Gleich nach dem Mittagessen wurden die Schulaufgaben am Küchentisch gemacht – und danach ging es sofort zum Spielen raus auf den Hof und auf die Straße. Die Mütter mussten sich nicht um die Kinder kümmern! Die Frauen verbrachten ihre Zeit beim Schlangestehen, im Haushalt beim Kochen, Wäsche waschen, Kohle und Holz besorgen, Garten machen und – die Tiere füttern, wenn ein Schwein oder Hühner zu versorgen waren. Wenn auf dem Spielplatz hinter den Häusern von „Klein England“ Wäsche auf den Leinen flatterte, wurden die Kinder nicht deshalb vertrieben. Nur wenn der Müllkutscher mit Pferd und Wagen kam, um die drei großen Aschenbehälter von 20 Familien zu leeren, brachten die Frauen ihre Wäsche in Sicherheit. Auf dem Wagen befand sich ein Aufbau mit einer Luke, durch die der Müll geschüttet wurde. Drei Viertel davon war Asche. Mit den Küchenabfällen wurden die Schweine und Hühner gefüttert. Hinter den Häusern in der Finkenstraße war eine Müllkippe. Hier entsorgten die Anwohner alles was weg musste. Wenn sich Abfälle entzündet hatten, kam die Feuerwehr! Die Kinder haben sich beim Spielen gegenseitig erzogen ohne dass sich die Eltern bei Auseinandersetzungen einmischen mussten. Die Jüngeren konnten oft genug beobachten und dabei lernen wie die Älteren ihre Probleme lösten. Es wurde kurz diskutiert, entschieden und weitergemacht. Das ging ohne Schlägereien ab!
Auch noch nach 80 Jahren treffen sich etwa 12 „Kinder“ vom ehemaligen „Klein England“ zweimal jährlich in Harrislee bei Kaffee und Kuchen! Wie Günter Schmidt beschreibt, hatten die Frauen in der damaligen Zeit mit Haushalt und Kindern mehr als reichlich zu tun. Es war nicht üblich, dass die Frauen einem Beruf nachgingen. Günters Mutter war da eine seltene Ausnahme. Sie war als Haushaltshilfe bei Familie Rothermund, den späteren Schwiegereltern von Beate Uhse, beschäftigt. Einige Wochen vor Ausbruch des Krieges im September 1939 hatte sie von Herrn Rothermund den dringenden Rat bekommen Vorräte anzulegen. Schwere Zeiten würden bevorstehen. Die Mutter befolgte den Rat und kaufte unter anderem 10 Pakete Persil, Henko, Imi und Ata! Zum Erstaunen ihrer Nachbarinnen konnte sie noch drei Jahre nach Kriegsbeginn auf ihre gehamsterten Vorräte zurückgreifen!
1935 Einschulung
Günter besuchte die Petrischule in der Bauer Landstraße. Bei seiner Entlassung 1943 hieß sie Voß-Schule, heute Schule Ramsharde! Im Tornister steckten Schiefertafel und Griffel. Später wurde mit Federhalter und Tinte aus dem Tintenfass geschrieben. „Das war oft eine böse Schmiererei, bevor wir um 1937 mit einem Füllfederhalter arbeiten konnten“, berichtet Günter. Ab 1936 gab es die Schulsparkasse. Jeden Montag war Zahltag. Je nach der finanziellen Situation zu Hause zahlten die Schüler zwischen 20 und 60 Pfennige auf das vom Lehrer geführte Sparbuch ein. Als Günter 1943 die Schule verließ, hatte er ein Guthaben von 659,70 R-Mark angespart. Nach der Währungsreform 1948 ist ihm ein kleiner Teil davon gutgeschrieben worden. In der Harrisleer Straße gab es kaum eine Wohnung mit Toilette oder gar mit Badezimmer. Günter erinnert sich, dass während seiner Schulzeit einige Male Duschaktionen für die ganze Klasse durchgeführt worden sind. Nicht etwa am Ende einer Sportstunde, sondern eher auf Wunsch der Lehrer, die ihren Schülern in Abständen eine gründliche Körperreinigung ermöglichen wollten. Unterhalb des Zeichensaals war ein großer Raum mit 10 Duschen ohne Trennwände. Innerhalb einer Stunde mussten 50 Jungen einer Klasse geduscht sein. Die Ansage, Seife und Handtuch mitzubringen, war am Vortag gemacht worden.
Günter hat die Toilette auf dem Schulhof vielleicht zwei- oder dreimal während seiner ganzen Schulzeit aufgesucht. Nur aus reiner Not! Hinter einer hohen Planke versteckt befand sich zum Pinkeln eine mit Teer bestrichene Wand. Um sich zu erleichtern standen Lehrer und Schüler nebeneinander. Der Wasserhahn war auf einem Pfosten angebracht. In den Pausen durfte sich jeder Schüler eine Handvoll Wasser zum Trinken nehmen. Damit alle in diesen Genuss kamen, musste es zügig gehen. Es gab nie Streit, auch wenn sich die großen Jungs öfter mal vordrängelten.
Wunschkonzerte aus dem Radio
„Beim Wunschkonzert am Sonntagnachmittag wurde es zuhause richtig gemütlich“, erinnert sich Günter. Zu den am häufigsten gespielten Liedern gehörte ab 1941 „Heimat deine Sterne“ aus dem Kinofilm „Quax der Bruchpilot“! Im Jahr 1942 wurde der deutsche NS-Propaganda-Spielfilm „Die große Liebe“ zum erfolgreichsten Film im Dritten Reich – allein schon wegen Zarah Leanders rauchigem Gesang „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“. Günter: „Das waren Lieder voller Liebe, Leidenschaft, Treue und Glaube (an den Endsieg)!“
Verdunklung, Lebensmittelkarten, 15 Hühner und 1 Hahn
Günter bezeichnet die Verdunklungsverordnung während des Krieges als Ärgernis und zusätzliche Belastung für die Bevölkerung. Damit kein Licht aus den Wohnungen dringen konnte, mussten an allen Fenstern Verdunklungsrollos angebracht werden. Selbst die Autoscheinwerfer waren bis auf einen Zentimeter freien Sehschlitz verklebt. Das Licht konnte nur aus nächster Nähe auf die Straße fallen. Aber es fuhren kaum Autos. Militär, Polizei, Arzt und einige Lieferwagen bildeten die Ausnahmen. Es gab auch keine Straßenbeleuchtung. Deshalb konnte es sehr anstrengend sein, in der Dunkelheit voranzukommen. Um nicht mit anderen Fußgängern zusammenzustoßen, war die sogenannte blaue Leuchtstoffplakette, die auf dem Revers getragen wurde, hilfreich!
In dem kleinen Haus Ecke Apenrader Straße/Terrassenstraße war die Ausgabestelle für „Reichsbezugskarten“, die jedem Bürger zustanden. In langen Schlangen zu stehen war an der Tagesordnung! Eine Lebensmittelkarte war etwa so groß wie ein Schulheft und bestand aus vielen Abschnitten, die nur halb so groß waren wie eine Briefmarke. Sie waren mit Mengeneinheiten beschriftet als Brot-, Nährmittel-, Fleisch-, Zucker-, Milch- und Butterkarten. Weil oftmals nicht alle Produkte verfügbar waren, die dem Verbraucher lt. „Reichsbezugskarte“ zustanden, wurden entsprechende Positionen in der Tageszeitung aufgerufen.
Um den Bestand von Speiseöl etwas aufzubessern, begleitete Günter seine Mutter zum Sammeln von Bucheckern in den Klueser Wald. Einige Spielkameraden und Mutters Freundin, Frau Lorenzen, waren auch mitgekommen. Bucheckern werden unter Buchen auf den Knien gesammelt. Sie sind federleicht und bringen deshalb auch nach stundenlangem Sammeln nur wenige Gramm auf die Waage. Das Ergebnis dieser Aktion war höchstens 0,33 Liter Speiseöl. Günter war damals sehr stolz auf seine Mutter!
Gleich nach dem Krieg – es erschien Günter wie ein Märchen – gab es Bekanntgaben, wenn im Hamburger Fruchtlager in der Norderstraße ein Kontingent an Zitrusfrüchten eingetroffen war.
Wer in seinem Garten mehr als 12 Hühner hatte, war von der staatlichen Eierversorgung nicht nur ausgeschlossen, sondern wurde je nach Größe seines Hühnervolks zur Abgabe von Eiern verpflichtet. Günters Eltern Wilhelm und Frieda Schmidt hielten hinter dem Haus 15 Hühner und einen Hahn. Somit zählten sie zu den Selbstversorgern ohne Reichseierkarte. Sie mussten eine vorgegebene Zahl an Eiern abliefern! Der Krieg war längst vorbei, als sie einen Ordnungsstrafbescheid mit Datum vom 9. Januar 1948 erhielten. Er war von der Rechtsabteilung der Wirtschaftsverbände, Milch, Fett und Eier, „Abteilung Eier“, mit Sitz im Hotel Esplanade Hamburg ausgestellt. Den Eheleuten Schmidt wurde vorgeworfen, in der Zeit vom 1. Oktober 1945 bis 30. September 1946 siebenundzwanzig (27) Eier zu wenig abgeliefert zu haben. Die Ordnungsstrafe für dieses Vergehen in Höhe von 131 R-Mark war sofort fällig.
Als wehrunwürdig abgestempelt und später doch in den Krieg geholt
Hans Kommunist, so wurde der freundliche Mann in der Harrisleer Straße genannt, war Untermieter bei Günters Eltern. Er war beim Tiefbau bei der Bahn beschäftigt und hatte in den Jahren um 1936 bereits Lagerhaft hinter sich. Als Günters Vater 1943 von seiner Arbeit im U-Bootsbau abgezogen und in den Krieg geschickt wurde, legte Hans Kommunist nicht ohne Stolz seinen Wehrpass bei Schmidts auf den Tisch. Auf Seite 2 durchkreuzte ein hässlicher, blauer Stempelabdruck mit dem Vermerk „Wehrunwürdig“ das Dokument. Darüber war der damals Vierzigjährige sehr froh. Gleichzeitig machte er sich Sorgen um Günters Vater. Sein Glück aber währte nicht lange. Auch ihn, den „Wehrunwürdigen“, schickten die Nazis in den Krieg. Nach Kriegsende kehrte Hans Kommunist unversehrt nach Flensburg zurück und blieb bis zu seinem Lebensende ein treuer Kommunist. Günter erinnert sich, dass Hans Kommunist gleich nach Kriegsende die Zeitung der KPD, „Rote Fahne“, in der Harrisleer Straße ausgetragen hat. Die „Rote Fahne“ war von Januar 1919 bis 1945 das Zentralorgan der KPD. Unter der Nazidiktatur verboten, wurde sie illegal in parteinahen Widerstandskreisen aus dem Untergrund heraus verbreitet. Ab Ende 1945 wurde die „Rote Fahne“ nicht mehr verlegt.
5 Monate nach Kärnten zur Kinderlandverschickung
Die freiwillige Teilnahme an der Kinderlandverschickung (KLV) war ein Angebot der Nazis zum Schutz der Kinder vor Fliegerangriffen. Günter nahm in der Zeit von Juli bis November 1941 an einem KLV-Lager in Kärnten teil. Da zu dieser Fahrt ausschließlich 13jährige Jungen und Mädchen aufgerufen waren, hatten sich einige Hundert gleichaltrige Teilnehmer aus ganz Flensburg angemeldet. Für Günter, der erst im Dezember 13 Jahre alt wurde, war das KLV-Lager in Österreich – fernab von zu Hause – ein einmaliges Ereignis! „Hier tragen die Frauen lange Hosen und die Männer kurze!“ Diese Beobachtung hat ihn so verwundert, dass er sie sofort den Eltern in einem Brief mitteilte. Einer seiner sehr ausführlichen Erlebnisberichte, die er nach Hause geschickt hat, ist von den „Flensburger Nachrichten“ abgedruckt worden. Günter erhielt sogar ein Honorar in Höhe von 2 R-Mark! Die über 20 in Sütterlin verfassten Briefe an seine Eltern sind aufbewahrt. Günter hat sie später seiner Frau in die Schreibmaschine diktiert – für die Kinder und Enkelkinder, damit die nicht eines Tages lustlos an der Sütterlin-Schrift herumbuchstabieren müssen.
Als Günter im November 1941 aus dem KLV-Lager zurückkam, war Sütterlin lt. Verordnung von Januar 1941 an allen Schulen abgeschafft und die lateinische Schrift eingeführt worden.
Hier Auszüge aus zwei Briefen vom 04. und 30. August 1941
Liebe Eltern!
— Heute ist Urlaubssperre weil sich ein Kamerad einen frechen Witz erlaubt hat. Unser Lager hier in Steindorf am Ossiacher See hat das beste Heim von 7 Lagern. Alfons schläft z. B. auf Strohbetten. Da wimmelt es von Flöhen. Dagegen ist es bei uns blitzsauber! —
Liebe Eltern,
— kann Euch die erfreuliche Mitteilung machen, dass ich innerhalb von 6 Wochen 5 Pfund zugenommen habe. Ich freue mich ordentlich darüber. Ich bin vorgestern Freischwimmer geworden. Freischwimmer wird man, wenn man 15 Minuten lang schwimmen kann. Nach einem schönen Ausflug durch das Gebirge wollten wir am Bahnhof Villach den Zug zurück nach Steindorf nehmen. Dort waren viele Neugierige. Alles war abgesperrt. Schließlich erfuhren wir, dass Mussolini mit seinem Sonderzug auf der Rückreise von Berlin, wo er sich mit Hitler getroffen hatte, den Bahnhof passieren würde.
Sondereinsätze beim Jungvolk
Während seiner Zeit beim Jungvolk musste Günter jeden Mittwoch und Samstag um 15 Uhr in Uniform antreten. Treffpunkt war meistens die Petri-Kirche. Mit Exerzieren, Marschieren und Singen ging viel Zeit weg. Bei den Kampfspielen Mann gegen Mann war viel körperliche Gewalt mit im Spiel. Auch bei Sondereinsätzen war Günter dabei. Bei einem Bauern in der Westerallee mussten die Jungs die Schafwolle vom Stacheldrahtzaun „pflücken“ oder auf dem Dach einer Holzhandlung in der Neustadt die Bombensplitter einsammeln. Als das Capitol-Kino zerstört worden war, mussten alle mit anpacken, um die Mauersteine aus der Ruine auf die Straße zu schaffen.
Am 1. April 1944 in die Lehre
Der Berufsberater hatte Günter eine Drahtfigur biegen lassen und ihn gefragt, ober er Augenoptiker werden möchte. Er begann seine Lehre bei Firma A. Silo Nachfolger, Inhaber B. Duschner in der Großen Straße 9. Günter sagt, seine Ausbildung sei gleich Null gewesen. Seine Arbeit bestand lediglich darin Wehrmachtsbrillen zu schleifen, Metallbrillen zu löten oder Cellhornbrillen zu kleben. Die Ausbildung verlief ohne Berufsschule. Dann passierte es, dass Günter aus seinem Lehrbetrieb zum Bau von Panzergräben geholt wurde – und zur Vormilitärischen Ausbildung nach Meldorf und auf den Scheersberg!
Kurz vor Weihnachten 1944 kam sein Einberufungsbefehl. Auf einer schlichten, weißen Postkarte hieß es „Der Volksgenosse Schmidt hat sich am 13. Januar 1945 um 9 Uhr morgens zur Einberufung in Gütersloh einzufinden.“ Günter kam als Flak-Soldat zur Flak-Ersatz-Abteilung. Sein Einsatzort war die Weserbrücke bei Bad Oeynhausen. Innerhalb von zwei Monaten überlebte er acht Bombenangriffe. Danach war die Brücke endgültig zerstört. Es folgte ein Rückzugsbefehl – aber ohne Führung. Acht Wochen später hatte Günter per Anhalter Flensburg erreicht. Ohne Entlassungsschein! Nach dem Krieg erhielt Günter noch einige Unterrichtsstunden in der Berufsschule, allerdings ohne Fachausbildung. „Die Gesellenprüfung habe ich 1948 geradeso mit Ach und Krach in Kiel bestanden!“ Er sagt es ohne Groll. Als Geselle verdiente Günter 35 D-Mark pro Woche. Als immer mehr Kriegsheimkehrer mit mittlerer Reife in den Beruf des Augenoptikers drängten, sah Günter in Flensburg kaum noch Chancen für sich. Deshalb kündigte er Mitte Mai 1950 und trampte per Anhalter nach Stuttgart, wo er einen Arbeitsplatz als Brillenbieger bei der Firma Marwitz & Hauser fand. Dort lernte er seine zukünftige Ehefrau, die Augenoptikerin Hannchen Ehrhorn aus Karlsruhe kennen. Sie arbeitete in der Abteilung für Kamera-Verschlusszeitmessung. Zwei Jahre später heirateten die beiden. Ihre dreitägige Hochzeitsreise in den Schwarzwald machten sie mit dem Fahrrad! Günter und Hannchen bekamen die Töchter Karin und Ute und den Sohn Ralf!
Beginn einer großen Karriere
Günter hatte nach Abschluss eines zweijährigen Abendkursus vor der Industrie- und Handelskammer in Stuttgart die Prüfung zum „Industriemeister“ gemacht. In der Gewissheit, mehr Kreativität als Selbständiger entwickeln zu können, hatte er bei Marwitz & Hauser gekündigt. Auf der Suche nach einer Betriebsübernahme fand er 1964 eine Mechaniker-Werkstatt. Die befand sich im 4. Stock in der Fettstraße 5 in Hamburg-Eimsbüttel. Es gab keinen Aufzug. Transmissions-Lederriemen hingen noch an der Decke. Gut dreißig Jahre vorher waren hier Reparaturarbeiten für ein Nähmaschinengeschäft durchgeführt worden. Nun hatte Günter zum ersten Mal in seinem Leben mit Drehbank und Fräsmaschine, Schweiß-, Biege- und Stanzgeräten zu tun. Nur sein theoretisches Wissen aus dem Meisterkursus half ihm in der Praxis. Das Fertigungsprogramm war die Herstellung von Kleinblechteilen aus Federbandstahl (Blattfedern). Ehefrau Hannchen kümmerte sich tagsüber um die drei Kinder und das Haus. Sie kam abends oftmals in die Werkstatt um Blattfedern zu stanzen, zu schmirgeln und zu biegen. Und sie erledigte den Schriftverkehr und die Buchhaltung. Nach acht Jahren harter, erfolgreicher Arbeit verkauften Günter und Hannchen 1972 Haus und Werkstatt in Hamburg und richteten in einer leerstehenden Dorfschule in Koberg, Kreis Herzogtum Lauenburg in Schleswig-Holstein ihren Betrieb für Feinblechbearbeitung zur Herstellung von Flachfedern ein. Günter Schmidt gerät ins Schwärmen: „Es folgten für uns 43 großartige Jahre in Harmonie mit Familie und unserem aufstrebenden Betrieb mit damals fünf Mitarbeitern!“ Gegenüber Hamburg brachte das Leben auf dem Dorf große Veränderungen. Das Unternehmerehepaar Schmidt war damals gut 40 Jahre alt und hatte die Dorfschule in bar bezahlen können. Das war ein guter Start in die Dorfgemeinschaft. Günter wurde schnell in die Feuerwehr aufgenommen. Bereits nach einem Jahr war er Mitglied im „Nusser Schützenkorps“. Er trat der CDU bei und war vier Jahre Mitglied der Gemeindevertretung und vieles mehr! In den Jahren um 1990 hat Sohn Ralf, Jahrgang 1960, den elterlichen Betrieb übernommen und unter der Firmierung magepa Feinmechanik GmbH mit einem Neubau an anderer Stelle im Ort erweitert.
Als Ehrenbürger von Koberg in seine Heimatstadt Flensburg zurückgekehrt
Zehn Wochen nach dem Tod seiner Frau Hannchen ist Günter Schmidt im Jahre 2015 nach Flensburg zurückgekehrt. Doch kurz bevor ihn die Gemeinde Koberg endgültig ziehen ließ, wurde er in Würdigung seiner besonderen Verdienste zum „Ehrenbürger der Gemeinde Koberg“ ernannt. „Nichts macht mich stolzer als diese Ehrung“, sagt der Heimkehrer voller Dankbarkeit.
Das Gespräch mit Günter Schmidt führte Renate Kleffel
Aufzählung von Gewerbe und Einzelhandel in der Harrisleer Straße um 1948!
Es gab einen Kiosk, 12 Lebensmittelgeschäfte, 4 Bäckereien, 3 Schlachtereien, 3 Milchhandlungen, 2 Gemüsehändler, 1 Fischladen, 1 Fischimport, 1 Spirituosenhandlung, 4 Tabak und Süßwarenläden, 1 Arzneimittelgeschäft und eine Drogerie. Zwei Frisöre, 2 Schuhmacher, 1 Schuhgeschäft, 1 Textilwarenladen, 1 Wollwarengeschäft, 1 Maßschneiderei, 1 Uhrmacher, 2 Tischlereien, 1 Blumenladen, 1 Haushaltswarengeschäft. Allein 8 Fuhrunternehmen mit Pferd und Wagen standen für jederlei Transporte abrufbereit. Eine Viehhandlung, 1 Futter- und Düngemittelgeschäft und 2 Kohlenhandlungen prägten noch das Straßenbild als längst schon die Moderne mit Auto-Elektrik, KFZ-Kühlerbau und Treibstoffen Einzug gehalten hatte. Es gab in der Harrisleer Straße zwei Gaststätten und ein Hotel!