Wenn man einmal vom plötzlichen starken Regenschauer absieht, ist es ein normaler Vormittag an der Bredstedter Straße. Hans-Ludwig Suhr, den alle nur „Haddy“ nennen, ist wie immer vor Ort. Er wandert zwischen dem Geschäftszimmer des SC Weiche Flensburg 08 und dem Sportheim, das sich im selben Gebäude-Trakt befindet. Historische Bilder und Fan-Souvenirs flankieren seine Wege. Hin und wieder schweifen die Blicke ins fast menschenleere Manfred-Werner-Stadion. An den Pinnwänden hängen diverse Schreiben, die ein reges Vereinsleben bezeugen. Darunter auch eine Einladung für die Jahreshauptversammlung.
Ganz formell wird die Tagesordnung aufgelistet. Unter dem Punkt „Wahlen“ steht ganz unauffällig auch „1. Vorsitzender“. Aus dieser nüchternen Ankündigung geht in keiner Weise hervor, welche Zäsur den Sportklub erwartet. Nach 56 Jahren im Vorstand, davon 17 Jahre als Vorsitzender, kandiert „Haddy“ Suhr für keine weitere Amtsperiode. Er hört auf. „Aus gesundheitlichen Gründen“, sagt er. Er muss sich demnächst einer Hüft-Operation unterziehen, die eine längere Reha-Phase erfordert.
Der Sport in Weiche ist für den 72-Jährigen seit jeher eine Herzensangelegenheit. Sein Lebenswerk. Früher sagte er mal: „Erst die Schule, dann der Verein!“ Doch seitdem der Lehrer pensioniert ist, sieht man ihn nahezu täglich auf der Sportanlage – in aller Regel zwischen 11 und 13 Uhr. Er erledigt mehr Aufgaben als ein gewöhnlicher Vorsitzender. „Haddy“ Suhr packt mit an. Verlegt für die Platzpflege die Schläuche und wässert den Rasen. Er fegt auch mal die Umkleidekabinen durch und beschäftigt sich mit der Mitgliederverwaltung. Wenn die Regionalliga kickt, ist er schon vier Stunden vor Anpfiff da. „Es wird immer komplizierter und arbeitsintensiver in einem Verein mit einer Liga GmbH“, plaudert der Dauerbrenner aus dem Nähkästchen. „Bei Holstein Kiel oder dem VfB Lübeck sind beide Bereiche klar abgetrennt. Wir hingegen sehen uns als Einheit.“
Er ist froh, dass er einen guten Nachfolger gefunden hat. Bernd Bleitzhofer hat er einst von den Buben bis zu den Männern trainiert. „Ein Jahr lang habe ich ihn beredet“, verrät „Haddy“ Suhr und kündigt an: „Bis ich mich herausziehe, werde ich meinen Nachfolger noch in Kniffe und Tricks einführen.“ Er war nie ein über dem Verein thronender Präsident mit Drang zu den VIP-Logen, sondern ein volksnaher Vorsitzender, der sich immer gerne unter die Sportler mischte.
Er ist auch nicht der Mensch, der aus seinem Rückzug eine große Sache machen will. „Ich bin einst aus der Versenkung gekommen – und so werde ich wieder gehen“, sagt er. Sein enormes Engagement ist aber nie unbemerkt geblieben. Viele Ehrungen prasselten auf ihn ein, unter anderem 1998 die Sportverdienstnadel des Landes. Erst im Juli erhielt „Haddy“ Suhr die Verdienstnadel des Deutschen Fußballbundes.
Besonders stolz ist er über die Goldene Schiedsrichternadel. „Welcher Funktionär war denn auch Schiedsrichter?“, fragt er mit rhetorischem Unterton. Zwei Dekaden lang war er mit der Pfeife in den unteren Klassen unterwegs, wo man keine Assistenten benötigte. Bernd Bleitzhofer pfiff höher und brauchte einmal kurzfristig Ersatz für einen Linienrichter. „Haddy“ Suhr ließ sich überreden und fuhr mit nach Löwen-
stedt. „Da war ich keine gute Hilfe“, schmunzelt er. „Mich haben ständig welche angesprochen, ob ich denn jetzt auch noch Linienrichter wäre. Vom Schiedsrichter-Beobachter gab es nachher einen Rüffel, weil ich nicht ganz bei der Sache gewesen wäre.“
Hans-Ludwig Suhr wurde am 28. Mai 1947 in Schönberg (Herzogtum Lauenburg) geboren. Zur Schule ging er zunächst in Oldesloe. 1959 zog die Familie nach Flensburg-Weiche und wohnte im Ochsenweg, direkt über einem Blumenladen. Der Jugendliche besuchte die Goethe-Schule und gelangte nur durch einen Zufall zum Fußball. Bei der B-Jugend des TSV Weiche-West kickte der jüngere Bruder Jochen, der sein älteres Geschwister bei einem personellen Engpass alarmierte. „Das war eine bunt zusammengewürfelte Mannschaft“, erzählt „Haddy“ Suhr mit einem Lächeln. „Die Trikots waren noch farblich einheitlich, aber bei den Hosen und Schuhen hatte jeder eine eigene Marke.“
Seit dem 1. August 1962 ist er Mitglied im Weicher Sportverein. Zwar erbaute die Familie am innenstadtnahen Ende der Husumer Straße ein Eigenheim, doch die zwei Kilometer zum Sportplatz am Jägerweg legte der Junior mit dem Fahrrad und kurz darauf mit dem Moped zurück. „Haddy“ Suhr spielte auch mal Handball beim ESV Flensburg-Weiche im Forstweg und war später an der Gründung der SG Weiche-Handewitt beteiligt, sportlich hatte er sich aber früh festgelegt. „Mein Hobby ist Fußball, dann kommt Fußball und dann nochmals Fußball“, sagte er stets.
Als 15-jähriger Späteinsteiger entwickelte sich die Leidenschaft für das runde Leder rasend schnell. Bereits 1963 übernahm „Haddy“ Suhr das Amt als Jugendwart. Er war noch gar nicht volljährig. Seine Arbeit fand umso schneller lobende Worte. Schon bald hatte der TSV sechs Nachwuchsmannschaften. Der erfolgreiche Jugendwart wurde drei Jahre später auch Fußballobmann, kickte selbst mit Eifer und trainierte mehrere Jugend-Teams. Manch einer sagte: „Der wohnt gar nicht in der Husumer Straße, sondern auf dem Fußballplatz.“
„Haddy“ Suhr war unheimlich laufstark und torgefährlich. In der Serie 1964/65 tauchte er erstmals in der Liga des TSV Weiche-West auf. In der nächsten Serie war er bereits Stammkraft. „Je älter ich wurde, desto weiter hinten spielte ich“, bilanziert er. „Zunächst agierte ich als Mittelstürmer oder rechter Mittelläufer, später war ich Libero, und in der Altliga half ich sogar mal als Torwart aus.“ Das Urgestein besitzt ein riesiges Archiv mit Presseartikeln, das viele Anekdoten erzählt. In einem Pokalspiel gegen Lindewitt schoss der Stürmer mal fünf Tore, scheiterte aber im entscheidenden Elfmeterschießen.
Der Sportplatz am Jägerweg, wo sich heute Jugendtreff und Freibad aus dem Erdreich erheben, besaß mit dem ehemaligen Gefängnis als Umkleidetrakt und Sportheim eine eigene Aura. „Haddy“ Suhr nahm 1969 sein Studium an der Pädagogischen Hochschule auf und bereicherte das Jugend-Training mit neuen Impulsen. Er bat die jungen Kicker nicht selten in den nahen Mückenwald zum Laufen, ließ dann auf den Hauptwegen Fußball spielen und veranstaltete Sprintrennen um den zentralen Teich. Die drei Schnellsten durften sich jeweils eine Cola bestellen.
Im Winterhalbjahr erfolgte der Umzug in die Kleine Turnhalle der Schule, da am Jägerweg das Flutlicht fehlte. Dann wurde mit Kästen und Matten improvisiert. Während andere Klubs der Stadt auf Linienbus oder Fahrrad setzten, reiste der TSV mit dem Auto zu den Auswärtsspielen. Die „Badewanne“ von „Haddy“ Suhr war das beliebteste Fortbewegungsmittel, in das zur Not auch mal elf Spieler passten.
1968 übte sich der Fußballobmann erstmals als Spielertrainer der Bezirksliga-Elf. Insgesamt betreute er 22 Jahre lang als Übungsleiter die Liga-Mannschaft – mit mehreren Unterbrechungen. An einen Vereinswechsel hatte er nie einen Gedanken verschwendet. Auch nicht, als er von 1972 bis 1985 in Tönning als Lehrer beschäftigt war und täglich 140 Kilometer mit dem Auto zurücklegte. Dann konnte „Haddy“ Suhr nach Flensburg wechseln, wo er zunächst an der Petrischule und schließlich in Fruerlund tätig war. Er war ein „Alleskönner“, der als Grund- und Hauptschullehrer vorwiegend die Klassen acht und neun unterrichtete. „Ich war immer mit Freuden zur Schule gegangen“, sagt er noch heute.
Als Jugendwart und Fußballobmann war der Funktionär über Jahrzehnte in Personalunion aktiv – auch als sich die Vereinslandschaft im Stadtteil änderte. Eine Sitzung am 22. August 1971 in der Bahnhofsgaststätte brachte letztendlich den Durchbruch für den neuen Verein ETSV Weiche. Diese Fusion war die Voraussetzung für den Bau einer umfangreichen Sportanlage an der Bredstedter Straße – mit Fußballplätzen, Laufbahn, Tennisareal und Sportheim.
Als der Komplex 1978 eingeweiht wurde, mussten sich die Fußballer vom Sandacker am Jägerweg auf den Rasenplatz an der Bredstedter Straße umstellen. Spielertrainer „Haddy“ Suhr verband diesen Umzug mit einem längst fälligen Generationswechsel. Der Lohn erfolgte 1983, als der Dauerbrenner nur noch coachte. Nach 27 Jahren in der Bezirksliga glückte der Sprung in die Landesliga, die allerdings ein einjähriges Intermezzo blieb.
1997 stieg „Haddy“ Suhr zum zweiten Vorsitzenden auf, bekleidete die anderen Ämter parallel weiter. Ende Oktober 1997 sollten die Jugend-Mannschaften ins Winter-Training einsteigen. Doch der Eingang zur Halle der Briesen-Kaserne war verschlossen. Die Standortverwaltung hatte sich darüber mokiert, dass die Sportstätte ungepflegt von anderen Gruppen hinterlassen wurde. Der „Bannstrahl“ traf nun hauptsächlich die Kicker. „Haddy“ Suhr, in seiner Rolle als Fußballobmann, sprach von einer „Katastrophe“.
Beim ETSV Weiche gab es viele Versammlungen. Aber wohl keine war so denkwürdig wie die am 28. Mai 2002. Gleich doppelt nahm Hans-Ludwig Suhr die Glückwünsche entgegen. Zunächst feierte er seinen 55. Geburtstag, dann wählten ihn die Mitglieder zum neuen ersten Vorsitzenden des ETSV. Vorgänger Manfred Werner bezeichnete ihn als seinen „logischen“ Nachfolger: „Er war immer das Herz des Vereins und ich der Verstand.“ Seit jener Zeit wurde der ETSV „Herr im eigenen Haus“, pflegte und wartete seine Sportanlage in kompletter Eigenregie. Der Klub erhielt eine feste Vertragssumme von der Stadt, um die regelmäßigen Aufgaben zu bewältigen.
2008 kam der Unternehmer Harald Uhr zum ETSV Weiche. „Ohne ihn würde es hier keine Regionalliga geben“, weiß „Haddy“ Suhr. Mit ihm, dem Neueinsteiger und dem inzwischen verstorbenen Schatzmeister Karl Carstensen fand sich ein Trio, das in der Bewältigung der Aufgaben die kurzen Wege bevorzugte. „Haddy“ Suhr blickt auf den Rasen im Manfred-Werner-Stadion. „Es hat sich hier alles rasend entwickelt“, stellt er fest. „Leider nicht im Einklang mit der Stadt.“
Seit dem Regionalliga-Aufstieg wurden rund 600.000 Euro in Tribünen, Zaunanlage und sonstige Infrastruktur investiert. Sponsoren halfen. Die Stadt als Eigentümer hielt sich vornehm zurück. „Wir knabbern aber noch immer an den vierteljährlichen Raten“, verrät der scheidende Vorsitzende. Der anvisierte Kunstrasenplatz musste aufgrund einer Kostenexplosion abgesagt werden. „Ein Verein kann ein Sportangebot stellen, aber von ihm kann nicht verlangt werden, dass er auch Sportanlagen erstellt“, betont „Haddy“ Suhr. „Wir sind Nutzer der Anlage, haben aber seit 2,5 Jahren keinen Vertrag und warten seit 4,5 Jahren auf eine Nebenkostenabrechnung für unseren Anbau.“ Fakten, die ihn angesichts der großen Zahl von 700 Jugendlichen unter den 1100 Mitgliedern des SC Weiche Flensburg 08 erregen.
Gerne spricht „Haddy“ Suhr über die 2017 erfolgte Fusion mit Flensburg 08. „Die Zusammenarbeit der Funktionäre funktioniert, wir ziehen an einem Strang“, sagt er. „Zwei Vereinssitze sind zwar ein kleiner Nachteil, aber das ist nicht anders zu lösen.“ Mit Freude registriert er, dass auch viele 08er nun im Manfred-Werner-Stadion erscheinen. „Der SC ist ein Glücksgriff für den Sport in Flensburg. Unsere Jugend-Mannschaften spielen nun alle in der höchsten Klasse.“ Das Fundament für die Zukunft ist gelegt.
Bericht: Jan Kirschner, Fotos: Benjamin Nolte, privat