In der Gartenstadt, wo die urbane Bebauung von Weiche auf ein Naturschutzgebiet trifft, lautet das Motto „Wohnen mit Service“. Ein Angebot, das sich an aktive Senioren richtet. Hier lebt seit wenigen Monaten Ruth Kurtzweg-Otte. Sie hat sich das gelb-blaue Dress des Leichtathletik-Klubs Weiche übergezogen und schreitet zum sogenannten Aktionsraum. Auf dem Weg dorthin sind einige Stufen zu nehmen. Ideal für einen Treppenlauf. In der kleinen Sportstätte angekommen dreht die Weicheranerin so richtig auf. Sie schwingt das Springseil, hüpft auf oder über markierte Linien. Das Tempo wird gedrosselt, dann wieder forciert. Man spürt: Hier will jemand sportlich angreifen. Das große Ziel: die deutsche Meisterschaft im Hammerwerfen der Altersklasse W70.

Ruth Kurtzweg-Otte Seilspringen

Die Leichtathletik spielte für Ruth Kurtzweg-Otte fast das ganze Leben eine große Rolle. Fast, wenn man die frühe Kindheit ausklammert. „Andere Menschen suchen in der Stammkneipe den gesellschaftlichen Anschluss, bei mir war es immer auf dem Sportplatz“, erzählt das Flensburger Urgestein, das als eine Schwichtenberg geboren wurde. Jahrgang 1953. Die frühe Nachkriegszeit, das sogenannte Wirtschaftswunder setzte ein. Die Eltern hatten in der Taubenstraße, im Norden Flensburgs, ein Gartenhäuschen zur kleinen Wohnung ausgebaut. Die alte Ziegelei und andere Industriebetriebe befanden sich in der Nähe, aber auch die Natur. Sieben kleine Berge bildeten eine Stadtrand-Idylle. Ebenso mehrere Teiche, die im Winter die Kinder zum Schlittschuhlaufen einluden.

Kindheit in Ramsharde

Vater Schwichtenberg war Polizist. Er und seine Familie waren zugleich weitgehend Selbstversorger. Im Garten wuchs viel Gemüse und reifte viel Obst. Ein Schwein, Kaninchen oder auch mal eine Ziege hatten in der Taubenstraße ihre Daseinsberechtigung. Und dann gab es noch „Puzzle“ und „Peter“. Das waren zwei kleine Füchse, die als Welpen von den Schwichtenbergs aufgezogen wurden und wie Haustiere gehalten wurde. Zwei tierische Stadtberühmtheiten, über die auch die Zeitung berichtete. „Die saßen auch in meinem Puppenwagen, und ich schob sie dann über unser Grundstück“, schmunzelt Ruth Kurtzweg-Otte.

Ruth Kurtzweg-Otte Findelfüchse
1950er: Findelfüchse

Sie kam in Ramsharde zur Schule und lernte mit der Schiefertafel Lesen und Schreiben. Nach der fünften Klasse bestand sie die schriftlichen und mündlichen Prüfungen, sodass sie zur Mädchen-Mittelschule am Südergraben wechseln konnte. Nach der Mittleren Reife begann sie eine Ausbildung zur Industriekauffrau – beim Gummi­strumpf-Produzenten Schiebler in der Marienallee.

Der Weg zur Leichtathletik

Da war schon längst der Sport der wichtigste Bestandteil der Freizeit der jungen Frau. Sie hatte ganz klassisch mit dem Kinderturnen begonnen. Schon als Siebenjährige schloss sie sich den Leichtathleten des TSV Vorwärts an. Unzählige Male übte sie auf dem Eckener Platz. „Wir hatten einen tollen Jugendtrainer, der gerade auch im sozialen Bereich sehr fähig war“, erinnert sich Ruth Kurtz-
weg-Otte.

Ruth Kurtzweg-Otte Porträt

1966 lockte der FTB mit dem Stadion in Mürwik und einer starken Leichtathletik-Gruppe. Die Perspektive und das eigene Talent legten den Wechsel nah. Ruth Schwichtenberg war 1967 die schnellste in Deutschland bei den Schülerinnen über 600 Meter. Kurz darauf stand sie in der Juniorinnen-Nationalmannschaft. Vielseitig begabt geriet sie in eine Bredouille. Als starke Kandidatin für die 400 Meter war sie von einem Bundestrainer für einen Lauf-Lehrgang nach Berlin eingeladen, ein anderer Offizieller trommelte die Mehrkämpferinnen in Dortmund zusammen. Das Nordlicht entschied sich für Westfalen, musste sich dort aber anhören: „Warum kommst du denn hierher?“

Von Flensburg nach Hamburg

1971 verließ die junge Frau Flensburg und ging nach Hamburg. Sie hatte einen jungen Mann kennengelernt, der später ihr erster Mann werden sollte. Schon vorher hatte sie in der Hansestadt bei der LG Nordwest eine Art „Zweitfamilie“ gefunden, wo sie bei Wettkämpfen häufiger übernachten konnte. 1972 wurde Ruth Schwichtenberg norddeutsche Meisterin im Weitsprung. 5,98 Meter – so die Weite. Im Sommer desselben Jahres nahm sie an den deutschen Meisterschaften teil, die in München ausgetragen wurden – eine Art Generalprobe vor den Olympischen Spielen. Die sechs Meter übertraf Ruth Schwichtenberg nur im Training, sie blieben im Wettkampf ein Traum. Es ging nicht weiter. Der Druck von außen machte sie mürbe. „Es wurden immer Leistungen, am liebsten Bestleistungen erwartet“, erinnert sich die Flensburgerin. Was sie heute weiß: Eine rheumatische Erkrankung war die Ursache ihres Leids.

Die nationale Spitze war für die Athletin so natürlich nicht zu erreichen. Der Sport blieb aber eine Lebensaufgabe. Sie war als Leichtathletik-Trainerin tätig und bei der Hamburger Sportjugend als Sachbearbeiterin beschäftigt, ehe sie auf die Geschäftsstelle des Eimsbütteler TV wechselte. Inzwischen hieß sie Ruth Kurtzweg. Tochter Swantje (1978) und Sohn Klaas (1980) erblickten das Licht der Welt. Für 1981 kündigte sich das dritte Kind an.

Private Zäsuren

Die Mutter hatte neue berufliche Pläne, absolvierte eine Ausbildung zur Hauswirtschaftlerin. Doch als Tochter Grietje geboren wurde, war plötzlich alles anders. Das kleine Mädchen hatte das Down-Syndrom. Die Inklusion war vor vier Dekaden noch ein Fremdwort: Es gab praktisch keine Förderungen und keine Unterstützungen, sondern eher boshafte Empfehlungen von Ärzten: „Lassen Sie das Kind am besten links liegen, aus dem wird sowieso nichts!“ Das war nichts für die Ohren von Ruth Kurtzweg. Sie setzte sich für ihre Tochter ein, die sich trotz der Beeinträchtigung gut entwickelte. Damit entstand zugleich ein Engagement der Mutter im Behindertensport und im sozialen Bereich. Ein Einsatz, der bis heute anhält.

Ruth Kurtzweg-Otte mit Tochter
Mit Tochter Grietje nach den Special Olympics

1986 eine private Zäsur: Die erste Ehe zerbrach. Ruth Kurtzweg kehrte mit allen drei Kindern zurück nach Flensburg. Vom Sport kannte sie Horst Otte. Die beiden waren schon in der Jugend befreundet, tauschten sich zuletzt aber nur Weihnachtsgrüße aus. „Ich musste reden, brauchte aber auch jemanden, der Abstand zur Familie hatte“, erinnert sich die 70-Jährige heute. Die beiden lernten sich immer besser kennen, mieteten in Weiche ein Reihenhaus in der Nikolaus-Matthiesen-Straße. Aus der Wohngemeinschaft wurde eine Lebensgemeinschaft. 1988 erklangen die Glocken der Hochzeit. „Wegen der Kinder behielt ich den Nachnamen ihres Vaters“, erklärt Ruth Kurtzweg-Otte.

Gründung des LK Weiche

Die Leichtathletik wurde wieder wichtig. Der Sportplatz in Tarp wurde zum zweiten Wohnzimmer der Familie. Alle waren mit Eifer dabei. Ruth Kurtz­weg-Otte glänzte als Allrounderin: Werfen, Springen und Laufen. „Irgendwann wurde mir die Fahrerei zu lästig“, erzählt sie.

Das war 1989. Inzwischen war die Familie im Stadtteil Weiche fest verwurzelt, hatte ein Häuschen im Holzkrugweg erworben. Nur wenige hundert Meter entfernt residierte der ETSV Weiche mit seinem großen Sportplatz in der Bredstedter Straße. Ruth Kurtzweg-Otte schlug eine Leichtathletik-Abteilung unter dem Dach eines großen Vereins vor. Sie sprach vor und verhandelte, doch monatelang tat sich nichts.

Ruth Kurtzweg-Otte  Waldlauf

Also brauchte es eine Alternative. In der eigenen Wohnstube wurde der Leichtathletik-Klub Weiche aus der Taufe gehoben. Er hatte 23 Gründungsmitglieder, und Ruth Kurtzweg-Otte fungierte als Vorsitzende. 16 Jahre sollte sie in diesem Amt bleiben. Am prägendsten waren die Anfänge. Sie führte einen Verein ohne Lobby. Da mussten 500 D-Mark aus der eigener Tasche genommen werden – für Stopp­uhren, Maßbänder, Kugeln und Bälle. Gelaufen wurde am Mückenwaldteich. Mit etwas Vitamin B ließ sich eine Stunde in der alten Sporthalle der Unesco-Schule organisieren. Sie war durchaus für Hochsprung geeignet. Die Matten ließen sich auch für den Weitsprung verwenden. Dazu ein paar Bewegungsübungen – für größere Ansprüche war diese Sportstätte einfach zu klein.

Trotz aller Widrigkeiten: Der LK Weiche wuchs. Heute zählt er 300 Mitglieder, was sehr respektabel ist für einen Einspartenverein. Das Stadion in Mürwik fungiert als Hauptstandort. Der ETSV klopfte später an, wollte dann doch eine Abteilung einrichten. Doch da war für Ruth Kurtzweg-Otte der Zug abgefahren. Sie erzählt, dass der LK Weiche bis zum heutigen Tag „keine offiziellen Trainingszeiten“ im Stadtteil hat. Nur auf Goodwill-Basis gibt es eine Stunde in der neuen Sporthalle und anderthalb Stunden im Manfred-Werner-Stadion, wo die Laufbahn inzwischen von einer Zuschauertribüne zugestellt ist.

Integrative Strukturen

Ruth Kurtzweg-Otte interpretierte ihren Verein immer als integrative Oase und öffnete ihn auch für Menschen mit Behinderung. Tochter Grietje mischte natürlich mit. Längst hat sich in der Behindertenwerkstatt „Holländerhof“ eine Leichtathletik-Gruppe etabliert. Es gab Down-Syndrom-Sportfeste im Stadion oder auf dem PSV-Sportplatz, ehe sie durch die Corona-Pandemie gestoppt wurden. Ob es bald ein Comeback geben wird? Die Holländerhof-Gruppe hat in jedem Fall die Lockdown-Phase überstanden, ist aber kleiner geworden – und älter. Ein Teilnehmer läuft inzwischen mit dem Rollator um die Slalomstangen. An der Grundmotivation hat sich aber nichts geändert. „Die kommen bei Wind und Wetter“, erzählt Ruth Kurtzweg-Otte. „Es ist die dankbarste Gruppe, niemand hat Ansprüche an mich.“ Immer wieder hört sie: „Du kommst freiwillig, dann müssen wir auch kommen.“

Ruth Kurtzweg-Otte  Down Syndrom Sportfest
Beim Ersten Down Syndrom Sortfest

Eine Hammer-Entdeckung

Vor rund 30 Jahren machte die Leichtathletik-Enthusiastin eine andere folgenreiche Beobachtung. Beim TSV Medelby warf eine ältere Frau den Hammer. Damals steckte diese Disziplin für Frauen noch in den absoluten Kinderschuhen.

Ruth Kurtzweg-Otte  Werferfünfkampf

Neugierig geworden griff sich Ruth Kurtzweg-Otte ein Gerät, wollte es schleudern, geriet dabei aber aus dem Gleichgewicht. Wie weit der Hammer flog, weiß sie nicht mehr, aber sehr wohl wie sie auf dem Hosenboden saß. Neugier und Ehrgeiz waren gleichermaßen geweckt.

Die Vier-Kilo-Version beförderte die Weicheranerin bald auf 38 Meter. Sie war die erste Rekordhalterin und Landesmeisterin Schleswig-Holsteins. Als sie 40 wurde, musste sie nur noch einen Drei-Kilo-Hammer schleudern – und er flog über 40 Meter. Vor wenigen Monaten stand Ruth Kurtzweg-Otte das bislang letzte Mal im Wurfring: 26 Meter.

Mit 70 Jahren ist sie anfälliger geworden. Schmerzen und die alte rheumatische Erkrankung. Klein bei gibt sie nicht. „Sport ist wichtig“, betont sie. „Man braucht die Bewegung, sonst wird man steif.“ Die Sportlerin will sich nicht zurückziehen, sie hat die norddeutsche Senioren-Meisterschaft im Blick. 2019 war sie schon einmal ganz dicht dran, als sie mit Tochter Grietje zum Abschlusstraining nach Medelby fuhr. „Ganz vorsichtig sollte es sein, wir wollten nichts riskieren“, erzählt die Flensburgerin. Der vorletzte Wurf missglückte ihr jedoch völlig, und eine Sehne in der Schulter war angerissen. Sie fuhr trotzdem nach Berlin – aber nur um ihre Tochter zu unterstützen, die trotz Down-Syndroms erstmals bei „normalen“ Titelkämpfen startete.

Engagement in vielen Bereichen

Das Ehrenamt gehörte für Ruth Kurtz­weg-Otte stets zum guten Ton im Sport, aber auch in anderen Bereichen. In ihrer Hamburger Zeit betreute sie für das „Rote Kreuz“ Kinder und kümmerte sich für eine Kirchengemeinde um ältere Mitmenschen. Viel später besuchte sie ihre mittlerweile verstorbene Mutter im Flensburger Seniorenheim „Valentinerhof“. Sie nahm dann immer eine Gitarre mit. Sie sang bald auch für andere Bewohner oder las etwas vor. „Das machte mir auch selbst viel Spaß“, erzählt Ruth Kurtzweg-Otte.

Ruth Kurtzweg-Otte 2023

Über die Tochter kam sie in den Behindertenbereich, war aktiv im Verein „Lebenshilfe“. Kurse und Elternbegleitung standen auf der Agenda. Immer wieder greift sie zu Farben und Pinsel und lässt schöne Stillleben entstehen. Die Passion für das Malen weitet sich auf den „Holländerhof“ aus. Mit einer Gruppe organisierte die Weicheranerin sogar Ausstellungen in der Heilandskapelle. Sie hat viele Ideen für eine richtige Inklusion. „Die Wunschliste ist lang, die Umsetzung aber schwierig“, sagt Ruth Kurtzweg-Otte.

Ruth Kurtzweg-Otte Rente

Im Aktivitätshaus der Gartenstadt war sie bis 2019 im Bereich der Freizeitgestaltung tätig. Nun lebt sie selbst in unmittelbarer Nachbarschaft. Haus und Garten wurden zu viel. Für den Lebensabend entschieden sie und ihr Mann sich für das „Wohnen mit Service“. Vor kurzem wurde eine Wohneinheit frei, und der einst zugelaufene Kater „Graui“ kam mit.

In letzter Zeit wurde Ruth Kurtzweg-Otte wieder aktiver. Die Familie hat den höchsten Stellenwert, was sich bisweilen in einem Bringdienst für die Enkelkinder widerspiegelt. Das Seniorenheim „Valentinerhof“ unterstützt sie nun mit einer wöchentlichen Hocker-Gymnastik. Das eigene Training vernachlässigt Ruth Kurtzweg-Otte nicht. Drei Mal die Woche geht sie die Treppe hinunter zum Aktionsraum, um sich sportlich zu betätigen. Oder sie läuft im nahen Naturschutzgebiet. Die enthusiastische Leichtathletin reduzierte vor einigen Monaten ihr Gewicht. Nun ist sie fest entschlossen: Sie will die deutsche Meisterschaft im Hammerwerfen.

Text und Fotos: Jan Kirschner   

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