Das Flensburger Stadion ist an diesem Nachmittag ein einsamer Ort. Aber wer sucht, der findet. Einmal die kleine Schranke rechts vom Gebäude-Trakt passieren, ins „Türmchen“, die Beton-Wendeltruppe hoch, nach links und dann einen Gang entlang – die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass hier eine Tür geöffnet ist. Nämlich die zum Büro der „Betriebsgemeinschaft Flensburger Stadion“. Dort sitzt Michael Draeger häufiger. Er ist der Vorsitzende des eingetragenen Vereins, der schon 2006 gegründet wurde, um das Stadion in Mürwik in einem betriebsfähigen Zustand zu erhalten und weiterzuentwickeln. Für den aktuellen Vorsitzenden, der sich als Verwaltungsbeamter über viele Jahre mit den Immobilien und Grundstücken der Stadt beschäftigte, kein fremdes Metier.
Der Blick schweift aus dem Fenster. Eigentlich sollten die Sanierungsarbeiten abgeschlossen sein, doch die Laufbahn ist immer noch nicht fertig. Es gab Lieferschwierigkeiten im Herbst, dann war die Witterung einfach zu ungünstig. Jetzt wird es mit einer Einweihung wohl erst im Mai etwas. Schon jetzt kündigt sich ein neues Projekt an, das einige Termine beanspruchen wird: Die alte Tribüne mit ihren 900 Sitzplätzen soll erneuert werden. Mit Geldern von Bund und Land. Insgesamt fasst das Stadion offiziell 4.999 Zuschauer. Mehr lassen die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht zu. Michael Draeger hat ganz andere Zeiten erlebt und erzählt, als Flensburg 08 vor fünf Dekaden häufiger um die 10.000 Fußball-Enthusiasten anlockte. Auch nach so langer Zeit hat er die Anfeuerungsrufe noch im Ohr.
Aufgewachsen im Norden Flensburgs
Keine Frage: Der 71-Jährige ist ein eingefleischter Flensburger, ja sogar ein gebürtiger. Er erzählt fast mit einem beichtenden Unterton von zwei kurzen Unterbrechungen, die eigentlich gar keine Episode in der Fremde waren. „Für jeweils eine kurze Zeit wohnte ich in Harrislee und später in Freienwill“, erzählt er. Jetzt heißt es für Michael Draeger aber „back to the roots“. Er wohnt wieder im Johannisviertel. Seine ersten Kindheitserinnerungen verbindet er mit der Waitzstraße und einer alten, weißen Villa, in der sich damals auch die Kreiskrankenkasse befand.
Aufgewachsen ist Michael Draeger im Norden der Stadt. Apenrader Straße, Vereinsstraße und Steinstraße waren ein magisches Dreieck der Jugend. Der Junge besuchte zunächst die Petrischule. Die sportlichen Hobbys waren Handball, Badminton und vor allem Tischtennis beim TTC Ramsharde. Als die Lust auf die kleinen Zelluloid-Bälle nachließ, entdeckte der Teenager die Begeisterung für den Tanzsport und nahm auch an etlichen Turnieren teil.
Die Schulzeit schloss Michael Draeger mit 16 Jahren an der Hebbelschule ab. Dabei handelte es sich um eine Knaben-Mittelschule auf dem Kanonenberg, die heutzutage als zweites Gebäude der Auguste-Viktoria-Schule genutzt wird. In den 60er Jahren bot der Flur im ausgebauten Keller nette Eindrücke vom Pausenhof des benachbarten Gymnasiums, das damals nur Mädchen aufnahm. In der siebten und achten Klasse allerdings fand der Unterricht in notdürftig aufgestellten Baracken statt. „Im Winter hat man gefroren, und im Sommer war es da drinnen verdammt heiß“, erinnert sich Michael Draeger.
Eine Ausbildung bei der Stadt
1968 hatte er die Mittlere Reife, der Berufswunsch war unklar. „Die Jugend von heute reist dann erst einmal für ein Jahr nach Australien, um sich dort entsprechende Gedanken über den weiteren Lebensweg zu machen“, erzählt der Flensburger mit einem Schmunzeln. „Wir hatten damals nicht das Geld für so weite Reisen und versuchten deshalb irgendeine Ausbildung zu bekommen.“ Banken und Sparkasse standen im Fokus – aber ohne Erfolg. Dann hatte die Großtante einen Ratschlag: „Junge, die Stadt sucht Leute!“
Ein Geheim-Tipp war das allerdings nicht. Insgesamt 89 Bewerber mussten sich im Diktat oder bei Mathe-Aufgaben beweisen, dann korrigierten die städtischen Mitarbeiter die Tests. Elf Kandidaten qualifizierten sich für die nächste Runde an der Verwaltungsschule in Bordesholm. Nach zwei Tagen hatte ein Quintett das große Los gezogen: eine zweijährige Ausbildung in der Flensburger Stadtverwaltung. Michael Draeger gehörte dazu und durfte danach drei Jahre als Inspektoren-Anwärter draufpacken. Im noch recht neuen Rathaus durchwanderte er viele Stockwerke und sammelte vor allem in der Sozialverwaltung und im Ordnungsamt Erfahrungen.
Er wurde Beamter im gehobenen Dienst und wechselte 1983 ins Liegenschaftsamt. Was für Außenstehende nach einem gewöhnlichen Verwaltungsalltag klingt, entpuppte sich als eine spannende Aufgabe. Michael Draeger fühlte sich als eine Art „städtischer Makler“, der sich mit Pachtverhältnissen und Kaufverträgen beschäftigt, Grundstücke erwirbt und veräußert, Gebäude vermietet oder anmietet.
In jener Zeit zeigte er auch im privaten Bereich eine kleine kaufmännische Ader. Er betätigte sich als Antiquitäten-Händler, kaufte alte Schränke oder Bilderrahmen, polierte sie mit zwei Mitstreitern auf – und die fanden dann auf Märkten in der Bundesrepublik neue Liebhaber. „Einmal waren wir bei einer Wohnungsauflösung sehr günstig an gute Antiquitäten gekommen“, verrät das Flensburger Urgestein. „Wir versuchten, alles für etwas mehr zu verkaufen. Diese Hudelei brachte schon Spaß.“
An vielen städtischen Projekten beteiligt
Für die Stadt Flensburg hatte Michael Draeger deutlich größere Vorhaben zu begleiten. Wenn er jetzt durch die Stadt fährt oder geht, denkt er immer wieder: „Stimmt, daran war ich ja auch beteiligt!“ Besonders dicke Bretter mussten für die Flensburg-Galerie, die sich über etliche Grundstücke erstreckt, durchbohrt werden. Der Verwaltungsbeamte hatte mit den Investoren den Vertrag besprochen und entwickelt. Das war kein Werk, das auf nur drei Seiten passte. Wenn er die Einkaufspassage heute betritt, kommt ihm manchmal der Gedanke, ob alles so geworden ist, wie sich der einstige Oberbürgermeister Hermann Stell dieses Leuchtturm-Projekt vorgestellt hatte.
Ein großes Thema der 90er Jahre – und auch nach der Jahrtausendwende – war der Wohnungsmarkt. „Wir stellten uns immer die Frage, warum Menschen ins Umland abwandern würden, obwohl sie dort zwei Autos benötigten“, erzählt Michael Draeger. Die Stadt initiierte die Messe „Bauen in Flensburg“, bei der Bauunternehmen und Privatkunden einen regen Austausch pflegten, und zählte bis zu 4000 Besucher im Rathaus. In Erinnerung blieb auch, wie 1999 – bei der ersten Auflage – die Gartenstadt Weiche das Europa-Zimmer in Beschlag nahm. Dieses spannende Konversionsprojekt sollte ein Militärgelände in eine florierende Siedlung für rund 3000 Menschen verwandeln. In jener Zeit wurden die ökologischen Aspekte wichtiger. Michael Draeger erinnert sich gut, wie im einstigen Neubaugebiet „Am Goldregen“ erstmals ein nachhaltiges Entwässerungssystem, begrünte Dächer und Niedrigenergiehäuser vorgesehen waren. Und das Regenwasser wurde in Zisternen gesammelt, um es dann für die Waschmaschine zu nutzen.
Wechsel in den städtischen Abteilungen
Er selbst unterstützte 2006 die Bürgermeister-Riege dabei, den neuen großen städtischen Ableger „Kommunale Immobilien“ aufzubauen, bewarb sich dann aber für die Leitung des Rechnungsprüfungsamtes. „Es werden weniger Belege gesichtet, sondern hauptsächlich organisatorische und rechtliche Vorgänge überprüft“, sagt Michael Draeger. „Ich bekam sehr viele Einblicke in das Verwaltungswesen.“ 2010 lockte aber der Bereich „Umwelt und Planung“ mit dem Einstieg in den höheren Dienst. 2012 übernahm Michael Draeger doch noch die „Kommunalen Immobilien“.
Bis zum Ruhestand 2017 hatte er für diesen städtischen Sektor, den immerhin 110 Mitarbeiter und eine Bilanzsumme von 250 Millionen Euro prägten, stets die Wirtschaftlichkeit im Blick. Neben internen Organisationsstrukturen ging es um städtisches Gebäude-Management. Die Bauunterhaltskosten waren in jener Zeit auf ein Minimum gesenkt worden. Nun rückte eine steuerbare Grundlage in den Vordergrund, um den entstandenen Investitionstau zu lösen. Ingenieure begutachteten die städtischen Immobilien, schufen eine Art Kataster und ermittelten einen Sanierungsrückstand im höheren zweistelligen Millionenbereich. Michael Draeger brachte die Neubauten für zwei Grundschulen und einen Kindergarten noch mit auf den Weg. Und 2015, als zunächst Sporthallen die vielen Flüchtlinge beherbergten, begab sich der Verwaltungsbeamte häufiger nach Dänemark – stets auf der Suche nach geeigneten Container-Komplexen. Auf der Exe entstand eine Übergangslösung für die Flüchtlinge, an drei anderen Stellen im Stadtgebiet längerfristige Unterkünfte.
Berührungspunkte mit dem Stadion
Als Leiter der „Kommunalen Immobilien“ hatte Michael Draeger auch mit dem Flensburger Stadion zu tun. Es entstand vor rund einer Dekade ein neues Konzept – auch um den Anforderungen des Profi-Fußballs gerecht zu werden. Zwischenzeitlich roch es nach einem großen Schuss, dann verschwand aber alles in der Schublade. War alles eine Nummer zu groß für die Stadt? War die Verkehrserschließung an diesem Standort nicht umsetzbar? Oder mangelte es einfach an Sportler-Herzen im Rathaus? Jetzt läuft immerhin eine Sanierung des Hauptplatzes und der Leichtathletik-Infrastruktur.
Dass sich Michael Draeger nun selbst als Vorsitzender für das Stadion einbringt, ist ein Zufall des Ruhestands. Ehrenamt war für ihn nie ein Fremdwort. Einst war er Landesjugendwart im Tanzen oder für den Sportverband Flensburg tätig. Und als Sohn Simon sich zum sehr guten Schwimmer mauserte, engagierte sich der Vater als Vorsitzender des Flensburger Schwimmklubs – obwohl er sich selbst nicht als eine Wasserratte bezeichnen würde. Zusammen mit dem TSB Flensburg setzte sich der FSK für eine 50-Meter-Bahn im Campusbad ein. Ein aufwändiges Ziel.
Als Michael Draeger dann in den Ruhestand eintrat, meinten andere: „Jetzt sehen wir dich bestimmt in einem Ehrenamt wieder.“ Das schloss er damals aus, dachte aber insgeheim: „Der Trägerverein für das Stadion würde mich reizen.“ Den Vorgänger der „Betriebsgemeinschaft Flensburger Stadion“ hatte er schließlich einst selbst – als städtischer Beamter – bei der Gründung und in den ersten Jahren begleitet. Dabei handelt es sich um eine Sammelorganisation von zehn Sportvereinen, die die Sportstätte nutzen. „Das ist kein Sportverein“, betont Michael Draeger. „Es geht hauptsächlich um Immobilien-Management und die Pflege des Stadions, die ja eine städtische Liegenschaft ist.“
Aufgaben der „Betriebsgemeinschaft Flensburger Stadion“
Im Prinzip hat der 71-Jährige nun eine ähnliche Aufgabe wie früher als Beamter der Stadt. Eine dreijährige Pause hatte er sich aber gegönnt. Im August 2020 war er gerade von einer Rücken-OP aus München zurückgekehrt, als Frerich Eilts anrief. Der Vorsitzende des TSB Flensburg erzählte von einer Vakanz und der Suche nach einem neuen Vorsitzenden – ausgerechnet für den Trägerverein. Nur fünf Tage später war Michael Draeger gewählt. Und bald hatte diese Vereinigung den heutigen Namen – um zu verdeutlichen, dass die „Betriebsgemeinschaft Flensburger Stadion“ kein Sportverein ist.
Der neue Vorsitzende war schnell auf Betriebstemperatur – und das mitten in der Corona-Zeit. Ein kurzer Draht zum Gesundheitsamt sollte klären, wie während der Pandemie der Sportbetrieb zu bewerkstelligen wäre. Die Infektionsspender erforderten den geringsten Aufwand. Für die ständige Reinigung der 19 Umkleidekabinen hingegen mussten fünf zusätzliche Mini-Jobber beschäftigt werden. Beim finanziellen Mehraufwand stand zunächst die Stadt zur Seite, am Ende aber nicht mehr.
Das Geld ist knapp. 240.000 Euro an jährlichen Personalkosten muss die „Betriebsgemeinschaft Flensburger Stadion“ allein für ein engagiertes Team, darunter drei hauptamtliche Platzwarte, aufbringen. Die Stadt steuerte zuletzt 310.000 Euro bei, mit denen auch die steigenden Kosten für Energie und Wasserbrauch gedeckt werden müssen. „Wenn die Stadt den Zuschuss nicht erhöht, dann sind wir im September nicht mehr liquide“, betont Michael Draeger. Er referierte unlängst im städtischen Sportausschuss. Als dem Stadion im Herbst das Wasser bis zum Hals stand, half Flensburg kurzfristig mit 30.000 Euro aus. „Mit dem Jahresbeginn war dieser Betrag von der üblichen Zahlung für das erste halbe Jahr jedoch wieder abgezogen“, entdeckte der Funktionär und stellt klar: „Wir machen das Ganze nicht für uns, sondern für die Stadt.“
Es gibt auch eine Eigenbewirtschaftung. Der Kunstrasenplatz wird an Sportgruppen, die in der benachbarten Jugendherberge nächtigen, vermietet oder das ganze Stadion für ein großes Bundeswehr-Gelöbnis. 2023 kamen so immerhin 50.000 Euro zusammen. Gerade wurde daraus eine Video-Überwachung finanziert und installiert – als Antwort auf einen zunehmenden Vandalismus. Der Fuhrpark umfasst Schlepper, Trecker oder auch einen Großflächenrasenmäher. Die neueste Erwerbung ist eine Kunstrasen-Pflegemaschine. „Ein Fremddienstleister würde uns zwei Mal im Jahr 5000 Euro kosten, jetzt können wir alle zwei Wochen selbst zur Tat schreiten“, erklärt Michael Draeger. Er ist häufig im Büro und schätzt die Arbeitsteilung mit den beiden Vorstandskolleginnen Susanne Braas und Doris Kempe.
Enkeltochter, Tanzen und Kochen
Dieses Ehrenamt und ein munteres Privatleben füllen den Terminkalender. Michael Draeger hat seit anderthalb Jahren eine Enkeltochter und fährt einmal die Woche mit dem Zug nach Hamburg, um die Kleine zu betreuen. In Flensburg schwingt der Großvater wieder das Tanzbein. „30 Jahre später, 30 Kilo schwerer“, schmunzelt er. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin begibt sich Michael Draeger einmal die Woche zum Training in die Raiffeisenstraße („Dance Now“), um Standard und Latein zu tanzen. Jedes Mal fragt er sich: „Wie war das noch einmal letzte Woche, wie genau geht es mit der Folge?“
Seit 25 Jahren gehört der gebürtige Flensburger einem Männer-Kochklub („Pütt & Pann“) an, der sich alle zwei Wochen trifft. Reihum werden die unterschiedlichsten Rezepte an den Kochkojen der Unesco-Schule in Weiche ausprobiert – mal vegetarisch, dann gutbürgerlich oder südländisch. „Einmal im Jahr laden wir unsere Frauen ein“, erzählt Michael Draeger. „In der Heilandskapelle tischen wir dann ein griechisches Büffet auf oder servieren Gerichte aus allen Bundesländern.“ Das sind Kostproben eines Ruhestandes, der eigentlich keiner ist.
Text: Jan Kirschner
Fotos: privat, Jan Kirschner