Keine Frage: Das Flensborghus gehört zu den architektonischen Blickfängen der Norderstraße. Der Altbau aus dem 18. Jahrhundert dient seit der Volksabstimmung und der daraus folgenden Grenzziehung von 1920 der dänischen Minderheit als Kultur- und Versammlungsstätte. Im Erdgeschoss befindet sich ein größerer Konferenzraum, dessen Stirn ein Dutzend Gemälde zieren. Sie zeigen prägende Personen der dänisch gesinnten Bevölkerung in der Historie. Schnell wird klar: Das ist ein guter Ort, um mit einem Kopf der dänischen Minderheit der heutigen Zeit zu sprechen – mit Lars Erik Bethge.

Lars Erik Bethge im „Clubzimmer” des Flensborghus

Er fühlt sich als echter Flensburger. Ein gebürtiger ist er noch dazu, denn er zählt zu den Flensburger Krankenhausgeburten des Jahrgangs 1970. Die ersten Kindheitserinnerungen sind mit Harrislee und Kupfermühle verbunden, dann zog die Familie auf den Friesischen Berg. Der kleine ABC-Schütze besuchte zunächst im Südergraben die Christian-Paulsen-Skolen, wo sein Vater als Lehrer tätig war. Direkt nebenan stand ein klassisches Gymnasium. Heutzutage gehören Kooperation und Austausch der dänischen und deutschen Schulen zum Alltag. In den 80er Jahren war die Nachbarschaft noch ein Nebenher. „Das war doch ziemlich streng getrennt“, erinnert sich Lars Erik Bethge.
Zu Hause sprach er Dänisch, seine Muttersprache. Deutsch lernte er von anderen Kindern beim Spielen auf der Straße. Nach der Orientierungsstufe wechselte er auf die Duborg-Skolen. Der Heranwachsende nahm Flensburg als Tor nach Skandinavien wahr – und als Hort dänischer Kultur. Im Unterricht wurden dänische Unterrichtsmaterialien verwendet. Der Lernstoff in Geschichte beispielsweise drehte sich zunächst um die Region, dann um Dänemark und nahm erst später die deutsche Historie in den Fokus. Auch in der Freizeit blieb man zumeist „unter sich“. Lars Erik Bethge spielte Handball bei Stjernen und Volleyball bei DGF. Erst als er sich ins Flensburger Nachtleben wagte, entstanden auch Freundschaften zu anderen Jungen, die kein Dänisch sprachen.

Job in Stockholm, Zivildienst in Flensburg

1989 legte der junge Mann das Abitur ab und feierte es mit den üblichen Ritualen: Ein Bad im Neptunbrunnen am Nordermarkt und ein Empfang beim dänischen Generalkonsul im Nordergraben. Über seinen weiteren Werdegang war sich Lars Erik Bethge noch nicht ganz klar. Der Austausch eines nordischen Vereins brachte ihm einen Job in einem Stockholmer Altersheim. Zudem übte er sich als Lehrer-Vertretung. Mit einer Flensburger Klasse weilte er in Kopenhagen. Und in einer kleinen dänischen Schule auf Föhr stand der 19-Jährige einer altersgemischten Klasse gegenüber. „Da wusste ich, dass ich niemals Lehrer werden würde“, schmunzelt Lars Erik Bethge heute.
Überraschenderweise hatte sich das Kreiswehrersatzamt nicht gemeldet. Würde er um die Wehrpflicht herumkommen? Er ging zum Studium nach Aarhus und fing mit dem Fach „Staatswissenschaften“ an. Dann wurde der Flensburger doch eingezogen. Er kehrte für den Zivildienst in seine Heimatstadt zurück. In der damaligen „Klinik Süd“ hatte die Stadt eine Geriatrie-Abteilung aufgebaut. Die Krankenkasse entdeckte allerdings einen zu starken Pflege-Schwerpunkt und schloss das Krankenhaus.

Plötzlich in Franken

Lars Erik Bethge stand plötzlich ohne Zivi-Stelle dar, hatte aber eine junge Frau aus Erlangen kennengelernt. In Franken gab es tatsächlich einen Platz in der Unfallchirurgie. „Nachdem ich in Flensburg nur mit Menschen zu tun hatte, die ihre besten Tage hinter sich hatten, wurden nun Patienten schwer verletzt eingeliefert und konnten möglichst gesund wieder nach Hause geschickt werden – das war erbaulicher“, erinnert er sich.
Nach dem Ersatzdienst blieb das Nordlicht im Süden. „Hätte mir jemand zwei Jahre vorher gesagt, dass ich südlich von Flensburg leben würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt“, erzählt Lars Erik Bethge. „Dort war es auch schön. Ich bin durch Flensburg geprägt, und mir gefallen deshalb Städte mit historischem Kern, wie Erlangen oder Nürnberg.“ Er pendelte nun stets ins nahegelegene Nürnberg, wo er Sozialwirtschaft – eine Mischung aus Volkswirtschaft und Sozialwissenschaften studierte. Mit dem Vordiplom in der Tasche entschied er sich für eine Zäsur. Er zog nach Bielefeld. Baulich ist die Westfalen-Metropole zwar weniger erbaulich, aber die Ausrichtung der akademischen Lehre reizte. „Zwischen Sankt Petersburg und Chicago gab es sonst keine Universität, die eine soziologische Fakultät hatte. Dort konnte man sich weit mehr spezialisieren als anderswo“, erklärt Lars Erik Bethge. Fortan „bastelte“ er an einem Diplom für Soziologie.

Im Dienste des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW)

Für ein Praktikum streute er einen Abstecher in den Norden ein. In den 80er Jahren hatte er in Flensburg die SSW-Jugendabteilung mitaufgebaut und die Wahlkämpfe für die Landtagswahlen unterstützt. So entstand auch ein enger Draht zur SSW-Ikone Karl Otto Meyer, die bis 1996 dem schleswig-holsteinischen Landtag angehörte. Lars Erik Bethge arbeitete für die Landtagsfraktion in Kiel und schrieb Reden. Ihm gefiel es so gut, dass er das Studium unterbrach und ein Jahr blieb. Er war wieder oft in Flensburg, da der SSW traditionell im nördlichen Landesteil verankert ist, und bezog eine Wohnung in der Flensburger Schlossstraße. Danach ging es zurück nach Bielefeld mit monatlichen Abstechern zur Landtagstagung in Kiel.
Was er da vielleicht schon ahnte: Als er 1999 sein Studium erfolgreich beendet hatte, konnte er sofort in die berufliche Laufbahn beim SSW einsteigen. „Es gab in Bielefeld rund 160 Absolventen der Soziologie, aber nur sehr wenige hatten sofort eine Arbeit – der eine davon war ich“, erzählt Lars Erik Bethge mit ein wenig Stolz. Während sich viele Kommilitonen zunächst mit Taxifahren und anderen Gelegenheitsjobs über Wasser hielten, unterstützte der Flensburger als wissenschaftlicher Assistent mit zwei Kollegen die damalige SSW-Landtagsabgeordnete Anke Sporendoonk, die damals allein für ihre Partei im Kieler Landtag saß. Lars Erik Bethge beackerte die Felder Innenpolitik, Kultur und Soziales. „Wir waren eine kleine Gruppe, aber jeder konnte etwas bewegen und man bekam sehr viel mit“, erinnert er sich.
Nebenbei stieg er in die Flensburger Kommunalpolitik ein. Anfang des Jahrtausends war er als bürgerliches Mitglied im städtischen Sozial- und Gesundheitsausschuss tätig. Bei der Wahl 2003 errang der Novize sogar das Direktmandat auf Duburg. Der SSW machte sich stark für eine städtische Gesundheitsplanung. Eine Stelle wurde ausgeschrieben. Wie es der Zufall wollte, kam seine heutige Frau Beatrice, die aus Thüringen stammt deshalb aus Berlin in den hohen Norden. Das Paar lernte sich kennen, zog in Engelsby zusammen. Die Kinder Arvid (2006) und Esther (2010) erblickten das Licht der Welt. „Sie wachsen zweisprachig auf“, verrät Lars Erik Bethge. „Meine Frau spricht Deutsch mit ihnen und ich Dänisch.“

Aufgaben als Sprecher

Die Kommunalpolitik blieb eine Episode. Er war voll in Kiel gefordert. Der SSW hatte inzwischen drei Abgeordnete, sodass sich der SSW 2003 neu aufstellte. Lars Erik Bethge wurde Sprecher des SSW und der Landtagsfraktion. Damit wurde er im Frühling 2005 zum Zeitzeugen einer dramatischen Regierungsbildung. Die SPD und die Grünen hatten keine Mehrheit mehr, der SSW bot die Unterstützung für eine Minderheitsregierung an. Die Stimmung war extrem aufgeheizt: Die SSW-Abgeordneten waren mit Morddrohungen konfrontiert und mussten notgedrungen mit Personenschutz leben. Der SSW-Sprecher saß bei den Verhandlungen mit am Tisch und verfolgte dann vom Fraktionsbüro aus die Wahlgänge. Das Ende ist bekannt: Ministerpräsidentin Heide Simonis fiel mehrmals durch und musste abtreten. Bislang wurde nicht aufgeklärt, wo der oder die Abweichler saßen. Lars Erik Bethge resümiert im Rückblick: „Das skandinavische Modell, mit wechselnden Mehrheiten gute Lösungen zu finden, wird in Deutschland weder verstanden noch akzeptiert.“
Ab 2012 trat der SSW in die Regierungsverantwortung. Mit SPD und Grünen bildete die Partei der dänischen Minderheit die „Küstenkoalition“. Lars Erik Bethge wurde zum stellvertretenden Regierungssprecher ernannt und war nun direkt beim Ministerpräsidenten angesiedelt. Er saß mit am Tisch, wenn die Staatssekretäre und das Kabinett tagten. Außerdem begleitete er den Ministerpräsidenten Torsten Albig zu öffentlichen Terminen. „Man erhält tiefe Einblicke in die verschiedensten politischen Themenbereiche, weil man die Politik ja vertreten und erklären soll“, erklärt der ehemalige Regierungssprecher. „Ich lernte Ecken und Winkel Schleswig-Holsteins kennen, die ich sonst nie zu Gesicht bekommen hätte, und mir begegneten faszinierende Menschen in den Unternehmen, sozialen Einrichtungen, Kommunen und Vereinen, die mir ansonsten nie über den Weg gelaufen wären.“ In jener Zeit hatte Lars Erik Bethge sogar mal eine Wohnung in Kiel. Doch diese löste er nach zwei Jahren wieder auf, da er fast immer nach Flensburg zurückfuhr. „Die Kinder waren klein“, erwähnt er mit einem Lächeln.

Buchautor und Kultur

2017 endete die Kieler Zeit abrupt. Bei den Landtagswahlen verlor das Bündnis aus SPD, Grünen und SSW seine Mehrheit. Es bildete sich eine neue Regierung – ohne SSW-Beteiligung. Lars Erik Bethge hatte vor der Wahl auf einen Ministerposten gehofft, nun war er plötzlich arbeitslos. Rasch arrangierte er sich mit der neuen Situation. „Endlich hatte ich Zeit ein Buch über einen väterlichen Freund zu schreiben“, berichtet der Flensburger. „Die Idee hatte ich schon lange, nun hatte ich die Gelegenheit.“ Es entstand eine Biografie über den väterlichen Freund Holger Hattesen und dessen Vater Peter – mit viel Flensburger Lokalkolorit, Kunst und Geschichte. Von den 30er bis zu den 90er Jahren. „Es geht nicht zuletzt um das Verhältnis von Dänen und Deutschen in der Region und um Flensburg während der Nazi-Diktatur“, erklärt der Autor. „Jetzt, wo die Zeitzeugen aussterben, hat meine Generation die Aufgabe zu verhindern, dass es nicht zu einer fernen Vergangenheit wird und sich so etwas in anderer Weise wiederholt.“ 2019 war das Werk geschrieben, gesetzt und gedruckt.
Es gab eine Buch-Präsentation im Flensborghus. Da war Lars Erik Bethge inzwischen häufiger anzutreffen – als Kommunikationschef beim „Sydslesvigsk Forening“. Der SSF ist die Basisorganisation für die dänische Minderheit im Landesteil und auch eine große Kulturagentur. „Konzerte, Theater und Ausstellungen bilden ein umfangreiches Programm für die ganze Region“, erwähnt Lars Erik Bethge. „Gerade zu den Konzerten kommen auch viele Menschen, die Dänisch gar nicht beherrschen. Es ist eine Bereicherung für alle in Flensburg.“

Museumsleiter eines Weltkulturerbes

Sehr bald entdeckte er eine neue „Traum­aufgabe“. Geschichte fand er immer interessant, als Kind wollte er mal Archäologe werden. Im Februar 2020 wurde er Leiter des „Danevirke Museum“, das vom SSF betrieben wird. Ganz ohne Geschichtsstudium? „Wir forschen nicht, wir vermitteln Geschichte“, erklärt Lars Erik Bethge. „Als Sprecher in der Politik war es ähnlich. Auch da musste ich Fachinformationen so übersetzen, dass es normale Menschen verstehen konnten.“ Nun war sein Objekt ein Weltkulturerbe, doch nach wenigen Wochen schlossen sich die Türen. Der Corona-Lockdown!
Die Zwangspause hatte auch etwas Gutes. Der neue Museumsleiter konnte sich so richtig in die Thematik einarbeiten. Dabei verfasste er insgesamt vier Bücher – jeweils zwei in dänischer und deutscher Sprache – über das Danewerk. Zusammen mit seinem Vorgänger trug er das Wissen über die historische Befestigungsanlage zusammen und befreite es vom Ballast nationaler Überhöhungen früherer Epochen. „Es sind viele Mythen entstanden, weil es den damaligen Herrschern so passte“, betont Lars Erik Bethge. Er ist fasziniert von der Bauweise des Danewerks, von der Geschichte der Anlage, vom Wissen-Transfer im frühen Mittelalter und der Lage an der schmalsten Stelle Schleswig-Holsteins, wo zwischen Schlei und Treene nur 16 Kilometer klaffen.
Jetzt ist Lars Erik Bethge wieder häufig „drei Minuten westlich der Autobahn“. Das bisherige Museum, das die 1500-jährige Geschichte des Danewerks dokumentierte, wurde abgerissen. Bis 2025 entsteht ein Neubau mit einer Ausstellungsfläche von 950 Quadratmetern. Im Moment gibt es nur einen Container-Komplex mit einer kleinen Ausstellung, die im letzten Jahr fast so viele Besucher anlockte wie vor der Corona-Pandemie, und einigen Büros. „Manche Menschen denken, dass ich dort den ganzen Tag sitze, weil ich ja ein Museum leite“, schmunzelt der 53-Jährige. „In Wahrheit bin ich viel unterwegs und habe keinen Job, der mit den Öffnungszeiten erfüllt ist.“

Zwischen Flensburg und Schleswig

Wenn er zwischen Dienst- und Wohnsitz unterwegs ist, denkt er oft, dass sich die beiden Städte, die im Namen des Kreises auftauchen, stärker befruchten sollten. In Schleswig, findet Lars Erik Bethge, blicke man viel zu sehr gen Kiel. „In Flensburg gibt es Einrichtungen wie die Hochschulen, die hervorragend als Partner für Akteure in Schleswig geeignet wären. Und in Flensburg ist man sich gar nicht richtig bewusst, welche Bedeutung Schleswig für die Kultur und die Geschichte des Landesteils hat. Schleswig hat viel zu bieten.“
Inzwischen hat er ein Comeback im Flensburger Stadtrat hingelegt. Im letzten Herbst wurde Lars Erik Bethge zum neuen SSW-Kreisvorsitzenden gekürt. Im Mai errang er in Fruerlund ein Direktmandat im Flensburger Stadtrat. „Ich hatte nicht damit gerechnet, da ich in keinem klassischen SSW-Wahlkreis angetreten bin“, verrät er. Dennoch nahm er selbstverständlich das Mandat an. „Als Sprecher hat die Politik lange Zeit mein Leben begleitet, nun ist sie mein Hobby“, sagt er. „Kultur, Soziales und Gesundheit werden meine Tätigkeitsbereiche sein. Aber das Engagement muss noch überschaubar bleiben – schließlich habe ich ein Museum aufzubauen.“ Die wenige Freizeit, die bleibt, gehört der Familie. „Sie kommt immer wieder zu kurz“, weiß Lars Erik Bethge. „Es ist aber toll, wie sie mich unterstützt.“ Er freut sich, wenn sich die Kinder für das Mittelalter und die Wikinger interessieren. Oder wenn die Familie mit zum Wahlabend ist, wenn – wie vor Jahren – in Kiel der neue Landtag gewählt oder – wie im Mai – im Rathaus die Ergebnisse der Kommunalwahl einlaufen. Keine Frage: Lars Erik Bethge ist nicht nur ein Kopf der dänischen Minderheit, er ist ein Flensburger Kopf.

Text Jan Kirschner, Fotos: Jan Kirschner, privat (u.a. Sven Geißler, Rasmus Meyer, Tim Riediger, Lars Salomonsen)

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