An der Wand hängt die Familienuhr. Mit einem kleinen Trick ist die Schar der Liebsten groß genug, um auch jede Stunde zu besetzen. Rolf Helgert und seine Frau sind natürlich abgebildet, die beiden Söhne, die beiden Schwiegertöchter und alle fünf Enkelkinder. Aber es sind längst nicht nur die fünf Enkel, die trotz des Abschieds nach 46 Jahren aus dem Kraftfahrtbundesamt dafür sorgen, dass der 63-Jährige einen Unruhestand verbringt. Der ehemalige Stadtrat ist nach wie vor einigen Ehrenämtern verbunden, die er auch nicht auf null fahren möchte. Besonders viel Arbeit verursachte zuletzt das Amt als Aufsichtsratsvorsitzender bei den Stadtwerken. Vor einigen Monaten hatte sich Geschäftsführer Maik Render für einen Besuch im Privathaus von Rolf Helgert angekündigt. Die beiden Männer saßen an dem Tisch, an dem wir nun das Gespräch führen. Der Gast hatte eine „schlechte Nachricht“. Er teilte mit, dass er beruflich nach Nürnberg wechseln würde. Rolf Helgert bedauerte die Entscheidung – und wusste sofort: Nun gibt es viel zu tun. Die Rotation der Nachfolge-Kür musste angeworfen werden. Ein Headhunter wurde beauftragt, passende Bewerber zu finden – auch mit Blick auf das Flensburger Gehaltsgefüge. Die letzten beiden Kandidaten stellten sich im Aufsichtsrat vor. Schließlich machte Dirk Wernicke, zuletzt in Münster, das Rennen und wurde neuer Geschäftsführer der Stadtwerke.
Für Rolf Helgert war diese Personalie eine Randnotiz im langen ehrenamtlichen Engagement, das hauptsächlich den Menschen in seiner Heimatstadt galt und gilt. Er wurde am 1. September 1957 in Flensburg geboren. „Ein Sonntagskind“, freute sich die Mutter über den zweiten Sohn. Eine Anekdote, die zu den Geburtstagen immer wieder aufgewärmt wurde. Die Familie wohnte damals an der Schiffbrücke. Dort, wo heute neben der „Hansen´s Brauerei“ eine Häuserlücke klafft. Der Abriss hat die ersten Kindheitserinnerungen nicht zerstört. „Den Eingang und das Treppenhaus habe ich noch vor Augen“, erzählt Rolf Helgert.
Seine Eltern bekamen noch drei Töchter. Zwei Mal war ein größeres Zuhause nötig. Zunächst erfolgte der Umzug in die Kappelner Straße, Hausnummer 1. Der Wirtschaftshof war am prägendsten. Dieser diente als Spielfläche, da die Straße vor der Haustür gut befahren war. Dort befand sich auch das Toilettenhaus. Das Plumpsklo musste die Familie mit den Vermietern, die eine Etage höher wohnten, teilen. Rolf Helgert graust es noch immer, wenn er daran denkt, wie er einst im kalten Winter oder in der dunklen Nacht für das Geschäft die Wohnung verlassen musste. Viel später kehrte er noch einmal aus Anlass eines 90. Geburtstags in das Haus seiner Kindheit zurück. „Mein Gott ist das klein, früher war es die Welt“, staunte er.
Die 60er Jahre waren in Flensburg eine Epoche der Neubaugebiete. Das gemeinnützige Wohnungsunternehmen „Neue Heimat“ investierte in Engelsby. Ein viergeschossiger Klotz in der Mozartstraße, wieder die Hausnummer eins, wurde das neue Zuhause der Helgerts. Sieben Personen lebten nun auf dreieinhalb Zimmer. Sohn Rolf teilte sich ein Zimmer mit dem drei Jahre älteren Bruder. Arbeiterfamilien mussten sich in Bescheidenheit üben. Das zeigte sich auch im schulischen Werdegang. Rolf Helgert schaffte an der neuen Engelsbyer Schule einen guten Hauptschulabschluss und an der Handelslehranstalt eine mehr als ordentliche Mittlere Reife. Als er schon die Anmeldung für die Oberstufe in der Tasche hatte, sprach der Vater ein Machtwort. „Das Geld war nicht so üppig“, erinnert sich Rolf Helgert. „Mir wurde praktisch eine Ausbildung aufgenötigt – und von der Vergütung musste ich auch noch die Hälfte abgeben, weil ich ja weiterhin zu Hause wohnte.“ Das alles wurde so akzeptiert, der finanzielle Rahmen war nun einmal eng.
1974 war es, als bereits die erste Bewerbung stach. Es wurde eine Ausbildungsstätte, mit der Flensburg im ganzen Bundesgebiet Bekanntheit erlangte: Die „stille Behörde an der Förde“, das Kraftfahrtbundesamt. Rolf Helgert steuerte nun eine Verwaltungslaufbahn an, konnte die Ausbildung sogar auf zwei Jahre verkürzen, nachdem eine Zwischenprüfung positiv ausgefallen war. Das war auch ganz nach dem Geschmack des KBA, das händeringend nach Nachwuchskräften Ausschau hielt. Endlich trudelte das erste Gehalt ein. Die erste Investition: ein Opel Kadett für 500 D-Mark.
Eine eigene Wohnung mietete Rolf Helgert erst 1978. Auf der Rude zog er mit seiner Ehefrau Angela zusammen. Sie war nicht von ungefähr eine Kollegin, denn das KBA war nun der Orbit, in dem sich fast alles abspielte. Damals bewegten große Streiks und viele Tarifrunden den öffentlichen Diskurs. Für einen jungen Mann in einer Verwaltung war es fast selbstverständlich, dass er sich der Gewerkschaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, kurz ÖTV, anschloss. Rolf Helgert war besonders aktiv, beschäftigte sich mit der Personalratsarbeit und landete sogar in der Jugendund Auszubildenden-Vertretung. Die Konsequenz: viele Reisen. Einmal im Monat standen im Bonner Verkehrsministerium Sitzungen auf der Tagesordnung. Dabei entstanden sogar Schnittpunkte mit dem Schiffsverkehr und dem Wetterdienst. „Durch die Gewerkschaftsarbeit bekam ich Selbstvertrauen und Rhetorik“, bilanziert der Flensburger. „Davor war ich eher schüchtern.“
Er war nie der Typ für einen gemütlichen Fernsehabend, war viel unterwegs. Dann musste und wollte er sein Pensum zurückschrauben. 1981 und 1983 kamen die Söhne Marc und Sebastian zur Welt. Die Familie zog nach Mürwik auf den Marrensberg – fast schon in der Nachbarschaft zum KBA, wo Rolf Helgert stark eingebunden war. Zunächst war er in der IT-Administration damit beschäftigt, Möbel und Technik zu beschaffen. Die ökonomische Sichtweise war ihm wichtig, was ihn nach der Jahrtausendwende dazu veranlasste, noch ein breit angelegtes BWL-Studium an der Wirtschaftsakademie aufzunehmen. Als IHK-Betriebswirt fand er den Zugang zum höheren Dienst – als „sonstiger Angestellter“. Zum Beamten ist er nie ernannt worden.
Rolf Helgert wurde Referatsleiter für Grundsatzfragen der Statistik. Das klingt äußerst trocken, bot aber interessante Berührungspunkte zur Wirtschaft. Gerade die Autoindustrie hatte großes Interesse an Daten. Nach den Zahlen der Neuzulassungen wurde sogar die Produktionsgeschwindigkeit der Fließbänder eingestellt. Für einen täglichen Statistik-Dienst ließ sich das KBA bezahlen. Der Referatsleiter besuchte für den Kundendienst die großen Standorte der Automobilbranche und stellte fest: „Die Produktion hat Vorrang vor der Verwaltung.“ Bei Ford in Köln sah er riesige Großraumbüros mit wenigen Fensterplätzen; bei Audi in Ingolstadt begegnete ihm eine Container-Lösung für den Verwaltungstrakt.
Das unternehmerische Geschäftsfeld innerhalb der öffentlichen Verwaltung hatte seine Knackpunkte, die Rolf Helgert spürte: „Man war auch Lobbyist für seine Kunden und wollte Aufträge schnell umsetzen, was zu Reibungen mit Kollegen führen konnte.“ In Behörden gibt es bisweilen eigene Wege und Arbeitsabläufe – das registrierte er auch immer wieder im Zuge seiner kommunalpolitischen Tätigkeit, die allmählich Fahrt aufnahm. 1979 war Rolf Helgert – als logischer Schritt aus der Gewerkschaftsarbeit heraus – in die SPD eingetreten. Zu Zeiten, als Helmut Schmidt als Kanzler regierte, stand für den Flensburger diese Partei als „unabhängig denken, sozial handeln“. Zunächst war er ein stilles Mitglied, dann engagierte er sich im Ortsverein Engelsby. Der DGB-Vorsitzende Peter Köhler und Arbeitskollege Günther Pütz – damals gab es sogar beim KBA eine SPD- Betriebsgemeinschaft – überzeugten ihn für eine politische Arbeit. 1990 kandidierte Rolf Helgert im Wahlkreis 14 (Engelsby), errang ein Direktmandat und zog erstmals in den Flensburger Stadtrat ein.
Der Debütant fungierte auf Anhieb als stellvertretender Fraktionsvorsitzender – hinter dem „Vollblut-Kommunalpolitiker“ Knut Franck. Rolf Helgert rutschte in den Magistrat, in das damals noch existierende Verbindungsgremium zwischen Politik und Verwaltung. Er wurde zum ehrenamtlichen Stadtrat für Jugend und Soziales ernannt. Wenn Hans Leppin, der hauptberufliche Stadtrat, einmal Urlaub hatte, schritt sein junger Vertreter nachmittags ins Rathaus, unterschrieb offizielle Papiere und Briefe, gewann Einblicke in das Verwaltungsgeschehen und wirkte an Verwaltungsvorlagen mit. „Aus heutiger Sicht war die Abschaffung der Magistratsordnung kein guter Schritt“, findet Rolf Helgert. „Nun macht die Verwaltung manchmal ihr eigenes Ding, während die Politik Beschlüsse fasst, aber keine Verantwortung bei der Umsetzung übernimmt.“
2002 wurde er Flensburger SPD-Fraktionschef. „Es waren große Fußspuren, die mir Knut Franck hinterlassen hat“, sagt er rückblickend. „Die gesamte politischen Arbeit war zu steuern – und das bei über 20 Mitgliedern in der Fraktion.“ Der Alltag sah so deshalb aus: Von acht bis 16 Uhr das KBA, dann das Ehrenamt – oft bis in die Nacht. Die Mühsal wurde belohnt mit vielen Einblicken in die Region und sogar in die Landespolitik. Fahrten nach Kiel in die Ministerien waren keine Seltenheit. Rolf Helgert stieg verstärkt in diverse Aufsichtsgremien ein, was die Neigung zur Betriebswirtschaft und der Schwerpunkt „Finanzpolitik“ forcierten. Der Tourismusverein bildete den Anfang, es folgten die Flensburger Wobau, die regionale Vermarktungsgesellschaft WiREG und das Technische Betriebszentrum. „Man steht mit beiden Beinen in der Verantwortung“, spricht der 63-Jährige aus Erfahrung. „Man muss in die Materie eindringen, die Dinge verstehen und das Unternehmen kontrollieren. Sich auf den Geschäftsführer verlassen, bringt nichts.“
Einmal bekam er unmittelbar mit, wie dieser Kontrollmechanismus versagte – als Aufsichtsratsmitglied der Flensburger Sparkasse. Rolf Helgert erinnert sich an „extrem verkrustete Strukturen“ und an ein schier aussichtsloses Bemühen um Transparenz. Letztendlich klaffte ein Loch im dreistelligen Millionenbereich. „Ohne den Deal vom damaligen Oberbürgermeister Klaus Tscheuschner, die Sparkasse mit der Nospa zu fusionieren, wäre es ein Fiasko für Flensburg geworden“, schüttelt Rolf Helgert noch immer mit dem Kopf.
Das „Aus“ der Flensburger Sparkasse traf zeitlich fast mit der Kommunalwahl zusammen. Am 23. Mai 2008 musste die SPD in Flensburg ein katastrophales Ergebnis einstecken. Sie hatte gegen den Bundestrend mit Sparmaßnahmen und Hartz IV einen schweren Stand. Rolf Helgert gewann sogar seinen Wahlkreis in Engelsby, gab das Amt als Fraktionsvorsitzender dennoch ab. Fünf Jahre später schied er komplett aus dem Stadtrat aus. Die immer schwierigere Meinungsfindung angesichts einer wachsenden Zersplitterung der Parteienlandschaft und eigene Motivationsprobleme nach 23 Jahren hatten diesen Schritt beeinflusst. „Für das Finanzamt habe ich einmal eine Aufstellung angefertigt“, verrät der SPD-Mann. „Ich kam auf 150 Sitzungstermine im Jahr – ohne Beruf und informelle Gespräche.“
Das Ehrenamt ist ein wichtiger Teil seines Lebens geblieben. Seit Juni 2010 fungierte er als Vorsitzender des zwölfköpfigen Stadtwerke-Aufsichtsrats. Schnell wurde er mit „vielen Ungereimtheiten“ und mit unsäglichen Beteiligungen an Kohlekraftwerken im Baltikum und in Nordrhein-Westfalen konfrontiert. Der damalige Geschäftsführer musste gehen. Die Ausrichtung der Stadtwerke wurde neu justiert, der komplette Ausstieg aus der Kohle bis 2050 anvisiert. „Das schaffen wir deutlich früher“, ist sich Rolf Helgert sicher. Gerade werden zwei neue Gaskessel eingebaut, in die auch Biogas und Wasserstoff beigemischt werden können.
Der einstige SPD-Ratsherr engagiert sich mittlerweile auch bei der Arbeiterwohlfahrt und ist als zweiter Vorsitzender eingestiegen. Er nahm sogleich die Modernisierung des Büros in der Mathildenstraße in die Hand. Dort sowie auf dem Sandberg und in der Mürwiker Straße ist die AWO mit Pflegeinrichtungen vertreten. „Das ist ehrenamtliche Arbeit direkt am Menschen“, betont Rolf Helgert und erzählt eine typische Begebenheit: Eine ältere Dame schaue im Büro vorbei, klagte über Schwierigkeiten mit der Bank, die eine Änderung der Adresse nicht vornahm. Ein Anruf brachte direkte Hilfe.
Mit seiner Familie war Rolf Helgert bereits 1994 nach Fruerlund gezogen. „Im Haus sind wir bis heute glücklich, es ist solide gebaut“, lächelt er. Der Erstbewohner war ein Maurermeister. Als sich 2015 das „Forum Fruerlund“ als Bürger-Plattform konstituierte, mischte der einstige Stadtrat gleich mit – allerdings mit angezogener Handbremse. „Ich wollte ja nicht den Verdacht aufkommen lassen, dass man als ehemaliger Kommunalpolitiker nur dabei ist, um für die SPD zu werben“, erklärt er. „Aber natürlich habe ich den Vorteil, die richtigen Ansprechpersonen im Rathaus und beim TBZ zu kennen.“ Derzeit dreht es sich bei den Forums-Treffen hauptsächlich um die kommenden Baugebiete, die angespannte Parkplatz-Situation und rasende Autos. Es sollen nun Geschwindigkeitsanzeigen aufgestellt werden. Tempo kannte bislang auch das Leben von Rolf Helgert reichlich.
Text: Jan Kirschner,
Fotos: Jan Kirschner, privat