Nach dem Fest ist vor dem Fest

Finn Jensen kann man sich auf einem Bürosessel einer Verwaltung schwer vorstellen. Nicht einmal, wenn es sein Fachgebiet, den Tourismus, betreffen würde. Und doch war er einst Tourismuschef der Stadt Flensburg, hat neuen Schwung in die dahindümpelnde Vermarktung von Ferienwohnungen und in die Jahre gekommenen Events der Stadt gebracht. Da hat er so manche Stunde auf dem Bürostuhl verbracht. Aber das endete dann auch mit einem Knall, der bei manchen Flensburger Politikern noch nachhallt. Das ist Geschichte für den nun selbständigen Unternehmer. Auch wenn er zugibt, in seiner Flensburger Zeit viel gelernt zu haben, über den Umgang mit Menschen, das Überwinden von Hindernissen und das Organisieren von Veranstaltungen. Auf sein Konto geht auch das jetzige Konzept des Flensburger Weihnachtsmarktes mit der Pyramide auf dem Südermarkt und der Ausdehnung bis zum Nordermarkt als weiterem Schwerpunkt der Weihnachtsmeile. Gleichermaßen gehasst wie geliebt als „Punschmeile“, weiß man heute, dass der immer wieder vermisste „Kunstanteil“ kein Mangel der Veranstalter ist, sondern schlicht und einfach das Ergebnis des Kundenverhaltens. Heute, so stellt Finn Jensen resignierend fest, kann von den Kunsthandwerkern auf dem Weihnachtsmarkt keine Standgebühr erhoben werden. Im Gegenteil, man muss ihnen noch Geld anbieten, damit sie mit ihrem Angebot die Reihe von Getränke-, Fastfood- und Krimskramsbuden auflockern. Das gilt nicht nur für Flensburg, sondern für die Mehrheit der 1500 bis 3000 Weihnachtsmärkte deutschlandweit.
So gut wie jedes 1000-Einwohnerdorf meint einen eigenen Weihnachtsmarkt auf die Beine stellen zu können. Zuweilen peinlich, wenn eine Handvoll Eingeweihter um drei Punschbuden stehen und sich wechselseitig ein paar Euro für eine Tasse Glühwein zuschieben.

Wer hat‘s erfunden?

Der Weihnachtsmarkt hat ganz unchristliche Wurzeln. Im späten Mittelalter dienten Märkte im Winter dazu, die Menschen mit dem Nötigsten für die kalte Jahreszeit zu versorgen. Getrocknetes Fleisch, Haushaltsgeräte, Körbe, Krüge, Fässer und auch mal ein Spielzeug füllten die Auslagen der Buden.
Im 14. Jahrhundert erweiterte sich das Sortiment auf Zuckerzeug, kleine Weihnachtsgeschenke, geröstete Kastanien, Nüsse und Mandeln.
Den ersten offiziellen Dezembermarkt kann man in Wien verorten. Dort erhielten Händler 1296 vom Herzog Albrecht I. das „Privileg“ ihre Waren feilzubieten. Die Münchner folgten 1310 mit einem Nikolausmarkt, Bautzen öffnete 1384 einen Fleischmarkt, der vom 29. September (Michaelistag) bis Weihnachten reichte.
Erst im letzten Jahrhundert boomte dann das Weihnachtsmarktgeschäft und breitete sich über die ganze Welt aus. Heute gibt es Weihnachtsmärkte in Yokohama und anderen Weltstädten ohne christliche Tradition. Weihnachtsmärkte sind zu einem Millionengeschäft geworden. Finn Jensen kann von Händlern in Großstädten berichten, die während einer einzigen Saison 2 Millionen Euro Umsatz nur mit Glühwein machen.
Es gibt kaum einen Ort, der nicht als Schauplatz für den Verkauf von Süßem und Saurem, Festem wie Flüssigem genutzt wird. Ob in einer Grotte in den Niederlanden (so etwas Unterirdisches gibt es dort tatsächlich), bei 15° auf Mallorca am Strand, auf (!) dem Millstätter See in Österreich, in Zürich auf dem Bahnhof oder am Polarkreis im finnischen Rovaniemi.
Der Wahnsinn hat Methode. In keiner Zeit des Jahres sitzt der Euro oder auch eine andere Währung so locker wie in den vier Wochen vor dem ultimativen Jahresendfest, Weihnachten.
Oft sparen Familien ein ganzes Jahr für die ihrer Meinung nach unvermeidlichen Geschenke, werden Sparstrümpfe und Konten geplündert. Ein Firmenfest jagt das andere. Nach Geschäftsschluss bleibt die heimische Küche kalt. Man trifft sich zum Glühwein und einer heißen Wurst. Alle Gesundheitsvorsätze des vergangenen Neujahrsmorgens sind eben genau das: Vergangenheit.
Unternehmer wissen das und pumpen unsere Erwartungen bis zur Schmerzgrenze auf. In den letzten Wochen vor dem Fest werden teils mehr Umsätze generiert als im Rest des Jahres.
Ein Weihnachtsmarkt ist für spezialisierte Anbieter die Chance, den Rest des Jahres vom Umsatz des Monats Dezember zu leben. Vier Wochen lang frieren und schuften, 48 Wochen lang die Füße hochlegen. Finn Jensen kennt solche Geschichten, weiß aber auch von den Schattenseiten des Geschäftes zu berichten.
Alles auf eine Karte zu setzen birgt Risiken. Schon das Wetter kann das Weihnachtsgeschäft im wahrsten Sinne des Wortes verhageln. Wind, Regen, Kälte sind die Feinde eines jeden Weihnachtsmarktes. Nur wer über Jahre, Jahrzehnte Stehvermögen hat, gehört bestenfalls zu den Gewinnern.

Der Weihnachtsplaner

Finn Jensen hat während seiner Jahre als Tourismuschef in Flensburg Höhen und Tiefen erlebt. Jetzt gibt er sein Wissen und seine Erfahrung an andere Städte weiter. Seine Firma mit Sitz in Langballigau berät und plant, organisiert und verwaltet inzwischen Weihnachtsmärkte in ganz Europa und sogar in den USA. 12 Weihnachtsmärkte in Europa tragen seine Handschrift.
Am Anfang steht eine Bedarfsanalyse. Jede Stadt möchte mit eigenem Charakter auf einem Weihnachtsmarkt repräsentiert sein. Bunt oder beschaulich, modern oder nostalgisch. Die Märkte werden strategisch geplant, die Buden individuell gestylt. Nach einem Plan werden die Knusper- und Glühweinhäuschen mit einem 3D-Drucker maßstabsgerecht modelliert und angeordnet. Das ist anschaulicher, als nur einen Lageplan zu erstellen. Finn Jensen und seine 12 Mitarbeiter haben Module entwickelt, die sich zu größeren Einheiten kombinieren lassen und so ein buntes, nicht uniformes Weihnachtsdorf entstehen lassen. Ein Trick dabei: Die Buden haben keine feste Rückwand. So lassen sie sich beliebig zusammenstellen, erweitern und leichter beschicken. Mit wenigen Hilfskräften lassen sich die vorgefertigten Elemente wie ein Kartenhaus auffalten.
Kommunen, die zum ersten Mal einen professionellen Weihnachtsmarkt einrichten wollen, stehen vor immensen Problemen. Wo kommen die Beschicker her, wie macht man wasserdichte Verträge, wie kalkuliert man Aufwand und Nutzen, welche gesetzlichen Regeln sind einzuhalten, wie funktioniert die Logistik von Auf- und Abbau?
Finn Jensens Unternehmen liefert bei Bedarf ein „Rundum-Sorglos-Paket“ und nicht zuletzt Sicherheitsvorkehrungen, die seit dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016 die Veranstalter das Fürchten gelehrt haben. Damals steuerte ein islamischer Terrorist einen vorher entwendeten Sattelzug ungebremst in die Menschenmenge rund um die Berliner Gedächtniskirche, tötete sich und 11 weitere Menschen und verletzte 55 weitere Besucher. Den Weihnachtsmärkten drohte das Aus. Fieberhaft wurden Sicherheitskonzepte entwickelt. Betonklötze und Wassersäcke sollten einen ähnlichen Vorfall verhindern. Halbherzige und teils untaugliche Mittel, wie sich herausstellte. Wie sollten Rettungsfahrzeuge gegebenenfalls auf den Markt gelangen können? Was geschähe im Fall einer Massenpanik? Was Eindringen verhindert, verhindert auch die Flucht.

Nie wieder Berlin 2016

Finn Jensen hat auch dafür eine inzwischen patentierte und weltweit eingesetzte Technik entwickelt. Alles, was er an technischen Lösungen gesehen hatte, konnte ihn nicht überzeugen. Elektrik und Pneumatik lassen sich manipulieren und außer Kraft setzen. Die Lösung sollte rein mechanisch und automatisch funktionieren. Klingt zunächst wie die Quadratur des Kreises. Wie kann man schwere Abwehrmechanismen ohne Energiezufuhr bewegen? Immerhin sollen die Sperren einen 40-Tonner zum Stoppen bringen.
Die Lösung heißt: Die Energie kommt vom Angreifer selbst. Was man von Jensens Konstruktion sieht, ist eine flache Rampe, die von Fußgängern hindernisfrei zu überschreiten ist. Auch können Fahrzeuge von innen nach außen ohne Aufwand fahren.
Ist die Vorrichtung aktiviert, löst ein eindringendes Fahrzeug über ein Hebelsystem hochklappende Krallen aus, die sich in den Fahrzeugboden bohren und es umgehend außer Gefecht setzen. Für Rettungsfahrzeuge oder Zulieferer kann die Anlage unscharf gestellt werden. Mit dieser Lösung wird auch eine psychologische Sperre vermieden, wie sie tonnenschwere Betonklötze oder Bigpacks, mit Sand oder Wasser gefüllt, auslösen. Die Besucher der Weihnachtsmärkte sollen sich unbelastet von Angst und Gewaltfantasien vergnügen dürfen.
Als nächste Bedrohung gelten Drohnen, die ferngesteuert Märkte bedrohen könnten. Auch an einer Lösung zur Abwehr dieser Gefahr wird gearbeitet. Die Kunst wird sein, den potentiellen Angreifern einen Schritt voraus zu sein.
Die letzten Weihnachtsmärkte haben allerdings gezeigt: Die meisten Menschen überwinden die Furcht und besuchen ohne „Angst im Nacken“ das Event. Nach Berlin hat es keine weiteren Angriffe gleichen Ausmaßes gegeben. Das lässt für die Zukunft hoffen.

Mehr Weihnacht wagen

Der Trend zu „mehr Weihnacht“ scheint ungebrochen. Finn Jensens Auftragsbuch ist voll. Je mehr sich Weihnachtsmärkte in der Welt verbreiten, desto anspruchsvoller sind die Aufgaben. Aktuell spielt Licht eine wachsende Rolle. Nicht zuletzt durch die LED-Technik, die neue Beleuchtungskonzepte bietet und dabei noch vergleichsweise billig ist, entstehen neue Konzepte. Finn Jensen entwickelt aktuell eine Idee für den nächsten Weihnachtsmarkt in Garmisch-Partenkirchen. Je vielfältiger das Angebot, desto mehr werden Weihnachtsmärkte das Ziel von Städtereisen.
In Deutschlands Norden machte Lübeck schon vor Jahren einen erfolgreichen Anfang. Vor allem Skandinavier, Schweden und Norweger, reisen im Dezember in Scharen an die Trave, schlendern nicht nur über den traditionellen und originellen Weihnachtsmarkt, sondern buchen gleich ein paar Tage in einem der um die Weihnachtszeit meist ausgebuchten Hotels.
München mit dem Christkindlmarkt oder der Nürnberger Christkindlesmarkt sind touristische Zugpferde, auf die andere Städte gerne aufspringen würden.
Der Aufwand für ein solches Event ist gewaltig. Für Finn Jensen beginnt genau jetzt, nach dem Ende der Weihnachtszeit, die Planungsphase für die Weihnachtsmärkte im Dezember 2020. Kein Ausruhen auf dem Erreichten. Die Marktbeschicker müssen frühzeitig kontaktiert werden, um die Besten für den Wunschmarkt zu sichern. Die Verhandlungen mit den Gemeinden über Lage und Umfang eines Marktes beginnen jetzt. Konzepte müssen entwickelt werden. Der Bau von Buden und Dekoration startet.
Es ist unschwer vorstellbar, dass Weihnachtsstimmung dabei nicht aufkommt. Weihnachtsmärkte sind ein knallhartes Geschäft. Die Emotionen sollen die Besucher in einem knappen Jahr erleben. Der Duft von Tannengrün und Vanille, Kardamom und Zimt. Die weihnachtliche Musik, handgemacht oder aus dem Lautsprecher. Große Kinderaugen und durstige Kehlen, Lachen und Reden. Irgendwo dazwischen Orgelmusik aus einer Kirche und die christliche Botschaft aus der Bibel. Irgendwann wird auch das für Finn Jensen und seine Familie einmal kurz aufleuchten, spätestens am 24. Dezember 2020.
Bericht: Dieter WilhelmyFotos: Sven Geißler, Marktmacher

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