Die SG Flensburg-Handewitt weihte im August ihre „Hall of Fame“ in der Flens-Arena ein. Fünf Legenden machten den Anfang. Es besteht kein Zweifel, dass sich Tobias Karlsson zu diesem illustren Kreis hinzugesellen wird. Er bestritt in der letzten Dekade rund 500 Spiele für die SG und beendet nun seine Karriere.
Erste Eindrücke. Es war Sommer 2009, als die SG zum Trainingsauftakt eine kleine Leistungsdiagnostik durchführte. Tobias Karlsson, Neuzugang aus Nordhorn, bestach mit einer erstaunlichen Athletik. Er warf aus dem Liegen heraus den schweren Medizinball stolze 12,50 Meter weit und setzte aus dem Stand mit gelber Kreide einen Strich in 3,70 Meter Höhe. „Das ist eine richtig gute Verpflichtung“, schnalzte der damalige Sportdirektor Ljubomir Vranjes mit der Zunge. „Das ist wirklich eine richtig gute Verpflichtung.“ Der SG war ein absoluter Leistungsträger für eine komplette Dekade ins Netz gegangen.
Karriere-Beginn. Tobias Karlsson, geboren im schwedischen Karlskrona, hatte erst spät auf die Option „Handball-Profi“ gesetzt. Zunächst hatten Fußball und Eishockey die Nase vorn. Bis zur Volljährigkeit betrieb er drei Mannschaftssportarten. Mit 19 Jahren hatte er sich entschieden und startete in der zweiten Handball-Mannschaft von Hästo IF durch.
Der König von Kiel. Neben Stefan Löv-gren und Christian Zeitz hatte sich Tobias Karlsson in ein Königsgewand gehüllt und feierte mit dem THW Kiel das „Triple“ von 2007. Noch ohne Bartwuchs. Im Spätherbst 2006 half er in der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt aus, spielte sieben Mal für den THW. Tobias Karlsson war fast so etwas wie ein Wandervogel, stand eine Saison im norwegischen Stavanger unter Vertrag, eine andere bei der HSG Nordhorn. Für den damaligen schwedischen Top-Klub Hammarby IF spielte er immerhin fünf Jahre.
Die Position. Tobias Karlsson war zunächst ein Shooter. 2001 stoppte ihn eine schwere Schulterverletzung, die Wurfkraft und Beweglichkeit einschränkten. Bei der SG stand zeitweise eine Umschulung zum Kreisläufer im Raum, doch ab 2011 konzentrierte sich der kräftige Schwede auf seine Aufgabe als Abwehrchef.
Der Kapitän. Im Sommer 2010 war Tobias Karlsson erst ein Jahr bei der SG, hatte aber bereits eine höhere soziale Kompetenz bewiesen und war gerade Kapitän der schwedischen Nationalmannschaft geworden. Der damalige SG-Trainer Per Carlén fragte ihn, ob er sich diese Aufgabe auch bei der SG vorstellen könne. Ein Vorschlag, der bei einer Umfrage unter den Spielern viel Sympathie erntete.
Die Philosophie. Tobias Karlsson ist das „Sprachrohr“ der Mannschaft, spricht Probleme an, ist Vertrauensperson oder er muss dem einen oder anderen, der sich zu weit aus dem Fenster gelehnt hat, auf die Füße treten. „Wir müssen von Spiel zu Spiel denken, so ist das Sportler-Leben“, wiederholte er ständig. „Wenn wir in der Bundesliga ran müssen, müssen wir uns auf den einen Gegner zu 100 Prozent konzentrieren. Wir dürfen dann nicht zehn Prozent für den Pokal und zehn Prozent für die Champions League vergeuden.“ Aus Mannschaftskreisen heißt es: „Tobbe ist sehr demokratisch und ein Typ, der jedes Problem angeht und nicht wegschiebt.“
Berg- und Talfahrt. So etwas hat auch ein Routinier wie Tobias Karlsson nur ganz selten erlebt. Mit der SG ging er im April 2018 bei Montpellier HB mit 17:29 ein. Nichts klappte im Viertelfinale der Champions League. Im nächsten Spiel, elf Tage später, knackte die SG die schwere Aufgabe beim THW Kiel. „So ist Handball, so ist Sport“, lächelte Tobias Karlsson wieder. Wenige Wochen später feierte er erstmals mit der SG die deutsche Meisterschaft.
Champions League. Anfang Juni 2014 begoss die SG auf dem Südermarkt den unerwarteten Triumph in der Champions League. Auch Tobias Karlsson griff zu einer Buddel Bier und schüttete sie über den übermütigen Newcomer Hampus Wanne aus und verriet seine Ansprache vor dem denkwürdigen Knüller gegen Barcelona. „Leute, passt auf, da kommt eine verdammt starke Mannschaft!“ Und vor dem Endspiel gegen den THW Kiel? „Passt auf, das ist eine fast genauso starke Mannschaft!“
Drei-Kronen-Team. Für die schwedische Nationalmannschaft bestritt Tobias Karlsson 180 Spiele. Er nahm drei Mal an einer Welt- und fünf Mal an einer Europameisterschaft teil. Höhepunkt war aber definitiv Olympia-Silber 2012. „Die Form hat bei uns gestimmt, und wir haben die richtigen taktischen Entscheidungen getroffen“, strahlte der Abwehr-Stratege. Nach den Olympischen Spielen 2016 in Rio beendete er seine Länderspiel-Karriere.
Soziales Engagement. In dieser Saison zieren die Regenbogen-Farben, die für Toleranz und Vielfalt der Lebensformen stehen, die Außenseiten seiner Schuhe. Vor drei Jahren trug Tobias Karlsson mehrfach eine Kapitänsbinde mit diesem bunten Farbspektrum. „Ich bin in Schweden so erzogen worden, jeden zu respektieren und zu akzeptieren – egal welche Herkunft, Sexualität oder Religion er hat“, erklärt Tobias Karlsson.
Die Entscheidung. Ende Januar traf der Schwede, der am 4. Juni 38 Jahre alt wird, eine professionelle Entscheidung und kündigte das Ende seiner Karriere an. „Wir haben so viel gemeinsam erlebt, dass das Gefühl einer großen Loyalität gegenüber der SG besteht“, sagt er. „Aber ich will auch niemanden enttäuschen. Von Jahr zu Jahr musste ich mehr investieren, um mental und körperlich auf das richtige Level zu kommen – es geht nicht mehr.“
Die Zukunft. Der Profi-Sportler steigt im heimischen Karlskrona in eine Beratungsfirma ein, die Unternehmen dabei berät, neue Mitarbeiter möglichst schnell in ihre Abläufe zu integrieren. „Mein Interesse an Handball ist nicht verschwunden, aber ab Sommer werde ich erst einmal etwas anderes machen“, sagt Tobias Karlsson. Seinen Stammklub Hästo IF, der inzwischen als HIF Karlskrona firmiert, möchte er mit Rat und Tat unterstützen.
Text und Fotos: Jan Kirschner