Unser Chronist Harald Hansen hat fast sein gesamtes Leben in Flensburg verbracht, seine Kindheit spielte sich ausschließlich im Stadtteil Friesischer Berg ab.
Nach erfolgreich absolvierter Schulzeit und dem später folgenden Studium (ausnahmsweise außerhalb unserer Stadtgrenzen) sowie der Gründung einer eigenen Familie zog es ihn und die Seinen in ein neu erschlossenes Wohngebiet, auf die andere Seite der Flensburger Förde, in den wachsenden Stadtteil Mürwik.
Im ersten Teil seiner Geschichte beschreiben wir sein Leben auf dem Friesischen Berg!
Welcher Einheimische kennt sie nicht, die Flensburger Exe? Gemeint ist nicht etwa das gleichnamige Reptil namens „Echse“ – hier handelt es sich beim Begriff „Exe“ um eine inmitten der Stadt liegende großzügige Freifläche, einen großen unbebauten Platz, der einst unter anderem zum Exerzieren genutzt wurde. Quelle Wikipedia: „Die Exe (ursprünglich Kurzform für Exerzierplatz bzw. Exerzierlücke, dänisch Ekserserpladsen bzw. Ekserserløkke) in Flensburg ist ein jahrhundertealter Festplatz und Versammlungsplatz. Zudem bildet die Exe samt der umliegenden Bebauung einen gleichnamigen Stadtbezirk innerhalb des Stadtteils Friesischer Berg.“
An der Exe geboren
Für unseren Chronisten Harald Hansen stellte die Exe gewissermaßen den Mittelpunkt seiner Kindheit und Jugend dar – neben dem elterlichen Milchgeschäft … Harald Hansen ist ein Kriegskind, er wurde im Februar 1942 in Flensburg geboren. „An die Kriegszeit erinnere ich mich nur insofern, dass wir mit meiner Mutter und meiner fünf Jahre älteren Schwester bei Fliegeralarm im Keller im Luftschutzraum waren. Der Luftschutzraum befand sich in unserem Wohnhaus“, hat Harald an seine ersten Lebensjahre kaum noch Erinnerungen.
Seine Eltern Anni und Thomas Hansen betrieben im Kriege bereits seit einigen Jahren erfolgreich ein eigenes Milchgeschäft, in der Friesischen Straße im Haus mit der Nummer 81. Zum Ankauf der Milchhandlung kam es zufällig: Thomas Hansen erfuhr von einem Verwandten von dem Milchgeschäft, das die Vorbesitzer aus Altersgründen aufgeben wollten, und entschloss sich zum Erwerb des Ladens. Das Haus Nr. 81 liegt übrigens direkt gegenüber der Einmündung der Mathildenstraße in die Friesische, und grenzt rückseitig an die Exe (zugleich in unmittelbarer Nähe zur Exe).
Haralds Vater Thomas war von Berufs wegen gelernter Schiffsbauer, wurde jedoch in den „schlechten Jahren“ Anfang der 1930er, in der Weltwirtschaftskrise, wie viele andere Berufstätige arbeitslos.
„Mein Vater hat während seiner Arbeitslosigkeit meinen Onkel Fiete in seinem Lastwagen begleitet (siehe Bild), dadurch hat er Kenntnis von dem zum Verkauf stehenden Laden erhalten. Mein Onkel fuhr damals im Auftrag der Adelbyer Meierei, die zu jener Zeit noch in der Glücksburger Straße ansässig war“, beschreibt Harald die Umstände, wie es zum Ankauf des Ladens kam.
Vater Thomas und Anni, noch unverheiratet, erwarben wie beschrieben das besagte Milchgeschäft und konnten sich so mit ihrer Familie einigermaßen „über Wasser“ halten. Harald war das mittlere von drei Kindern, er hatte noch eine ältere sowie ein jüngere Schwester. Die Familie wohnte im gleichen Haus im Parterre, deutsch: Erdgeschoss. Vom Hausflur aus kam man sowohl ins Geschäft als auch in die Küche und ins kleinere Wohnzimmer, von dort dann ins Schlafzimmer sowie in das größere Wohnzimmer. Harald und die größere Schwester Hella schliefen in den ersten Jahren aus Platzmangel im elterlichen Schlafzimmer mit. Als später noch die kleine Schwester Marion zur Welt kam und die Familie sich vergrößerte, konnte die Erstgeborene – endlich – im gleichen Haus ein eigenes Zimmer beziehen: Es war eine kleine spartanisch eingerichtete Bodenkammer, ohne Heizung und Strom …
Die Wohnung selbst hatte kein Bad, die Gemeinschaftstoilette für vier weitere Personen befand sich eine halbe Treppe tiefer im Treppenhaus. Vom großen Hinterhof führte der Weg zu den Abstellräumen und zu einer Waschküche für die Reinigung der Kannen des Milchgeschäfts. Nach dem Krieg wurde übrigens im hinteren Garten, der an die Exe angrenzte, ein Hühnerstall gebaut, und in den einstigen Abstellräumlichkeiten wurde ein kleiner Schweinestall eingerichtet, in dem „in der schlechten Zeit“ – den ersten Nachkriegsjahren – regelmäßig 3 bis 4 Schweine gehalten wurden. Diese Nutztiere dienten als Fleisch- und Wurstreservoir für die gesamte Hausgemeinschaft.
Erst viele Jahre später, nachdem sich die jahrelang prekäre Wohnsituation in Flensburg – wegen der zahlreichen „Flüchtlinge“ – entscheidend verbessert hatte, konnten die Wohnungen wieder allein von den jeweiligen Hauptmietern genutzt werden, und entsprechend konnten sich die Hansens in ihrer Wohnung wieder nach eigenem Gutdünken ausbreiten.
Vater Thomas, der gelernte Schiffsbauer, wurde zu Kriegsbeginn zur Wehrmacht eingezogen, doch nach kurzer Zeit freigestellt und zur Mitarbeit auf der hiesigen Werft arbeitsverpflichtet – man benötigte damals jeden Spezialisten für den U-Boot-Bau. Im Milchgeschäft half in dieser Zeit Tante Anni, die Schwester des Vaters, mit, sie unterstützte die gleichnamige Mutter und Ehefrau bei den vielfältigen Tätigkeiten in Betrieb und Familie. Überhaupt wohnten in direkter Nachbarschaft noch weitere Verwandte, das Familienleben war dadurch bedingt ziemlich ausgeprägt, zudem half man sich gegenseitig, wo man nur konnte. Selbst die Oma, die allerdings in Harrisleefeld wohnte, kam regelmäßig und übernahm unter anderem alle drei Wochen die „große Wäsche“. Den Weg in die Friesische legte sie stets zu Fuß zurück. Man war damals praktisch nur zu Fuß mobil, selbst Fahrräder waren Mangelware … Privatautos gab es so gut wie keine, und der öffentliche Nahverkehr beschränkte sich auf wenige Strecken im Stadtgebiet: Die Linie 1 fuhr von Ostseebad bis zum Bahnhof, die Linie 3 auch von Ostseebad, jedoch über den Südermarkt bis raus nach Mürwik (Marineschule).
Die Stadt Flensburg betrieb seit 1881 eine eigene Straßenbahn mit vier Linien. Während des Zweiten Weltkrieges wurde 1943 die Linie 2 auf O-Bus-Betrieb umgestellt. Seit 1950 fuhr erstmals regelmäßig ein Dieselbus vom ZOB nach Solitüde.
Im Winter 1946/1947 erkrankten der kleine Harald und ein weiterer Freund an Typhus. „Wir waren wochenlang in Quarantäne untergebracht in Mürwik, in Baracken hinter der Sportschule auf dem Gelände der Marineschule. Damals erkrankten zahlreiche Menschen an der tückischen Seuche, viele Ältere starben an der schrecklichen Krankheit. Der Winter 1946/1947 war sehr hart, schneereich und äußerst kalt. Meine Eltern mussten zu Fuß von der Friesischen Straße nach Mürwik laufen, um mich durch das Barackenfenster überhaupt sehen zu können – die Straßenbahn fuhr wegen des schlechten Wetters nur sporadisch. Aus der Quarantäne wurde ich im März 1947 entlassen, kurz nach meinem fünften Geburtstag“, hat Harald keine besonders schönen Erinnerungen an jene Zeit und die lebensbedrohliche Erkrankung.
Mutter Anni Hansen und Kundin
Familie und Geschäft
Harald Hansen wurde in einen Geschäftsbetrieb, einen typischen Familienbetrieb, hineingeboren. Das Familienleben, der komplette Tagesablauf, alles richtete sich selbstredend nach den Gegebenheiten des Milchgeschäfts:
Der Tag begann um kurz nach 4 Uhr morgens. Dann kam der Meierei-LKW und brachte die Milchkannen. Das waren Eisenkannen mit 40 Liter Inhalt, aus denen mit Messbechern die Milch anfangs verkauft wurde. Später gab es eine Abfüllanlage mit einem Bottich mit 300-l-Inhalt. Die schweren Kannen mussten allesamt angehoben und umgefüllt werden.
Neben der Milch lieferte die Meierei tagtäglich auch Schlagsahne, saure Sahne, und die Buttermilchsuppe. Das Geschäft war werktags von 7 bis 13 Uhr und von 15 bis 18 Uhr geöffnet, nach Ladenschluss war aber längst noch nicht Feierabend: Das große Reinemachen war dann angesagt. Pünktlich um 19 Uhr gab es jeden Tag das gemeinsame Abendbrot, spätestens um 21.30 Uhr war „Bettzeit“ für alle – für die kleinen Kinder anfangs entsprechend früher. Am Sonnabend schloss der Laden um 15 Uhr. In den ersten Nachkriegsjahren war zeitweise sogar sonntags das Geschäft geöffnet: Die Kunden hatten allesamt keinen Kühlschrank zuhause, um Lebensmittel länger als zum sofortigen Verzehr aufzubewahren. So bildeten sich an jenen Sonntagen oft lange Schlangen vor dem Geschäft: Die Schlagsahnemaschine lief an jenen Tagen meistens ohne Unterbrechung.
Als sich vermehrt Konkurrenz ergab durch zahlreiche andere Geschäfte, und es auch Flaschenmilch gab, wurden die Flaschen zum Teil in die Haushalte sowie zu Großverbrauchern geliefert. Dazu gehörten neben der Jugendherberge im Spanuthhaus in der Mühlenstraße auch die Firmen Schiebler und Märtens, ebenfalls in der Nähe ansässig, und in der Sophienstraße die Firma Robbe & Berking – die später im Jahr 1956 ihren Standort an die Straße Zur Bleiche verlegte.
Morgens um sieben Uhr wurde die Auslieferungskarre gepackt mit 2 Kisten mit Literflaschen in Stahlbehältern, 2 Kisten Halbliterflaschen und anderen bestellten Artikeln. Dann ging es, anfangs mit Manneskraft und später im familieneigenen Opel-Caravan, die Mathildenstraße hoch zum Ausliefern der Ware. Harald hat selbstverständlich immer, als er das nötige Alter dafür hatte, mitgeholfen.
In den ersten Jahren führte der Laden ausschließlich Milch, Sahne, Buttermilch, saure Sahne, Butter, Eier und Käse. Die Bezirke der Milchhändler waren in jener Zeit klar abgesteckt, es gab zudem eine Preisbindung. Das änderte sich allerdings Jahre später, als die Kolonialwarenhändler auch Flaschenmilch verkaufen durften. Daraufhin wurde die „Milchhandlung Hansen“ umgebaut, Edeka-Produkte des täglichen Bedarfs hielten Einzug neben den Milchprodukten – so wurde allmählich die Spartenhoheit der Fachgeschäfte aufgeweicht, der Trend zum späteren „Supermarkt“ begann und war nicht mehr aufzuhalten.
Als kleiner Junge spielte Harald mit seinen Freunden erst noch auf dem eigenen Hof, sie bauten dort in den damals schneereichen Wintermonaten mit Leidenschaft Schneehöhlen.
Unten: Der Laden
„Der Sonnabend war unser besonderer Tag“
Sonnabends schloss das Milchgeschäft bereits um 15 Uhr. Der Sonnabend war in vielen Familien damals „Großbadetag“. „So war das auch bei uns“, erinnert sich Harald Hansen noch sehr gut an jene Zeit. Nur Wohlhabende hatten seinerzeit ein eigenes Badezimmer, doch jede Familie besaß zumindest eine Zinkbadewanne. In dieser Wanne wurden nachmittags die Kinder nacheinander gebadet und gewaschen, die Kleineren meist zuerst. Im Sommer an den wärmeren Tagen fand die Bade-Aktion manchmal sogar draußen auf dem Hof oder im nachbarlichen Garten statt, im Winter dagegen in der Küche oder, wenn es mal so richtig knackig kalt war, im Wohnzimmer direkt vorm warmen Kachelofen. Irgendwann in den 50er Jahren machte dann das Dampfbad „Laumen“ auf, Herr Laumen vermietete gleich sieben Badewannen, die er stets per Schlauch mit warmem Wasser auffüllte. „Dort lag man in einer richtigen Badewanne: Was für ein Luxus“, grinst Harald noch heute über jene Zeiten.
„Häufig mussten wir stundenlang warten, bis eine Wanne frei wurde. Die Wartezeiten wurden von uns gern in Kauf genommen wegen der im Warteraum ausliegenden Lesemappen, die wir förmlich verschlungen haben“, ergänzt Harald zu dem Thema. Nach dem Baden begann dann endlich der gemütliche Teil des Familienlebens: Alle saßen in der guten Stube, die Kaffeestunde und das Abendbrot wurden praktisch zusammengelegt: Es gab erst frisches Rosinenbrot mit Butter, später dann Wurst und Käse, manchmal sogar leckere Wiener Würstchen. „Nach den Mahlzeiten saßen alle gemütlich beieinander, mein Vater las uns oft Geschichten aus Büchern vor. Manchmal hörten wir gemeinsam vorm Radio ein Hörspiel, oder wir spielten Karten- oder Gesellschaftsspiele“, schwelgt Harald in Erinnerung an die eigene Kindheit im Kreise der Familie. Fernsehen oder gar Computer gab es damals übrigens nicht!
Vater-Mutter-2 Kinder, noch ohne Nesthäkchen Mutter-Vater-2 Kinder, im Kriege
Die Exe
Neben dem beschriebenen Familienleben gab es für die Kinder des Friesischen Bergs natürlich auch noch eine Kindheit außerhalb des Familienbereichs. Wenn die Kinder nicht gerade in der Schule waren oder den Eltern helfen mussten, konnte man sie praktisch immer auf der Exe antreffen.
Auf der Exe gab es nach dem Krieg ein „Flüchtlingslager“, bestehend aus Holzbaracken, für die Vertriebenen des 2. Weltkrieges aus den Ostgebieten Deutschlands. Im Sprachgebrauch damals hießen die Bewohner „Flüchtlinge“. Sehr viele Vertriebene kamen aber auch in Privatwohnungen unter. „Eine Familie Stange wohnte übergangsweise in unserem Haus bei der Familie Braack, und ein Herr Powels hatte ein Zimmer, das vom Treppenhaus abging“, erinnert sich Harald. Die Straße „Zur Exe“ endete an der Exe. Der gesamte Straßenverkehr vom Südermarkt kommend Richtung Friedenshügel und weiter nach Niebüll, also die B 199, führte seinerzeit durch die Friesische Straße. Westlich der Exe, wo sich heute neben dem großen Parkplatz die Gemeinschaftsschule und die Fördehalle befinden, waren zahlreiche Gärten, eine große Kiesgrube, und ein weiteres Barackenlager: Das Friesenlager am Mückenteich. „Auch meine Eltern hatten auf dem Gelände einen Schrebergarten“, weiß Harald noch. „Der Gartenweg wurde später zur Professor-Mensing-Straße ausgebaut. Im Winter rodelten wir mit unseren Schlitten in den „Schanzen“, so nannten wir das abschüssige Gelände neben dem jetzigen Hostel. Die Schlittenfahrt endete direkt am Zaun des Firmengeländes der Feldmühle. Schlittenfahren konnte man übrigens auch sehr gut auf der abschüssigen Mathildenstraße. Wenn genügend Schnee lag, spürte man den welligen Belag des Kopfsteinpflasters kaum. Viel Straßenverkehr gab es damals nicht.“
Harald weiter: „In den Baracken auf der Exe wurde nach Beendigung der Unterbringung von Flüchtlingen ein Kindergarten eingerichtet, den auch meine sieben Jahre jüngere Schwester besuchte. Ich meine, dass auch das Katasteramt dort untergebracht wurde, aber da bin ich nicht ganz sicher. Im Übrigen war Marion das Nesthäkchen, natürlich entsprechend verwöhnt und unterlag anderen „Gesetzen“. Während der Pubertät war ich als der große Bruder gefordert.“
Die Exe war Spielplatz, Bolzplatz, Freizeitplatz für sämtliche Kinder aller Altersklassen, die Jungs spielten oft Cowboy und Indianer, Fangspiele oder eben Fußball – in allen möglichen Variationen. Die Vielfalt der Spiele, neben dem Bolzen auf der Exe, kannte keine Grenzen: „Wir spielten „Landklauen“ auf einem vorgezeichneten Feld auf dem Sandboden oder Murmelwerfen, wir haben die Deckblätter der Zigarettenschachteln gesammelt und untereinander getauscht“, erinnert Harald sich noch genau an jene Kindheitstage.
Im Herbst kam es in jedem Jahr zu einem besonderen Ereignis: Praktisch alle Kinder des gesamten Stadtteils versammelten sich auf der riesigen Freifläche und ließen ihre Drachen steigen – ein beeindruckendes Bild ergab sich dann, insbesondere bei gutem Flugwetter.
„Ich habe jeden Tag auf der Exe Fußball gespielt“, weiß Harald zu erzählen. „Jeder, der wollte, spielte mit – ob groß oder klein, das war völlig egal!“ Manchmal wurde auch Schlagball gespielt, meistens im Sommer nach dem Abendbrot – wenn es draußen länger hell war. Während tagsüber die Kinder die Exe bevölkerten, war sie am frühen Abend oft der Treffpunkt für die Jugendlichen, im Sommer auch sehr häufig für die Erwachsenen der Gegend. „Zweimal im Jahr war immer der Flensburger Jahrmarkt auf der Exe, einige Male im Jahr gastierten dort unterschiedlich große Zirkusse, in den ersten Jahren meiner Kindheit gab es sogar noch einen Pferdemarkt“, nennt Harald die Veranstaltungshöhepunkte auf dem beliebten und großzügigen Platz. „Damals spielte man im Radio kaum Unterhaltungsmusik, die neuesten Schlager hörten wir immer erst, wenn mal wieder Jahrmarkt war!
Vor Weihnachten gab es regelmäßig einen Tannenbaumverkauf auf der Exe, und gelegentlich hielten die Zeltmissionen in eigens dafür aufgestellten Pavillons hier Veranstaltungen ab. Wir Kinder besuchten dann die Nachmittagsveranstaltung. Unsere Eltern hatten keine Zeit für uns: Die mussten im Milchgeschäft die Kundschaft bedienen.“
Sollten bei den Hansens bestellte Waren zu Kunden gebracht werden, war Harald meistens der jeweilige Bote. „Dann wurde ich direkt vom Spielen weggeholt, und musste Milch, Schlagsahne – was auch immer – sofort bei dem und dem Kunden in der Nachbarschaft anliefern. Das war manchmal schon ärgerlich, besonders wenn die eigene Fußballmannschaft gerade am Gewinnen war“, lacht Harald, „doch ich wäre nie auf die Idee gekommen, dagegen aufzubegehren. Das Wort der Eltern war Gesetz, da hätte keiner widersprochen!“ War mal wirklich schlechtes Wetter, und man konnte sich nicht draußen aufhalten, gab es längst nicht die Alternativen, die es heutzutage für Kinder und Jugendliche gibt. Kaum ein Kind oder Jugendlicher verfügte über ein eigenes Kinderzimmer, oder gar über ein eigenes Radio – und ein Fernsehgerät hatten ja noch nicht mal die meisten Eltern zuhause. Die Jungs besaßen zwar einige kleine Spielzeugautos, von Wiking oder Siku, vielleicht auch einige Spielzeug-Cowboys und -indianer, aber meistens musste man seine eigene Phantasie nutzen und sich Spiele ausdenken. In einigen Familien wurde viel gelesen, aber die große Auswahl an Kinderlektüre wie heute gab es einfach nicht – wer Glück hatte, fand zuhause einige Karl-May-Bücher vor und konnte sich so wie Winnetou, Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi fühlen und in den Tagträumen durchs wilde Kurdistan oder durch die Prärie reiten.
Kurz vorm Drachensteigen Bad im Garten
Die obere Friesische Straße
„Die obere Friesische – zwischen Schützenkuhle und Marienallee – war unser Einzugsgebiet, unser Revier“, kann Harald sich bestens erinnern. „Das Straßenbild war geprägt von unzähligen kleinen Geschäften und Kneipen. Auf einer Strecke von weniger als einem halben Kilometer brummte das Geschäftsleben.“ Unglaublich, aber wahr: Harald kann sich an die meisten dieser Läden erinnern:
„Beginnen wir mit der Kreuzung Stuhrs-allee/Schützenkuhle in Richtung Westen: Auf beiden Ecken gab es Gaststätten, rechts „Hotel und Restaurant Bartelsen“, links den „Friesischen Gasthof“. Linksseitig folgten Bäcker Bruhn, Elektro-Thomsen, auf dem Hinterhof befand sich eine Fahrrad-Werkstatt. Dann folgte das „Cafe Handewitt“, auf dem dahinterliegenden Hof betrieb der Kohlenhändler Fürstenberg sein Gewerbe. An der Ecke Sophienstraße gab es Farben und Kleinmaterial bei Karsten Locher (jetzt „Farben Sörensen“) zu kaufen, auf der anderen Seite hatte Bäcker Andresen sein Geschäft. Es folgte die Drogerie Duus: Da kaufte ich als kleiner Junge gern für 5 Pfennig Salmiakpastillen! Neben Duus kam der Tabakwarenladen Wiggert, an der Ecke Katharinenstraße betrieb der Obst- und Gemüsehändler Linke sein Geschäft. Gegenüber an der anderen Ecke gab es, allerdings erst später, einen „Arko“-Laden, dann folgte eine damalige Institution namens „Anna Masch“: „Anna Masch“ betrieb in ihrer Wohnung ein in jenen Jahren durchaus übliches Gewerbe: Sie nahm sich der empfindlichen Nylonstrümpfe der heimischen Damenwelt an, sie reparierte und entfernte die Laufmaschen jener Strümpfe – das sparte der Kundschaft viel Geld und half ungemein.
Zur Exe hin gab es an der einen Ecke einen Lebensmittelladen, den „Konsum“, gegenüber verkaufte Schlachter Juhl seine Waren, es folgte „Uhren Lenz“, und dann – ja, dann kamen wir, die „Milchhandlung Hansen“! Der nächste Laden im selben Haus war der „Kaufmann Staugaard“, Chefin war Frau Staugaard. Im Nachbarhaus residierte der Schreib- und Papierwarenhändler Hoeck, auf dem Hof im dortigen Hinterhaus reparierte Schuster Witte im Obergeschoss Schuhe aller Art, im Nebenhaus hatte „Bäcker Thomsen“ sein Geschäft.“ Harald Hansen wendet sich der anderen Straßenseite, der rechten, zu: „Dort befand sich neben der Gaststätte ein Tabakwarengeschäft, auf dem Hof dahinter war die Tischlerei Köpke. Es folgte das Fabrikgelände von Anthon & Söhne, einem Flensburger Familienbetrieb für Maschinenbau, mit der hohen Mauer zur Friesischen Straße. Am Ende lag die private Villa der Familie Anthon. Es folgte der Polsterer Schutz, ein sogenannter Kellerladen, und an der nächsten Ecke, auch in einem Kellergeschäft, schnitt der Friseur Davidsen die Haare der Einheimischen.
Gegenüber lag der Fischhändler Zahn, es folgte ein weiterer Friseur namens Raube, dann das Süßwarengeschäft „Tante Anna“, schließlich kam ein weiterer Bäcker, Bäckerei Pries, in der ersten Etage hatte Schneider Franzen seine Nähstube, und im Hof des Hauses gab es eine Schmiedewerkstatt. An der Ecke Mathildenstraße gab es das Lebensmittelgeschäft „PH“ – Peter Hans Petersen und gegenüber Trikotagen Peter Grünberg. Beide Geschäfte befanden sich direkt gegenüber unserer eigenen Wohnung. Peter Grünberg war der Vater von meinem lebenslangen Freund und Fußballkameraden Dieter Grünberg, mit dem ich seit den frühen Exe-Tagen bis einschließlich heute noch regelmäßig Fußball gespielt habe und immer noch spiele!“
In Richtung Westen in der oberen Friesischen Straße ging es so ähnlich weiter, hier ist Haralds Erinnerung nicht mehr ganz so präsent: „An beiden Ecken zur Christinenstraße gab es jeweils ein Lebensmittelgeschäft (Mohr und Johannsen), an der Ecke zur Straße Ochsenmarkt gab es später noch ein weiteres Milchgeschäft. Die Damenwelt erhielt seinerzeit in Hausnummer 87 von Friseurin Carstensen ihre Dauerwelle.“
„Jede Woche kam einmal ein mobiler Fischhändler mit seiner frischen Ware und einer Schottschen Karre in unsere Straße. Ein Kollege von dem lief mit einem Korb unterm Arm vorweg, und kündigte mit lauten Rufen wie „Hoppkrabb“ die zum Verkauf stehenden Nordseekrabben an. Ein weiteres Unikum war der Lumpensammler namens Charlie, der mit einem Blockwagen und einem großen Bernhardinerhund regelmäßig seine Runden drehte und dabei Lumpen, Flaschen und Überbleibsel sammelte. Wir Kinder verspotteten ihn gern, weil er ständig meckerte und laute Wutausbrüche bekam, wenn er sich über was auch immer ärgerte“, weiß Harald über damalige Originale zu erzählen.
Einkaufen in den Nachkriegsjahren
Die meisten der mehrere Dutzend Einzelhändler sind im Laufe der Jahre nach und nach verschwunden – das Einkaufs- und Konsumverhalten der Menschen veränderte sich allmählich. Spätestens mit dem allgemeinen Siegeszug von Kühlschränken und Tiefkühltruhen in fast allen Haushalten sowie der immer mehr zunehmenden Motorisierung der Bevölkerung änderte sich das Einkaufsverhalten.
„Bis weit in die 60er Jahre kauften die Menschen ihren täglichen Bedarf in häuslicher Nähe, sie gingen zu Fuß zum Einkaufen, die Lebensmittel waren fast alle nicht lange haltbar, sie waren außerdem auch nicht wie heutzutage lagerfähig verpackt: Man kaufte sogenannte „lose Ware“.
Auf dem Einkaufszettel stand dann häufig: 3 Gewürzgurken, 1 Teller voll Senf, 3 Liter Milch, 4 Scheiben Wurst, ein halber Liter Essig, 1 Tüte Salz, für die Kinder 3 Sahnebonbons. Für die lose Milch etwa mussten immer eigene Behältnisse mitgebracht werden, die meisten Haushalte hatten damals mindestens eine kleine Milchkanne zu diesem Zwecke. Bedient wurde man am Verkaufstresen – so wie man es heute im Supermarkt noch bei Wurst- und Fleischwaren kennt. Das Eingekaufte wurde meistens sofort am gleichen Tag noch verbraucht, dazu ging man fast täglich mal eben zum Kaufmann oder Milchmann um die Ecke – oder schickte eines der älteren Kinder mit einem Zettel los.
Ende des ersten Teils
Text: Peter Feuerschütz
Fotos: B. Nolte, privat