Flensburg hat so einige versteckte Sackgassen in beschaulicher Lage. Wenn man dieses Grundstück in der Westlichen Höhe betritt, benutzt man einen gepflasterten, schmalen Weg, der von üppigem Grün und einer großen Skulptur begleitet wird – bis man an einer weinroten Tür stoppt. Wenn man erwartet wird, leitet der Hausherr den Besuch ins Wohnzimmer. Dort ist ein Aha-Effekt garantiert, insofern die Regenwolken nicht zu tief hängen oder der Nebel alles verhüllt. Denn vor den Fenstern erstreckt sich ein herrliches Panorama des Flensburger Hafens. Michael Wempner, der Schauspieler, der jüngst sein 50-jähriges Bühnenjubiläum feierte, wohnt hier seit fünf Jahren zusammen mit seiner Frau. Für ihn muss es „Wieder“ heißen, denn es ist das Haus seiner Kindheit. Er hat es übernommen, nachdem seine Mutter Irmgard im gesegneten Alter von 93 Jahren verstarb.

Sie und Vater Fritz waren bekannte Akteure der darstellenden Künste. Da fällt einem sofort ein Sprichwort ein: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Sohn Michael hatte aber zunächst andere Interessen. Besonders Sport und Fußball hatten es ihm angetan. In den 1960er Jahren befand sich die heimatliche Scholle in absoluter Stadtrandlage. Michael Wempner erinnert sich, wie er auf dem Gelände des heutigen Recyclinghofes am Lornsendamm Pfähle als Torpfosten in den Rasen gesteckt und auf der Wiese dann mit seinen Freunden Fußball gespielt hatte. Später wechselte er auf den DGF-Platz. Noch immer kickt er im Verein, und zwar bei den Altherren des TSV Nord. Punktspiele standen in jüngster Zeit aber nicht mehr im Terminplan. „Meine Schauspiel-Kollegen hatten die Sorge, dass ich mir etwas brechen könnte und mit einem Gipsbein ankommen würde“, lacht der Künstler.


Drehscheibe „Alter Friedhof“
Eine andere Anekdote aus der Kindheit. Direkt an der Fußballer-Wiese sollte eine neue Schnellstraße gebaut werden, die 1968 als westliche Ortsumgehung eingeweiht wurde. Die Bevölkerung am Stadtrand war in Aufruhr, da die neue Verkehrsmagistrale den Zugang zur Marienhölzung versperren würde. Irmgard Wempner initiierte eine Unterschriftenliste. „Ich war noch zu klein, aber meine älteren Schwestern waren in der Nachbarschaft unterwegs“, erzählt Michael Wempner. „Das Ergebnis kann man übrigens immer noch sehen: ein kleiner Tunnel unter der Straße.“


Seine Schullaufbahn startete in der Waldschule und drehte sich dann um den Alten Friedhof: zunächst die Auguste-Viktoria-Schule, dann die ehemalige Nikolaischule auf dem Museumsberg und schließlich die Werkkunstschule, die sich damals im Obergeschoss des Museumshauptgebäudes befand. „Das war nicht nur wegen der räumlichen Nähe naheliegend“, erklärt er. „Ich hatte schon auf der Berufsfachschule einen Elektrotechnik-Schwerpunkt, wollte danach etwas Handwerkliches machen und interessierte mich besonders für die Bildhauerei.“ Der prägende Lehrer war Uwe Appold, der bekannte Bildhauer und Maler. Nach drei Jahren war Michael Wempner Holzbildhauer-Geselle. 1985 kürte man ihn zum Landessieger von Schleswig-Holstein.


Studium in Hamburg und Italien
Ein direkter Berufseinstieg war schwer, aber er wollte akademische Schritte gehen: Er studierte unter Wolfgang Genoux an der Freien Kunstschule in Hamburg. Der Flensburger war fasziniert. „Dort wurde gar nicht so viel Kunst produziert, sondern hauptsächlich über künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten gesprochen“, erzählt er. Dann packte ihn das künstlerische Fernweh: Italien. Die Akademie in Carrara lag „dort, wo der Marmor herkommt“ – in der Toskana. Neben der Marmor-Bearbeitung beschäftigte sich der Student auch mit Bronzeguss und Malerei. Dazu viel Kunstgeschichte – alles auf Italienisch. „Das ging ganz gut“, lächelt Michael Wempner. „Die Inhalte hatte ich schon in der Werkkunstschule gelernt.“


Beim Italien-Aufenthalt mit dabei war Freundin Frauke, eine Krankenschwester aus Flensburg, die später seine Frau werden sollte. Das junge Paar lebte in einem kleinen Bergdorf in einer alten Wassermühle. Ganz in der Nähe befand sich ein Bach, der sich bei Niederschlägen zu einem reißenden Fluss ausweiten konnte. Land und Leute faszinierten ebenso wie Florenz und Rom mit ihren spannenden Kunstschätzen. Am produktivsten waren die Stippvisiten bei einigen Bronzeguss-Stätten. Das wichtigste Ergebnis steht im eigenen Vorgarten: „Die Schwangere“ war 1990 die Abschlussarbeit in Italien.

Michael Wempner, Kim Schmidt, Dirk Magnussen

Jubiläumsstück „Champagner to´n Fröhstück“
Familiengründung und Kunst in Flensburg
Ein Jahr zuvor kam Raphael, der erste Sohn, zur Welt. Die junge Familie orientierte sich zurück nach Flensburg – und wurde kontinuierlich größer: Isabel (1991), Lia Lorena (1996) und Dario (2000) wohnten bald auch hinter einer Haustür im Stadtteil Jürgensby. Ein Wohngebäude und eine Werkstatt unter einem Dach – das wurde zur Kombination für drei Dekaden. Die Aufträge für den Bildhauer kamen zumeist aus der Region. Ein norwegischer Industrieller lud Michael Wempner nach Oslo ein und beauftragte ihn schließlich, einige Skulpturen zu schaffen. Der Flensburger Künstler stellte in Galerien aus und verkaufte viele Werke. Eine müde, schwere Taube, die den Krieg auf dem Balkan symbolisierte und stellvertretend alle Kriege meint, steht noch heute im eigenen Treppenhaus.

mit dem orientalischen Schattenspieler Dirk Magnussen (2020)

Michael Wempner fertigte auch plastische Objekte für die Niederdeutsche Bühne in Flensburg und das Ohnsorg-Theater in Hamburg. Die darstellende Kunst hatte während seines Studiums pausiert, hat aber noch tiefere Wurzeln als die Bildhauerei. Das Schauspiel lag ja quasi mit in der Wiege. Den ersten Impuls setzte die Mutter, als ihr Sohn 13 Jahre alt war. Er erhielt eine Rolle in der plattdeutschen Version von „Das tapfere Schneiderlein“. Im nächsten Stück war Michael Wempner der Tommi in „Pippi Langstrumpf“. Er war schnell ein Teil des Ensembles, stieg ins Abendtheater ein und schaute Theatergrößen wie Renate Delfs, Willy Bartelsen, Jens Exler, Dieter Pencik oder Günter Holz auf die Finger. Natürlich stand er auch mit seinen Eltern Irmgard und Fritz gemeinsam auf der Bühne.


Das Comeback als Schauspieler
Gleich nach der Rückkehr aus Italien feierte Michael Wempner sein Theater-Comeback nach fünfjähriger Pause – als „Herr Funk“ im Stück „Rund um Kap Horn“, das sein Vater geschrieben hatte. Es war bis auf eine Panne ein reibungsloser Wiedereinstieg. „Ich ging durch einen Türrahmen und mir fiel plötzlich das Acrylglas der Eingangstür in den Arm“, erinnert sich der Schauspieler, der sich in verschiedensten Genres wohlfühlte. Kurz nach dem Tod des Vaters spielte er mit seiner Mutter gemeinsam den Familiendramen-Klassiker „Gespenster“ – als Sohn. Proben und Auftritte forderten viel Zeit ein: Das Schauspiel verdrängte die Bildhauerei immer mehr, bis sie ab der Jahrtausendwende von untergeordneter Bedeutung war.


Zu diesem Zeitpunkt betrat Michael Wempner abermals künstlerisches Neuland – mit seinem Erstling als Autor. „Alles Banane“ war ein quietschfideles Kinderstück, das beim jungen Publikum sehr gut ankam. Der Zuspruch verstärkte beim Urheber den Spaß am Geschichtenerzählen. Es folgten fünf weitere Werke für Kinder – bis hin zum „Zauberlehrling“ im Jahr 2009. Der schönste Beifall traf oft auf Umwegen ein. Einmal wandte sich ein kleiner Kinderheim-Bewohner nach einer Aufführung an seine Betreuerin: „Das war der schönste Tag in meinem Leben!“ Und nach einer Vorstellung im Orpheus-Theater landete Michael Wempner zusammen mit dem Schauspiel-Kollegen Dirk Magnussen einmal im Porticus, als drei junge Damen mit einem breiten Lächeln verrieten: „Ihr seid die Helden unserer Kindheit.“


Broschmann & Finke Theater Company
Mit Dirk Magnussen hatte Michael Wempner 1996 ein eigenes Projekt gestartet, das in Kürze die „30“ vollmacht. „Frau Broschmann“ und „Frau Finke“ plauderten nicht Platt, sie waren die Protagonistinnen einer Comedy auf Hochdeutsch. Legendärer Hausfrauen-Tratsch, Pantomime und Varieté-Nummern prägten die zweite Show „Wo wir sind, ist vorne“, die bei den Norddeutschen Comedy-Tagen Lachsalven im Deutschen Haus auslösten. Fast anderthalb Dekaden lief das Programm unter der Schirmherrschaft der Niederdeutschen Bühne, ehe es 2010 zur Zäsur kam. „Wir wollten in eine andere Richtung, wir setzten auf Hochdeutsch und Musical“, erklärt Michael Wempner.


Zur neuen Heimat der „Broschmann & Finke Theater Company“ avancierte das Bürgerhaus in Harrislee, wo eine Tournee-Theater-Bühne genutzt werden kann. Zum Klassiker entwickelte sich die Silvester-Aufführung in der Flensburger Waldorfschule vor 500 Leuten.

Die durchweg humorvollen Inszenierungen füllen zur Weihnachtszeit mehrmals das C.ulturgut in Weiche und immer mal wieder andere Locations zwischen Schlei und Nordsee. „Direkt vor einem Publikum zu spielen – das hat eine ganz eigene Atmosphäre“, betont Michael Wempner. Seine Frau Frauke unterstützt ihn nicht nur privat, sondern auch beim BroFi-Theater, und zwar bei der Ausstattung und den Kostümen.

„Ewig jung“, „Profi-Show“ und „Rock my Soul”
Mit dem „Männerhort“ (2010) begann ein bunter Reigen schräger Stücke. Das skurrile Songdrama „Ewig jung“ (2013) blieb stets frisch und erhielt 2023 mit „Dritter Frühling“ eine Fortsetzung in Zusammenarbeit mit Co-Autor Arne Christophersen. Zu einem Sketch-Evergreen mauserte sich die „Brofi-Show“, in der Holger Obbelode neben Dirk Magnussen und Michael Wempner als dritter Vollblut-Comedian in Erscheinung trat. Beim Musical „Waschbar“ (2017) ging es um Liebe, Leid und Lust. Ein emotionales Dreiergestirn, das ein großes Darsteller-Ensemble involvierte. Ähnlich das nächste Musical: „Rock my Soul“ (2019) ließ die größten Hits der „Les Humphries Singers“ aufleben – dank einer Kooperation mit dem Musikrechte-Verlag. Zur 25. Aufführung tauchten plötzlich sogar zwei Original-Singers auf der Bühne auf. Plattdeutsch blieb eine heimliche Liebe. 2014 schrieb und inszenierte Michael Wempner die Komödie „Tiet to leven“. Die Geschichte um den Empfänger eines transplantierten Herzens, der sich in die Familie seines Spenders einschleicht, begeisterte eine Fachjury. Sie verlieh dem Autor für Aufbau, Wortwahl und Dramaturgie den Konrad-Hansen-Preis. Das Stück wurde inzwischen Bestandteil zweier Germanistik-Bachelor-Arbeiten. Michael Wempner selbst mischt sich gerne mal unter die Zuschauer, um über den berühmten Tellerrand zu blicken und sich inspirieren zu lassen – sei es in der „Heißen Ecke“ in Hamburg, beim „Hamilton“ im Operettenhaus oder in einem Bremer Variety-Theater.

Sommerpause und Saison
In der Saison ist oft wenig Zeit, aber es gibt ja die Sommerpause. In der letzten war der Künstler mit der ganzen Familie im Urlaub. Es bewegte sich ein 15-köpfiger Clan, darunter fünf Enkel, nach Dänemark. Ab Spätsommer häuften sich wieder Proben, Marketing und Terminierungen. In den letzten 50 Jahren bringt es Michael Wempner auf weit über 4000 Aufführungen.

Seit Oktober spielt er in der plattdeutschen Komödie „Champagner to´n Fröhstück“ den Fabrikanten Valentin Müller, der aus dem Seniorenheim flüchtet und bei der Wohnungssuche eine Verbündete trifft. An Heiligabend hat Michael Wempner einen Sondertermin in einem Harrisleer Seniorenheim. „Meine Frau hat im Krankenhaus Dienst, dann habe ich Zeit, Gedichte und Geschichten vorzutragen“, sagt er mit einem Schmunzeln. Neue Projekte hat der Multi-Autor im Kopf, in der Schublade und in Vorbereitung. Unter dem Arbeitstitel „Das letzte Lachen“ entsteht ein Buch, das autobiografisch den Bogen zu seinem Vater Fritz schlägt. Dieser war im Zweiten Weltkrieg ein Soldat, der nicht an der Front kämpfte, sondern auf Unterhaltungsabenden seine Kameraden belustigen sollte. Viele lachten das letzte Mal, ehe sie zum Opfer des Krieges wurden. Erzählungen und Mitschriften dienen Michael Wempner als Grundlage für das Manuskript. Parallel schreitet das Musical „Stop and Go“ voran. Zwölf Songs sind zusammen mit dem Komponisten Benito Battiston zu arrangieren. Michael Wempner macht sich bereits Gedanken über die passenden Darsteller und regelt organisatorische Dinge. „Ob wir im Sommer oder zum Herbst fertigwerden, werden wir sehen“, sagt er. „Wir haben keinen Zeitdruck, und wir müssen viel unter einen Hut bringen.“ Im Arbeitszimmer laufen bisweilen aber schon erste Kostproben – von Gospel bis rockig.
Text: Jan Kirschner
Fotos: Jan Kirschner, privat















