Es war schon dunkel an diesem Adventssonntag, aber irgendwie heller als sonst. Es war der 2. Dezember 1945, als nach fast sechs Jahren wieder das Licht der Straßenlampen ansprang. Diese ungewohnte Helligkeit war eine Überraschung für viele Flensburger, für einige wirkte sie „beinahe wie ein Märchen“. Sechs Winter lang musste wegen der Gefahr von Bombenangriffen alles abgedunkelt werden. Nun war das Licht in die Hauptstraßen und an die wichtigen Kreuzungen zurückgekehrt – täglich ab 18.30 Uhr für vier Stunden.
Es brannten allerdings nur die Bogenlampen, die mit Strom funktionierten. Bei der Gasbeleuchtung waren oftmals Masten und Beleuchtungskörper beschädigt, zumal die Gasversorgung ohnehin stark limitiert war. Eine Lieferung war werktags nur von 16 bis 19 Uhr und sonntags von 10.30 bis 13.30 Uhr garantiert. Aber auch das lückenhafte Lichtermeer verbreitete eine besondere Atmosphäre, die am Südermarkt täglich um 21 Uhr mit einer musikalischen Bereicherung gewürzt wurde. Die Glocken der Nikolaikirche spielten: „Vom Himmel hoch, da komm ich her“. Kurz vor Weihnachten konnten sogar die elektrischen Kerzen des großen Weihnachtsbaumes angeschaltet werden. Zwei nadelige Geschwister, die die Stadt aufstellen ließ, standen am Nordertor und auf dem Bremer Platz.
Weihnachtszeit als Großstadt
Die aktivierte Beleuchtung in den Hauptstraßen hatte die Militärregierung gefordert. Sie war auch ein Thema im Magistrat der Stadt Flensburg. Dieses gemeinsame Gremium von Verwaltung und Politik blickte auf die erste Friedensweihnacht seit sieben Jahren. Und erstmals lebten zum Zeitpunkt des christlichen Festes etwas mehr als 100.000 Menschen im Stadtgebiet. Dazu gehörten weiterhin gestrandete Soldaten der aufgelösten Wehrmacht, sogenannte „Displaced Persons“ aus Polen oder dem Baltikum und zahlreiche Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten.
Viele der Neuankömmlinge waren in Privathäusern einquartiert. Zum Stichtag 11. Dezember waren aber 2798 Menschen, darunter 1115 Kinder, auf 21 verschiedene Baracken-Unterkünfte verteilt. Die größeren Lager wirkten wie ein „Ghetto“, hatten sogar eigene Kirche, Schule und Geschäfte. Die Lebensbedingungen waren schlechter als bescheiden. Oft hausten mehrere Familien in einem Raum, teilten sich einen Ofen. Anfangs dienten Kreidestriche zur Abtrennung der Wohnflächen. Da wirkten zur Begrenzung aufgehängte Decken schon fortschrittlich. Im Lager Kielseng teilten sich vier Personen ein primitives Doppelstockbett. Anderswo mussten einige auch auf dem Boden schlafen. Die britische Militärregierung verfügte Ende 1945, dass „in Flensburg wohnende oder untergebrachte Zivilpersonen einen Mindestwohnraum von dreieinhalb Quadratmeter je Kopf zu ihrer Verfügung haben müssen“.
Der Flensburger Flüchtlingsausschuss
Als Instrument der politischen Beteiligung wurde im Herbst 1945 – wie auch in vielen anderen Orten – ein Flüchtlingsausschuss gebildet. Unter dem Vorsitz von Stadtrat Friedrich Drews trafen sich wöchentlich drei einheimische Stadträte und drei Flüchtlingsvertreter. Dieses Trio bildeten drei Herren mit gehobenen Berufen aus Pommern, Ostpreußen und Mecklenburg. In der Runde ging es um Arbeits-, Wohn- und Energiepolitik, aber auch um Versorgungs- und Gesundheitsfragen.
Die übergeordnete Zielsetzung war ein Ausgleich zwischen Neuankömmlingen und angestammter Bevölkerung. Von den Sitzungen des Flüchtlingsausschusses entstanden oftmals zwei Protokolle – mit etwas abweichenden Sichtweisen. Es gab Vorbehalte und Misstrauen auf beiden Seiten. Aussagen von Stadträten aus jener Zeit ließen tief blicken. „Flensburg ist nun doppelt so groß wie früher, die Fremden könnten über eine Mehrheit verfügen“, meinte einer. Ein anderer forderte: „Fremden sollte man die Beteiligung an einem Flensburger Geschäft verbieten, damit die Entfremdung der Stadt nicht von Dauer wird.“ Ein Neu-Flensburger aus Königsberg hielt dagegen: „Die Flüchtlinge haben nicht aus Feigheit ihre Heimat verlassen, sondern entsprechend den Anweisungen und der Not gehorchend.“ Weit verbreitet war die Hoffnung, nicht allzu lange in Flensburg bleiben zu müssen und wieder nach Hause zu kommen.
Viele karitative Aktionen in der Adventszeit
In der Adventszeit 1945 begleitete der Flüchtlingsausschuss mehrere Veranstaltungen. Am 13. Dezember hatte man für ein Sonderkonzert im Deutschen Haus 1094 Karten an Fürsorgeempfänger, zu 80 Prozent Flüchtlinge, ausgegeben. Als das Orchester am Ende mit einem Weihnachts-Potpourri auftrumpfte, flossen so manche Träne. Der Schützenhof diente als Plattform für Weihnachtsfeiern der Stettiner, Ostpreußen oder Schlesier. Viele Danziger Familien trafen sich im Deutschen Haus zu einem Krippenspiel. Oberbürgermeister Jacob Clausen Möller kaufte derweil für Weihnachten ein. 1500 Kilogramm Grütze, 700 Liter Milch, 1000 Kilogramm Kartoffeln sowie einige Tannenbäume sollten an die Flüchtlingslager geliefert werden.
Überhaupt waren karitative Aktionen Ende 1945 großgeschrieben. Schon Ende September hatte die Militärregierung ein Hilfswerk der evangelischen Kirche genehmigt, das für Flüchtlinge und Bedürftige Geld, Lebensmittel, Bekleidung und Küchengeräte sammelte. Mitte Dezember hatten vier Kirchengemeinden jeweils eine Wärmestube eingerichtet, in der von Mittag bis Abend Kaffee ausgeschenkt und Lesestoff bereitgehalten wurde. Bei der „Südschleswig-Hilfe“ waren im Dezember 1945 rund 10.000 Empfänger registriert. Es gab in Flensburg zwei Verteilstationen für Lebensmittel, eine für Kleidung und gleich fünf für Milch.
Die Militärregierung setzte für eine Winter-Sammlung einige Kontingente fest: 720 Paar Stiefel, 1200 Decken und 7000 Ski-Mützen. In der britischen Besatzungszone wurde an mehreren Standorten Zuckerwaren produziert – als weihnachtliche Überraschung für die Kinder. Die Stadt Flensburg organisierte 5500 Beutel Studentenfutter, 5000 Kilogramm Äpfel und 20.000 Beutel Pralinen. Versprochenes Trockenobst konnte nicht geliefert werden. Diese kleine Bescherung konnten zunächst die Kleinen mit ihren Eltern im Rathaus am Holm abholen. Dann wurden die deutschen Schulen im Deutschen Haus beglückt, und schließlich gab es im Flensborghus eine Feier für die dänischen Schulen. „Denkt an eure Schulkameraden und an die vielen armen Flüchtlingskinder“, sprach der Oberbürgermeister. „Lasst uns hoffen, dass sie im nächsten Jahr Weihnachten auch in ihrem eigenen Haus und Heim feiern können.“
Weihnachtsfeiern für Jung und Alt
Die Stadt hatte auch an die ältere Generation gedacht. An zwei Nachmittagen erschienen insgesamt 800 Senioren im Flensborghus und erfreuten sich an einer Adventstafel mit Kuchen. Gesangverein und dänische Pfadfinder zelebrierten Weihnachtslieder. Einige Kinder von ehemals politisch verfolgten Eltern erhielten eine Einladung in die „Neue Harmonie“ (Toosbüystraße) – eine Art der Wiedergutmachung. An langen weißgedeckten Tischen fanden sich für jedes Kind ein bunter Teller mit Honigkuchen und ein Tütchen Pralinen. Kellner servierten heißen Kakao.
Der Flensburger Turnerbund, erst seit wenigen Monaten wieder zugelassen, richtete intern eine Weihnachtsfeier für die Kinderabteilung aus, sorgte aber auch für ein sportliches Highlight. 2000 Zuschauer kamen am 9. Dezember 1945 zu einem Schauturnen mit einigen deutschen Top-Turnern ins Deutsche Haus. Das Flensburger Nachrichtenblatt berichtete von der „ersten großen Manifestation nach dem Kriege für den Gedanken der Leibesübung“. Aus der Veranstaltung resultierte ein Gesamterlös von 3000 Mark, der den Kriegsversehrten gespendet wurde.
Basteln und Weihnachtsbäume
Allen war bewusst: Es standen keine Festtage der Üppigkeit bevor. Der Mangel machte erfinderisch. Es wurde viel gebastelt. In der Norderstraße leitete eine „Weihnachtsfrau“ eine Werkstatt mit zwölf fleißigen Helferinnen. Eltern lieferten Stoffreste, Flicken, Holzwolle und Nähgarn an. Material, das sich in Teddys und Puppen verwandelte. In der Angelburger Straße waren zwei junge Frauen tätig. Sie wollten eigentlich Kunstgeschichte studieren, bekamen aber keinen Studienplatz und fertigten deshalb mit einigen Unterstützern Spielzeug, Steckenpferde, Puppenwagen und Weihnachtsschmuck aus Pappe, Wolle oder Holz. Lederfetzen und Segeltuchreste eigneten sich für Gürtel und Taschen. Auch Jugendgruppen der Kirchengemeinden und Verwundete in den Lazaretten beteiligten sich an den immer umfangreicher werdenden Bastelaktionen. So manches Holz- oder Stofftier wurde schließlich in den Schaufenstern der Flensburger Innenstadt präsentiert.
Bereits einen Monat vor dem Fest hatte die Militärregierung mitgeteilt, dass keine „geistigen Getränke“ ausgeschenkt, Weihnachtsbäume hingegen geschlagen werden dürften. Ein Marktmeister versprach: „Für Flensburg werden genug Weihnachtsbäume geliefert.“ Am Südermarkt, am Burgplatz und an 14 weiteren Stellen wurde ein amtlicher Verkauf eingerichtet. Dennoch „bediente“ sich manch einer in einem nahen Wald. Die Polizei vermeldete die Tage vor Heiligabend, viele Diebstähle von Geflügel und Kaninchen im Flensburger Umland.
Weihnachten im Flüchtlingslager
Recht kurzfristig hob die Militärregierung die obligatorische Ausgangssperre für die Heilige Nacht, die Nacht auf den zweiten Feiertag und den Jahreswechsel auf. Das städtische Kulturamt und der Flüchtlingsausschuss luden an Heiligabend für 14 Uhr zu einer „Weihnachtlichen Feierstunde für Flüchtlinge und deren Kinder“ ins Deutsche Haus. Orgelmusik, Gesang, Darbietungen und Ansprachen prägten einen Nachmittag, den nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge miterlebte. Im Barackenlager Kielseng war man froh, den Ofen mit Holz heizen zu können. Bereits gegen zehn Uhr waren britische Soldaten aufgekreuzt und hatten unter den vielen Menschen Weißbrot und Zigaretten verteilt. Viel waren traurig und jammerten über das Elend und die zerstörte Heimat. Ein Engländer versuchte zu trösten: „In spätestens 15 Jahren ist Deutschland wieder aufgebaut.“
Am Nachmittag diente der Wirtschaftsraum des Lagers als Bühne für ein Krippenspiel. Engel mit aufgekrempelten Hemdsärmeln schlichen über den Boden. Ein Pastor hielt eine Predigt. Frauen und Männer sangen: „Stille Nacht, heilige Nacht“. Dabei weinten fast alle und dachten an schönere Zeiten. In den Baracken waren Weihnachtsbäume in Blechdosen aufgestellt, geschmückt mit Sternen aus Glanzpapier. Bei den Geschenken für die Kinder dominierten Papierblöcke, selbstgenähte Puppen und Blechbüchsen-Karusselle. Das Kielsenger Weihnachtsmenü lautete: Weißbrot mit Grießschmalz und gerösteten Steckrübenscheiben. Dazu tranken viele eine halbe Tasse Punsch.
Der offizielle Bericht des Stadternährungsamts skizzierte für die Tage vom 21. Dezember 1945 bis zum 3. Januar 1946 die allgemeine Knappheit in der Lebensmittelversorgung: Während Vollmilch ausreichend vorhanden war, boten die Bäckereien nur Weizenmischbrot an. Weißkohl, Rotkohl und Steckrüben prägten die bescheidene Flensburger Gemüse-Vielfalt. „Mit Ausnahme von zwei Pfund je Kopf der Bevölkerung zu Weihnachten sind seit etwa acht Wochen keine Kartoffeln mehr an die Verbraucher ausgegeben worden“, schrieb ein Beamter. „In den letzten Tagen wurde ein Schiff mit 190 Tonnen Speisekartoffeln von Schottland im Flensburger Hafen gelöscht, aber noch nicht verteilt.“
Ein recht umfangreiches Kulturprogramm
Angesichts der leeren Teller war das Flensburger Kulturprogramm für die Festtage erstaunlich reichhaltig. Im Deutschen Haus inszenierte das Stadttheater am ersten Feiertag mit „Die spanische Fliege“ einen Schwank, der zwölf Jahre lang von den Bühnen verbannt war. In der „Neuen Harmonie“ sorgte der damals bekannte Schauspieler Hermann Speelmanns mit seiner Wanderbühne an drei Abenden für ein volles Haus. Die beheizte Nikolaikirche belebten am zweiten Feiertag Flensburgs Top-Sängerin Gerty Molzen, der Kantatenchor und ein Theaterspiel. Da war ein sportlicher Leckerbissen bereits verdaut. Der Sportverein Flensburg 08 hatte seinen angestammten Platz am Sender saniert und tatsächlich am ersten Weihnachtstag mit einigen Fußballspielen eingeweiht. Tags darauf folgte der Feldhandball.
Auch zwischen den Tagen ruhte die Kulturszene nicht. Täglich wurde um 14.30 Uhr im Deutschen Haus das Märchenspiel „Die Gänsehirtin am Brunnen“ aufgeführt. In den Kinos „Colosseum“ und „Capitol“ lief die „Große Freiheit Nr. 7“ mit Hans Albers. Ein Film, der im Dezember 1944 der NS-Zensur zum Opfer gefallen war und nun von der Militärregierung freigegeben wurde.
Ein eher beschaulicher Jahreswechsel
An Silvester bot das Deutsches Haus mit „Die spanische Fliege“ den letzten kulturellen Nachschlag für 1945. Um 23.30 Uhr begann der Silvester-Gottesdienst in der Marienkirche. Die Polizei registrierte bis auf ein paar eingeschlagene Fensterscheiben einen sehr ruhigen Jahreswechsel. Nur in den Hauptstraßen wurde etwas Feuerwerk gezündet. Die Feuerwehr pumpte an Silvester den vollgelaufenen Keller des Bahnhofshotels leer, und rettete drei junge Pferde aus einem Löschteich in der Schützenkuhle – als das Jahr 1946 gerade einmal zehn Stunden alt war.
Kurz darauf meldete ein Marineoffizier aus Mürwik: „400 Ostflüchtlinge eingetroffen“. Die deutschen Soldaten stellten eine beheizte Baracke zur Verfügung – mit 250 Betten und Stroh. Die Royal Navy ordnete an, dass das Lager bis zum 5. Januar um 18 Uhr geräumt sein müsse, da mit Truppen aus Norwegen zu rechnen wäre. 1946 schien mit den Herausforderungen zu beginnen, mit denen 1945 geendet hatte. Oberbürgermeister Jacob Clausen Möller hatte in der Weihnachtssitzung der Stadtvertretung den „Kampf gegen die Überbevölkerung der Stadt, gegen Kälte und Hunger“ zu den wichtigsten Aufgaben der Politik erklärt. Er zeigte sich zuversichtlich: „Bei bereitwilliger, harter Arbeit wird das kommende Jahr keinen Rückgang, sondern Fortschritt bringen.“
Text: Jan Kirschner














