3,5 Kilometer sind es vom Flensburger Rathaus bis zur westlichen Stadtgrenze. So weit würden die gefüllten Regale des Stadtarchivs reichen – wenn man sie in einer langen Reihe anordnen würde. Rund 140.000 Einheiten sind registriert, bei konstanter Temperatur gut im Keller verpackt – damit sie jahrhundertlang erhalten bleiben. Es gibt Urkunden und Schriften, die über 500 Jahre alt sind. Das Magazin ist keine verdunkelte Kammer mit Spinnennetzen, sondern ein langer, funktionaler Raum mit bewegbaren Regalreihen. Jessica von Seggern ist jeden Tag dort. „Ich muss die vielen Bestände auch noch kennenlernen“, verrät sie.
Es gibt unzählige Standorte und Signaturen – und die neue Stadtarchivarin ist erst seit Mai im Amt. Da sich ihr Vorgänger Broder Schwensen nach gut drei Dekaden in den Ruhestand verabschiedet hatte, wurde die Stelle ausgeschrieben. Jessica von Seggern überzeugte mit ihren Referenzen und ist seither die neue Stadtarchivarin, die Hüterin für das Gedächtnis der Stadt.
Jessica von Seggern wuchs in Lübeck auf, studierte dann in Kiel Geschichte. In der Examensarbeit beschäftigte sie sich mit der Entnazifizierung im Rendsburger Raum. Mit der Promotion arbeitete sie die Neubildung einer politischen Elite im Schleswig-Holstein der unmittelbaren Nachkriegszeit auf. Dabei hatte die Doktorin umfangreiche Berührungspunkte mit dem Landesarchiv in Schleswig. Sie war fasziniert vom direkten Zugang zu Originalquellen („das Papier, was damals beschrieben wurde“) und entschied sich für ein Referendariat in Schleswig. Für die Theorie besuchte sie die Archivschule im hessischen Marburg. Danach war sie im Bundesarchiv in Berlin und schließlich die letzten 16 Jahre im Staatsarchiv Hamburg tätig. Der Alltag drehte sich hauptsächlich um die Bewertung und die Erschließung von Archivgut.
Die Entscheidung für Flensburg
Plötzlich fiel Jessica von Seggern die Ausschreibung aus Flensburg ins Auge. „Vielleicht könnte ich mich noch einmal verändern“, dachte sich die 53-Jährige. „So ein Stadtarchiv ist weniger arbeitsteilig organisiert, man kriegt alles auf den Schreibtisch.“ Im Mai betrat sie erstmals ihr Büro im Untergeschoss des Rathauses. Sie hat zwei Mitarbeiter. Marvin Nissen sitzt im Geschäftszimmer, das dem Lesesaal vorgelagert ist, und kümmert sich um die Bestellungen der Nutzer. Häufiger schiebt er einen kleinen Wagen durch das riesige Magazin und verstaut die gewünschten Unterlagen. Auf Wunsch – und gegen Gebühr – wird in der „Werkstatt“ altes Material gescannt und reproduziert. Jörn Petersen sichtet hauptsächlich die Unterlagen, die neu hereinkommen, und entscheidet zusammen mit der Archivleiterin, was erhalten werden soll.
Ein großes, aktuelles Thema im Stadtarchiv ist die Digitalisierung von Dokumenten. „Immer mehr Nutzer haben die Erwartung, vom heimischen Schreibtisch aus recherchieren zu können“, erklärt Jessica von Seggern. Mit Fotos, Karten und Plänen hat das Stadtarchiv angefangen. Bei allen Fortschritten: Die allermeisten Unterlagen werden auch weiterhin nur im Online-Findbuch registriert sein. Zum Lesen und Auswerten müssen die Nutzer in den Lesesaal kommen. Andererseits: In der heutigen Zeit nimmt die Digitalisierung der Verwaltungsprozesse stetig zu. Auch die Protokolle der heutigen Sitzungen werden irgendwann zu historischen Quellen.
Ständig neues Archivgut
Das Archivgesetz schreibt vor, dass die Ämter und Abteilungen der Stadt die Unterlagen zum Stadtarchiv geben, bevor sie vernichtet werden. Mit Kennerblick wird sortiert, denn es kann nicht alles aufgehoben und eingelagert werden. „Es geht darum, dass die Menschen auch in 100 oder 500 Jahren noch nachvollziehen können, wie die Verwaltung funktioniert und vor allem wie das Leben in Flensburg ausgesehen hat“, erklärt Jessica von Seggern. Auch von Privatpersonen, Vereinen oder Firmen werden Materialien zur Verfügung gestellt. Im Gegenzug kommen Historiker, Studentinnen, Journalisten oder Familienforscher, um im Lesesaal auf Spurensuche zu gehen. „Was bei uns im Archiv liegt, kann sich jeder ansehen – es handelt sich um nicht bewertete Informationen“, betont Jessica von Seggern.
Sie selbst ist im Sommer mit ihrer Familie von Kiel nach Flensburg gezogen. Das war bereits vor der Bewerbung mit ihren Liebsten so abgesprochen. Die 53-Jährige ist sich sicher, dass sie so mehr mitbekommt, was in der Fördestadt alles passiert, und dass sie ein besseres Gefühl für die örtlichen Gegebenheiten erreicht. Sie wohnt auf dem Museumsberg, braucht zu Fuß nur sieben Minuten ins Stadtarchiv und lernt derzeit Dänisch.
8.November, 19 Uhr: Vortrag zur Inflation 1923
Als „reizvolle Besonderheit“ bewertet Jessica von Seggern die enge Verzahnung mit der „Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte“, deren Geschäftsführerin die Stadtarchivarin kraft Amtes ist. Dieser Verein hat fast 1000 Mitglieder. Engagierte Ehrenamtliche kümmern sich um die Geschäftsstelle. Immer wieder erscheinen Publikationen, zuletzt „Flensburger Wälder“. Geplant sind Bücher über die Anfänge der Fotografie in Flensburg und „30 Jahre Hofkultur“. Jessica von Seggern empfindet die Aktivitäten der „Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte“ als „eine gute Antenne“ für Themen, die die Flensburger Geschichtsinteressierten beschäftigt, und als wichtigen Teil einer Erinnerungskultur.
Am 8. November hielt die Stadtarchivarin selbst einen Vortrag. Ab 19 Uhr drehte sich im Europa-Raum des Rathauses alles um „Die Inflation 1923 in Flensburg“. „Ein sehr breites Thema“, hat Jessica von Seggern festgestellt. Da keine Forschungsarbeit existiert, war eine tiefgründige Recherche nötig. Protokolle der städtischen Gremien, schriftliche Lebenserinnerungen und Zeitungsberichte spuckten Informationen aus. Gut, dass es vom Büro ins Magazin des Stadtarchivs nur wenige Meter sind.
Text und Fotos: Jan Kirschner