Die Jahreszahl 1751 ziert die Fassade. Die Eingangstür an der Front zur Angelburger Straße hat allerdings schon lange niemand mehr passiert. Das schmale Haus an der Eisenbahnbrücke ist in Vergessenheit geraten. In dem Gebäude steckt aber mehr als man denkt, zumal es sich schlauchförmig tief ins Grundstück zieht. Es war einst der Gasthof „Schwarzer Walfisch“. Die Gastronomie ist ausgezogen. Vor einigen Jahren kaufte der Selbsthilfe-Bauverein (SBV) das denkmalgeschützte Objekt. Die nötige Sanierung steht aus, die zukünftige Nutzung ist noch unklar. Einen Blick ins Innere des „Schwarzen Walfisches“ können derzeit nur einige SBV-Akteure und Sachverständige werfen.

Spurensuche: Stammtisch Rechte Ecke von 1884
Der Schwarze Walfisch heute

Ein Raum ist so dunkel, dass man sich tatsächlich im Magen eines riesigen Meeressäugers wähnt. Man braucht eine Taschenlampe, um etwas sehen zu können. Der Lichtkegel tastet eine Wanddekoration ab, die an zwei Stellen beschriftet ist. An einer steht „Stammtisch“, auf der anderen „Rechte Ecke“. Das Wirtshaus war einst also ein regelmäßiger Treffpunkt. Der Name mag politisch klingen, in der Kaiserzeit waren aber Begrifflichkeiten wie „rechts“ oder „links“ noch nicht üblich, um die Ausrichtung im Parteienspektrum zu lokalisieren. Stattdessen gibt es eine ganz naheliegende Erklärung: Im „Schwarzen Walfisch“ musste man an der Küche vorbei und dann im hinteren Raum in die rechte Ecke blicken, um den Männer-Stammtisch zu finden.

Die Relikte eines alten Stammtisches

Das Erstaunliche: Der „Stammtisch Rechte Ecke von 1884“ existierte bis vor Kurzem. Erst im März 2024, also nach 140 Jahren, wurde die nicht eingetragene Vereinigung aufgelöst. Um den Nachlass kümmert sich der Flensburger Wolfgang Ulbricht. Der 82-Jährige hatte einst ein Pelzgeschäft in der Angelburger Straße und fungierte zuletzt als „Vergnügungsdirektor“ des Freundeskreises. Er annoncierte eine Anzeige „140 Jahre deutsche Geschichte beim Flensburger Stammtisch von 1884“. Vielleicht eignet sich das „deutsche Gegenstück zur Knudsgilde“ ja als historischer Forschungsgegenstand? Eine Resonanz blieb bislang allerdings aus.

Spurensuche: Stammtisch Rechte Ecke von 1884
Die „Rechte Ecke“ um 1920

Auch der Versuch, einige Utensilien des Stammtisches in der Sammlung des Museumsbergs unterzubringen, fruchtete nicht. Besser sieht es um das Schriftgut aus. Berichte, Protokollbücher, Postkarten und das grüne Anwesenheitsbuch befinden sich derzeit zur Sichtung im Stadtarchiv. „Die schriftlichen Unterlagen inklusive Fotos zeichnen über 140 Jahre die Netzwerke einflussreicher Familien Flensburgs nach“, teilt die Stadt mit. „Über die Unterlagen, die das Stadtarchiv aufnehmen möchte, wird ein Vertrag geschlossen. Anschließend werden sie auch digital hinterlegt.“ Dann sind sie für die Öffentlichkeit nutzbar.

Die ersten Jahrzehnte

Zurück in die Kaiserzeit: Die einsetzende Bautätigkeit nach der Einverleibung Schleswig-Holsteins in den deutschen Staatsverband zog neue Bürger nach Flensburg. Am 7. März 1884 gründeten zwölf deutschgesinnte Persönlichkeiten, darunter Museumsdirektor Heinrich Sauermann, Stadtrat Peter Selck und die einflussreichen Kaufleute Hermann G. Dethleffsen (Bommerlunder) sowie Hans Hansen (Hansen Rum), den Stammtisch „Rechte Ecke“ in der Gaststätte „Schwarzer Walfisch“. Es gab keine Satzung, aber ungeschriebene Gesetze, die immer wieder dem Wandel der Zeit angepasst wurden oder unveränderliche Tradition blieben.

Spurensuche: Stammtisch Rechte Ecke von 1884
Der Schwarze Walfisch um 1930

Der Stammtisch brachte Fabrikanten, Kaufleute, Juristen, Ärzte, Lehrer und Beamte an einen Tisch. Es wurden Posten vergeben, die die preußische Verwaltung imitierten. Die Gründungsväter waren so vermögend und einflussreich, dass sie ein wichtiges Wort im Stadtrat mitreden konnten. Ihre Gesprächsthemen bewegten sich am Zeitgeist. In der Anfangszeit wurde Reichskanzler Otto von Bismarck verehrt. Theodor von Hassel, der Vater des früheren Bundestagspräsidenten, vermachte dem Stammtisch einen Teil seiner Hauseinrichtung aus dem kolonialen Deutsch-Ostafrika: eine große Holzkommode, Geweihe, Gewehre, prunkvolle Becher und Glocken. Im Fundus finden sich zahlreiche Postkarten, die aus heutiger Sicht vom schlimmsten Rassismus durchdrungen sind. Aus der NS-Zeit scheint fast nichts erhalten zu sein. Man tagte aber definitiv weiter.

Angelburger Straße als Schwerpunkt

In der Nachkriegszeit konzentrierte sich der „Stammtisch Rechte Ecke“ auf die Angelburger Straße. Christian Magnussen beispielsweise war Inhaber der Eisenwaren-Firma „Christian Böhm“ und der Gaststätte „Schwarzer Walfisch“.  Auch der Vater von Wolfgang Ulbricht gehörte als der Pelzhändler vor Ort zur illustren Runde. Der Junior selbst war 1968 bei einem Spanferkel-Essen, das der Senior organisierte, erstmals als „Dienstpersonal“ dabei. „Die Herren nahmen mich ernst, dann durfte ich dazukommen“, erinnert sich Wolfgang Ulbricht, der damals sieben Wanderjahre mit dem Kürschner-Meister abgeschlossen hatte. Nach einer längeren Pause gehörte er die letzte Dekade wieder zu den treibenden Kräften des Stammtisches.

Spurensuche: Stammtisch Rechte Ecke von 1884

Wenn sich der Stammtisch traf …

Der traditionsreiche Freundeskreis traf sich jeden Montagabend zum frohgestimmten Gespräch und Meinungsaustausch. „Wer den Stammtisch ehrt, erscheint gut gekleidet mit Schlips“, lautete lange Zeit das Motto. Zuletzt nahm der Rollkragenpullover zu. Jeder dokumentierte mit seiner Unterschrift in einem Buch seine Anwesenheit. Eine Versammlung leitete der Präsident. Um sich gegen die Stimmgewalt der Anwesenden durchzusetzen, schlug er kräftig mit einem Hammer auf ein Klopfbrett. Dann waren alle Unterhaltungen zu unterbrechen. Es gab durchaus ein Programm, das über Essen und Getränke hinausging. Ein Geburtstag wurde mit dem Werk eines Stammtisch-Dichters gewürdigt. Die Glöckner bedienten bei Glückwünschen die richtige der auf einem Klemmbrett zusammengefügten Glocken. Frauen waren nur bei Festen des Stammtisches gerne gesehen, bei den Sitzungen ausgeschlossen. Und lange Zeit gab es auch kein besonderes Erkennungszeichen für weiblichen Familiennachwuchs, bis ein Mädchen-Glöckchen angeschafft wurde.

Spurensuche: Stammtisch Rechte Ecke von 1884
Versammlung 1981

Der Niedergang des Stammtisches

Über einige Jahre wurden Vorträge über Reiseerlebnisse, Familienpolitik, Energieversorgung und sonstige Themen integriert. Danach konnte eifrig diskutiert werden. Wenn es zu lebhaft wurde, konnte der Büttel mit seinem Stab dazwischengehen und einen Streit schlichten. Das soll aber kaum vorgekommen sein. Überhaupt wurde es ruhiger um den Stammtisch. Aus der Marine kamen zwar einige neue Mitglieder dazu, aber eine Wanderschaft auf unterschiedliche Lokalitäten – der „Schwarze Walfisch“ schloss 1992 als regelmäßige Gaststätte – nagte am historischen Fundament des Stammtisches. Oder war eine solche Institution einfach nicht mehr zeitgemäß? Denn der Nachwuchs blieb aus. „Die Idee hat sich in den letzten 15 bis 20 Jahren überlebt“, meint Wolfgang Ulbricht. „Heute haben die Heranwachsenden die sozialen Medien, die einen Stammtisch ersetzen.“

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Wolfgang Ulbricht und der Hammer

Am 4. Dezember 2023 – natürlich ein Montag – eröffnete der Präsident Günter Voigt die letzte Generalversammlung. Auf der Tagesordnung: die Auflösung vom „Stammtisch Rechte Ecke von 1884“. Im März fand noch das Stiftungsfest mit nur 14 teilnehmenden Personen statt. Danach nahm der Präsident das Glockenspiel mit nach Hause. So ganz verschwunden ist der 140 Jahre alt gewordene Stammtisch übrigens nicht. In der „Oase“ kommen nach wie vor drei bis neun Männer zusammen – weiterhin jeden Montag, aber ohne die gepflegten Regularien. 

Text: Jan Kirschner
Fotos: Jan Kirschner, privat 

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