Dort wo die Norderstraße ihren leicht schlängelnden Verlauf hat, gibt es ein ehemaliges Geschäft, das unauffällig ist, aber nicht leer steht. Erst wenn man die Räumlichkeit betritt, wird dem Besucher die Funktion dieser Immobilie bewusst. An der hinteren Wand hängt eine große Europa-Karte. Schräg davor steht ein grünes Rollup, das gelbe Sterne zieren. Über der Aufschrift „Member of the European Parliament“ thront der Name von Rasmus Andresen, dem Europa-Abgeordneten aus Flensburg.

Dieser kommt zum Wochenende zumeist nach Hause und ist auch diesen Freitagvormittag gerade in seinem Büro aufgekreuzt. Mit seinem hiesigen Mitarbeiter Matthias Ullrich bespricht der Grünen-Politiker den Tagesablauf. Nach einem Pressegespräch soll es nach Husum gehen. Das Thema: Obdachlosigkeit. Rasmus Andresen nennt neben dem Finanzsektor den Sozialbereich als Schwerpunkt, beschäftigt sich aber als einziger Europa-Abgeordneter nördlich des Kanals und als einziger Grünen-Mandatsinhaber aus Schleswig-Holstein und Hamburg zwangsläufig mit praktisch allen Politikfeldern.

Die meiste Zeit hält sich der 37-Jährige in Brüssel auf, wo er sich eine kleine Wohnung funktional eingerichtet hat. Ein Europa-Abgeordneter – insgesamt sind es 705 Frauen und Männer – ist etwa 30 Wochen im Jahr in der belgischen Metropole anzutreffen. Dort tagen von Montag bis Donnerstag die Ausschüsse des Europäischen Parlaments, beraten sich die Fraktionen und werden Gesetztestexte ausgehandelt. Die Parlamentarier sprechen von „Arbeitswochen“. Zwölf weitere Wochen sind für die Plenarsitzungen in Straßburg terminiert. Dort bucht sich Rasmus Andresen ein Hotelzimmer. Er pendelt von Flensburg nicht nur nach Belgien und Frankreich, sondern auch immer wieder nach Berlin, da er als Sprecher der Grünen-Fraktion die Arbeit zwischen Brüssel und der Bundeshauptstadt zu koordinieren hat.

Rasmus Andresen - Flensburgs Europa-Abgeordneter

Der Tagesablauf

Ein normaler Arbeitstag beginnt für Rasmus Andresen um 7.30 Uhr. In einer Telefon-Konferenz tauschen sich die Grünen in Berlin und Brüssel zur „Morgenlage“ aus. Zuletzt erforderten der Hamas-Terror und der Krieg in Nahost schnelle Reaktionen. Und als nach einem Richterspruch des Bundesverfassungsgerichts plötzlich ein Loch von 60 Milliarden Euro im Bundeshaushalt klaffte, war der illustren Telefonrunde schnell klar, dass von dieser deutschen Finanzmisere auch die EU etwas zu spüren bekommt. Rasmus Andresen war sofort sensibilisiert. Schließlich ist er im Europäischen Parlament Mitglied des Haushaltsausschusses. Sein Standpunkt: „Wer mehr Klimaschutz und weniger Armut will, muss dafür arbeiten, dass EU-Mittel nachhaltig eingesetzt werden.“

Der Flensburger hat stets die Energiewende im Blick, stellt aber auch mit Sorge fest, dass 20 Prozent der 450 Millionen Menschen ein Leben unterhalb der Armutsgrenze führen. Tendenz steigend: Corona-Pandemie und Inflation hinterließen Spuren. „Sehr vermögende Menschen und Konzerne mit maximalen Profit sollten mehr abgeben für die Masse der Bevölkerung“, findet Rasmus Andresen.
Ein solches Gremium wie der Haushaltsausschuss trifft sich in Brüssel für vier bis fünf Stunden und setzt die Tagesordnung bei Bedarf – und das ist meistens der Fall – am nächsten Vormittag fort.

Rasmus Andresen sitzt auch im Wirtschafts- und Währungsausschuss und beschäftigt sich mit Banken-Regulierung und Steuerfragen. Als stellvertretendes Mitglied schaut der Flensburger häufiger auch in den Ausschuss für Industrie, Energie und Forschung. Es ist nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel, dass die Ausschüsse parallel stattfinden. Es kommt immer wieder vor, dass ein EU-Abgeordneter zwischen verschiedenen Punkten der Tagesordnung den Saal wechselt. Um nichts zu verpassen, hat Rasmus Andresen zwei seiner insgesamt sechs Mitarbeiter stets in den Gremien sitzen und das Mobiltelefon zur Hand. Eine gewisse Multitasking-Fähigkeit ist erforderlich, denn immer wieder trudeln per E-Mail Anfragen ein, die einer Antwort bedürfen oder den Terminplan verändern.

Spätestens am späten Nachmittag sind die Ausschuss-Sitzungen abgehakt, dann rückt der Austausch mit Verbänden und Gästen in den Vordergrund. Für die nächste Woche hat sich eine Gruppe aus der Berliner Grünen-Fraktion angekündigt. Ein Meeting mit einem Vertreter des Giro- und Sparkassenverbandes brachte neuen Input, ebenso diverse Treffen mit Sozialverbänden. Überhaupt verstärken derzeit die Lobbyisten ihre Präsenz in Brüssel. Es geht um das Programm für die zukünftige Wahlperiode. Da sind auch die Interessensvertretungen darauf bedacht, dass ihre Anliegen in die politische Agenda einfließen.

Rasmus Andresen - Flensburgs Europa-Abgeordneter
Diskussion Meeresschutzkongress; Foto:© Grüne Landtagsfraktion SH

Europawahl in 27 Mitgliedsstaaten

Die aktuelle Wahlperiode endet bald, am 9. Juni sind die Europawahlen. Rasmus Andresen kandidiert wieder. Mit Listenplatz zwölf liegt er aussichtsreich im Rennen. Bei 96 Mandaten, die der Bundesrepublik zustehen, wären rund zwölf Prozent der Stimmen für die Grünen gleichbedeutend mit dem Wiedereinzug von Rasmus Andresen ins europäische Parlament. Prognosen für ein Ergebnis sind zum jetzigen Zeitpunkt allerdings Kaffeesatzleserei. Die Stimmung im Wahlvolk – das weiß man auch in Europa – kann schnell umschlagen.
Und die Stimmen sind sehr vielfältig angesichts von 27 Mitgliedsstaaten. Im Alltag heißt das für Rasmus Andresen, dass er teilweise mehrmals am Tag zwischen den Sprachen wechselt. In der Fraktion der „Europäischen Grünen“ mit ihren 72 Frauen und Männern aus 16 Nationen wird normalerweise auf Englisch miteinander kommuniziert. In den Ausschüssen und Plenarsitzungen hat jeder Abgeordnete das Recht, eine der 24 Amtssprachen zu wählen und sich diese von Dolmetschern übersetzen zu lassen. „Ich rede meistens auf Deutsch und beobachtete, dass diese Beiträge hierzulande mehr wahrgenommen werden, als wenn ich auf Englisch sprechen würde“, hat Rasmus Andresen beobachtet. „Wenn es um Minderheiten-Fragen geht, wähle ich auch mal Dänisch, da ich ja aus der dänischen Minderheit stamme.“

Auch wenn in Brüssel oder Straßburg viele Sprachen verwendet werden, scheinen sie das Wahlvolk nicht immer zu erreichen. Die Europäische Union wirkt auf den Otto-Normal-Verbraucher wie ein unnahbarer Gigant, der in weiter Ferne schwebt und sehr technokratisch agiert. Auch ein politischer Protagonist spürt diese Schwerfälligkeit. „Man braucht einen langen Atem“, weiß Rasmus Andresen aus eigener Erfahrung. Ein Gesetzgebungsverfahren dauert in der Regel zwei bis drei Jahre. Die Europäische Kommission bereitet die Vorschläge vor, das Parlament wird involviert, und dann haben die 27 Mitgliedsstaaten ihr Mitspracherecht.

Rasmus Andresen stellte dennoch fest, dass er „einen größeren Einfluss als ein normaler Abgeordneter in Bundestag und Landtag hat“. Er könne, losgelöst von den Zwängen einer Regierungskoalition und der begrenzten Rolle einer Opposition, Themen voranbringen, Kompromisse ausarbeiten und sie dann mehrheitsfähig machen. Außerdem, betont der EU-Parlamentarier, resultieren in Berlin letztendlich bis zu 70 Prozent der beschlossenen Gesetze aus Vorgaben der EU.

Rasmus Andresen - Flensburgs Europa-Abgeordneter
Plenarsaal des Europäischen Parlaments, Foto:© Europäisches Parlament

Stippvisiten in der Heimatregion

Der Rhythmus der Sitzungen bindet einen Abgeordneten für 42 Wochen an Brüssel oder Straßburg. „Ich hätte gerne mehr Zeit für die Region“, gibt Rasmus Andresen zu. Normalerweise bleiben nur der Freitag oder das Wochenende für Termine im Norden. Anfragen trudeln genug ein. Dann dreht sich ein Gespräch mit der Industrie- und Handelskammer um das Anlageverhalten von Banken. Oder die Universität stellt neue Forschungsprojekte und einen internationalen Studentenaustausch vor.

Die Begegnungen mit den Menschen vor Ort bieten durchaus Bodenhaftung, die durch eine norddeutsche Biografie ohnehin gegeben ist. Rasmus Andresen wuchs in Flensburg als ein Kind der dänischen Minderheit auf. Er besuchte Kindergarten und Schule in Jürgensby und legte sein Abitur an der Duborg-Skolen ab. Angesichts dieser Vita fragt sich manch einer: Warum ist der 37-Jährige heute nicht im SSW? „Als Jugendlicher verglich ich meine Ziele mit denen der Parteien und sah mehr Übereinstimmungen mit den Grünen“, erklärt Rasmus Andresen. Ihm lagen eine sozial-ökologische Politik und die Achtung der Menschenrechte besonders am Herzen. Internationale Perspektiven überzeugten ihn mehr als beim SSW die „Kernkompetenz Kommunalpolitik“.

Nach dem Zivildienst in einem Wohnheim der „Mürwiker Werkstätten“ verließ der junge Mann den lokalen Orbit. Er studierte an der Universität in Roskilde Kommunikationswissenschaften, wohnte die dreieinhalb Jahre allerdings in Kopenhagen. „Das haben drei Viertel der Kommilitonen so gemacht“, erklärt Rasmus Andresen. Die dänische Metropole lockte mehr als das beschauliche Roskilde, das lediglich in den Tagen des bekannten Musik-Festivals zu einer Großstadt anwächst. „Nach 15 Jahren war ich in diesem Sommer mit einem Freund wieder da“, verrät Rasmus Andresen. „Es war wie ein Revival.“

Rasmus Andresen - Flensburgs Europa-Abgeordneter
Meeresschutzkongress in Kiel, 2023, Foto: © Grüne Landtagsfraktion SH

Der Weg in die Politik und nach Brüssel

Nach dem abgeschlossenen Studium sah der persönliche Plan so: ein Jahr Berlin erleben und dann zurück nach Kopenhagen. „Die Koffer hatte ich schon gepackt“, schmunzelt der Flensburger. „Ich bin dann aber in Schleswig-Holstein hängengeblieben.“ 2009 stellten sich die Grünen zur Landtagswahl neu auf und verdoppelten ihr Wahlergebnis. Etwas überraschend schaffte Rasmus Andresen den Einzug in den schleswig-holsteinischen Landtag und war nun mit 23 Jahren der jüngste Abgeordnete in Kiel. Eine Zeit lang wohnte er in Flensburg und pendelte stets mit dem Zug. „Drei Stunden im ÖPNV machen auf Dauer keinen Sinn, wenn man morgens schon in Kiel sein und bis zum Abend bleiben muss“, erzählt Rasmus Andresen. „Ich zog dann in Kiel in eine WG.“

2012 schaffte er den Wiedereinzug in den Kieler Landtag und fungierte als erster stellvertretender Vorsitzender der Grünen-Fraktion. Ab 2017 wurde er Vize-Präsident des Landtages. 2019 war eigentlich erst Halbzeit in der Wahlperiode, doch die Ministerriege hatte sich geändert. Robert Habeck wechselte nach Berlin. Jan Philipp Albrecht wurde neuer Umweltminister in Schleswig-Holstein. Dieser war bis dahin der einzige Grünen-Abgeordnete aus dem Norden Deutschlands in Brüssel gewesen. Bei den Diskussionen um eine Neubesetzung rückte schnell Rasmus Andresen in den Fokus. Die Parameter grenzüberschreitende Politik, dänische Minderheit, parlamentarische Erfahrung und vorhandenes Netzwerk verhalfen dem Flensburger auf die Liste. Die Nord-Grünen hatten damit weiterhin einen EU-Abgeordneten.

Rasmus Andresen - Flensburgs Europa-Abgeordneter
Klimastreik an der Hafenspitze, Foto:© Clemens Schmidt

Bezug zur Flensburger Kommunalpolitik

Rasmus Andresen wohnt am Wochenende in einer WG in seinem Heimatstadtteil Jürgensby. Dadurch hat er automisch stets die Flensburger Kommunalpolitik im Blick. Als positiv für „klimarelevante Themen und soziale Fragen“ sieht er es, dass die Grünen und der SSW nun über eine Mehrheit in der Ratsversammlung verfügen. Gespannt ist er, wie das Rathaus das Bürgerbegehren „Fossilfreie Stadtwerke“ bis 2035 umsetzen wird. Ein spannendes lokales Wirtschaftsunternehmen ist die Werft. In Brüssel geht es derzeit auch um einen emissionsfreien Schiffsverkehr – mit neuen Antrieben und Schiffstypen. „Die FSG könnte in diese Richtung aufgestellt werden“, meint Rasmus Andresen. „Allerdings müssten die Eigentümer der Werft verstärkt in Brüssel anklopfen und sich dort einen Namen machen.“

Als lokales Handlungsfeld sieht er auch den diskutierten Fernbahnhof in Weiche und erwähnt einen stetigen Austausch mit Wirtschaftsminister Robert Habeck und dem SSW-Bundestagsabgeordneten Stefan Seidler. „Die Flensburger Politik war in dieser Frage bislang eher zerstritten, nun zeigt sie einen gemeinsamen Weg auf“, beobachtet Rasmus Andresen. Das sei ein Signal an die Bahnen in Deutschland, Dänemark und Schweden, aber auch an die Politik in Berlin und Brüssel. Da es sich um einen internationalen Zugverkehr in einer Grenzregion handele, schließt der EU-Parlamentarier eine EU-Förderung nicht aus.

Nach dem extremen Hochwasser-Ereignis Ende Oktober sprach Rasmus Andresen mit Menschen in Flensburg und Arnis. Wegen möglicher Hilfsgelder aus Brüssel hakte er bei Ursula von der Leyen, der Präsidentin der EU-Kommission, nach. Er bekam eine unbefriedigende Nachricht, dass die Hilfstöpfe leer wären. In 2023 wären schon viele finanzielle Mittel wegen Waldbränden in Griechenland oder Stürmen in Skandinavien geflossen. Außerdem scheint der Küstenstreifen im deutsch-dänischen Grenzgebiet wohl auch nur – mit der Brille der EU-Kommission gesehen – ein kleiner Schadensfall gewesen zu sein. „Es ist bitter, dass nicht auch für kleinere Schadensereignisse unbürokratisch gezahlt wird“, findet Rasmus Andresen.

Sein Terminkalender ist stets prall gefüllt. Ständig ist er unterwegs. „Familienfreundlich ist das alles nicht“, meint der 37-Jährige und erzählt von einem Kieler EU-Abgeordneten, der Vater geworden ist und im Juni nicht wieder zur Europawahl antreten wird. Rasmus Andresen selbst nutzt das Wochenende als private Oase. Darin findet auch der Handball seinen Platz, denn seit fast 25 Jahren besitzt er bei der SG Flensburg-Handewitt eine Dauerkarte. Jüngst genoss er mit einem Freund die Stehplatz-Atmosphäre, aber gewöhnlich sitzt er auf seinem Sitzplatz im Block O der Campushalle. So wird es auch an diesem Abend sein – aber erst um 20 Uhr. Zunächst einmal soll Rasmus Andresen für einen Termin nach Husum.

Text und Fotos: Jan Kirschner

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