Der Südermarkt ist belebt. Plötzlich klingelt es: das Signal der nahenden Straßenbahn. Wenige Momente später ruckelt ein Triebwagen über den Schienenstrang. Er hält. Einige Fahrgäste steigen aus, andere ein. Es sind Sequenzen der Nostalgie, die auf dem Bildschirm zum Leben erwachen. Der Flensburger Dieter Nickel hat die Szenen vor Dekaden mit seiner Super8-Kamera aufgenommen und sie später für eine kleine Dokumentation zusammengefügt. Es sind Erinnerungen an die Flensburger Straßenbahn, die am 3. Juni 1973, also vor 50 Jahren, zum letzten Mal fuhr.
Mit 66 Jahren fängt vielleicht für aktive Ruheständler das Leben an, ein Kapitel der Flensburger Verkehrshistorie schloss sich indes nach exakt 66 Jahren. 1907 düste erstmals eine Straßenbahn durch die Fördestadt. In den Goldenen Zwanzigern verästelte sich das Netz auf vier Linien. Sehr bald hatte diese Verkehrstechnik jedoch ihren Zenit überschritten und verschwand aus dem Alltag vieler bundesdeutscher Städte. In Flensburg wurde 1957 die Strecke von Mürwik zum Knotenpunkt Südermarkt aufgegeben. Es blieb die Linie eins.
Und die hielt sich durchaus hartnäckig. Selbst der Winterfahrplan 1972/73 sah für die Werktage einen regen Takt vor. Alle sieben bis acht Minuten startete eine Straßenbahn am Ostseebadweg und bewegte sich über Bauer Landstraße und Nordertor durch die Innenstadt bis zum Südermarkt und nahm schließlich Kurs auf den Bundesbahnhof. Im Schnitt verzeichnete die Linie eins 12.000 Fahrgäste am Tag.

Das Vorzeige-Exemplar auf Seeland; Foto: Straßenbahnmuseum Skjoldenaesholm

Omnibusse und Investitionsstau

Der Zeitgeist meinte es aber nicht gut mit einem „Senior“ der Verkehrsinfrastruktur. Immer mehr Omnibusse wurden eingesetzt, während Autos immer häufiger das Schienenfahrzeug behinderten, da ihre Besitzer ein freies Gleis mit einem freien Parkplatz verwechselten und so große Verspätungen bei der Straßenbahn auslösten. Aufgrund möglicher Regressforderungen bei Schäden konnten Wagenführer oder Schaffner das Hindernis nicht einfach von der Strecke schieben. Häufiger rückte die Feuerwehr mit ihrem Kran aus. Und wenn die Straße zu eng war, packten Polizisten und Passanten mit an, um das Auto mit vereinten Kräften zu versetzen. Große Verspätungen im Straßenbahnbetrieb ließen sich dennoch nicht vermeiden.
Zudem befanden sich Fuhrpark, Schienen und Oberleitungen in keinem guten Zustand mehr. Es wurde nicht mehr investiert, das Personal verkleinert. „Unsere Straßenbahn hat eine unmoderne Konstruktion: Wagen mit starrer Achse statt drehbaren Fahrgestellen. Hierdurch ist der Schienen- und Radverschleiß ungewöhnlich hoch“, hieß es seitens der Flensburger Stadtwerke. Laut ihrer Hochrechnung verschlangen Gleiserneuerungsarbeiten im Jahr rund 150.000 D-Mark. Überdies – so eine Kalkulation – könnten eine halbe Million D-Mark durch eine Verschlankung des Mitarbeiterstammes eingespart werden.

Neues Verkehrskonzept für Flensburgs Zentrum

In jener Zeit erfasste ein weiterer Trend die Innenstädte: die Einrichtung von Fußgängerzonen. In Flensburg sollten die Autos vom Holm und aus der Großen Straße verbannt werden. Und die Straßenbahn wollten die Verkehrsplaner durch Busse ersetzen. Im November 1970 unternahmen Vertreter der Ratsversammlung und der Behörden eine Probefahrt. Sie wollten testen, ob es zu Engpässen kommen würde, wenn die breiteren Busse zukünftig durch die Innenstadt sausen würden. Das Ergebnis: Für einen Begegnungsverkehr würde es lediglich an der Sankt-Marien-Kirche schwierig werden. Ein Polizeihauptkommissar äußerte sich zurückhaltend: „Die Straßenbahn hat bisher keine Fußgänger angefahren. Wie sich eine Umstellung auf Busse auf den Fußgängerbereich auswirken wird, bleibt abzuwarten.“
In der Flensburger Ratsversammlung saßen damals nur SPD, CDU und SSW. Ende März 1971 war man sich einig, in der Innenstadt eine „echte Fußgängerstraße“ schaffen zu wollen. Der Antrag der CDU, die Straßenbahn abzulösen, ging der Mehrheit noch zu schnell. Es gab sogar die Idee, das Gleis bis zum Danfoss-Standort in Klues 
zu verlängern und die Betriebsabläufe mit einer Schleife zu vereinfachen. SPD-Ratsherr Pütz meinte: „Die Beibehaltung der Straßenbahn entspricht dem Wunsch der Bevölkerung. Außerdem können Fußgänger und Busse in der Innenstadt keine gleichberechtigten Partner sein.“

Das formelle Ende

Im Dezember 1971 vertraten allerdings auch die Sozialdemokraten eine andere Auffassung. Sie stellten ein Konzept „zur Rationalisierung des Massenverkehrssystems“ vor, das auch das Ende der Straßenbahn vorsah. Die Argumente der Stadtwerke hatten die Politik offenbar überzeugt. „Wir haben konkrete und sehr detaillierte Vorstellungen über die technisch möglichen Lösungen für den Ersatz der Straßenbahn und für die künftige optimale Bedienung der Linie eins“, betonte Wolfgang Prinz, Direktor der Stadtwerke. Sicherlich spielte auch die Fernwärmeversorgung Flensburgs eine Rolle. Rohre mussten in der Innenstadt verlegt werden. Die Straßenbahn wäre bei den Bauarbeiten ein störendes Element gewesen.
Am 2. November 1972 war sich die Ratsversammlung einig. Im Protokoll heißt es ganz nüchtern: „Dem Antrag an den Minister für Wirtschaft und Verkehr des Landes Schleswig-Holstein auf Genehmigung zur Betriebseinstellung der Straßenbahnlinie eins mit Wirkung vom 2. Juni 1973 und Ersatz durch Omnibusbetrieb wird zugestimmt.“

Straßenbahn-Denkmal im Carlisle-Park; Foto: Jan Kirschner

Proteste aus der Bevölkerung

Dieser Beschluss löste allerdings eine Protestwelle aus. Die Straßenbahn hatte sich in die Herzen der Bevölkerung geklingelt. Das „Flensburger Tageblatt“ veröffentlichte viele Leserbriefe. „Die Unrentabilität ist durch eigenes Verschulden, durch falsche Disposition und Versuchsunwillen entstanden“, klagte einer. Ein anderer meinte: „Die Straßenbahn ist das weitaus beste Verkehrsmittel. Schon der Gedanke an einen stinkenden, qualmenden Bus auf dem Holm veranlasst mich unwillkürlich, meine Einkaufstage auf ein Minimum zu beschränken.“
Im Januar 1973 führten Dieter Nickel und August Ferdinand Speck vom frisch­gegründeten „Verein der Freunde des Schienenverkehrs“ in der Innenstadt eine Umfrage durch. Sie sammelten 500 Unterschriften, von denen 480 für die gute, alte Straßenbahn votierten. Einige wetterten gegen die Busse: „Haben wir noch nicht Dreck genug?“ Oder: „Mit Kinderwagen sind Straßenbahnen bequemer!“ Auch die FDP, die damals nicht im Stadtrat vertreten war, schlug sich auf die Seite der Schienen-Sympathisanten.
Die Stadt war alarmiert. Für ein öffentliches „Hearing“ sollten die Vorteile des neuen Konzeptes vorbereitet werden. Die Stadtwerke schwärmten vom „durchgehenden Busverkehr rund um die Förde“, einem Takt von fünf Minuten in den Stoßzeiten und von „modernen und umweltfreundlichen Bussen“, deren „Motoren sich im Bergwerk unter Tage bewährt“ hätten. Die Straßenbahn war im Rathaus keine Option mehr. Die Innenstadt sollte allein den Passanten und Lieferanten gehören. Die Busse sollten mit dem neuen Sommerfahrplan nicht Holm und Große Straße anfahren, sondern über Schiffbrücke sowie Norder- und Süderhofenden rollen.

Die letzte Fahrt

Am 2. Juni 1973 gab es die letzten fahrplanmäßigen Halts an den Stationen der Straßenbahn. Am 3. Juni 1973 folgte der offizielle Abschied mit viel Tamtam. Um 10.30 Uhr wurden am Ostseebadweg Triebwagen 35 und zwei Beiwagen bereitgestellt. Der „gelbe Blitz“ fuhr mehrmals hin und her und integrierte sich zeitweise in einen Festumzug der dänischen Mehrheit. Blasmusik der Eisenbahner­kapelle aus Pattburg erschallte in Flensburgs Straßen und Gassen. Jeder durfte noch einmal die Straßenbahn nutzen. Souvenirjäger ergatterten Schilder und sogar den Hammer am Notausstieg.
Um 14.45 Uhr kehrte der Tross zurück ins Depot an der Apenrader Straße. Der Zeitpunkt für die „Letzte Fahrt“ war gekommen. „Es ist ein Ereignis stadtgeschichtlicher Bedeutung, eine Wende in der Gestaltung des öffentlichen Nahverkehrs“, sagte Stadtpräsident Artur Thomsen. „Ärger gibt es bei jeder Umstellung, der Bus wird zum Alltag werden.“ Ein Kranz hing an der Front eines vorfahrenden Triebwagens. Schärpen dokumentierten die herrschende Enttäuschung. „Deine trauernden Bürger“, konnte man lesen. „96 Prozent für die Straßenbahn!“ Oder: „Warum musste sie sterben?“
Karl Fischer war der Wagenführer der letzten Stunde. Mit geladenen Gästen ging es zum Bundesbahnhof. Schaulustige legten Pfennige auf die Schienen, die plattgedrückt als Glücksbringer dienen sollten. August Thies, der letzte Schaffner, winkte den Passanten zu: „Seht sie euch noch einmal an, hier ist wirklich die letzte Elektrische!“ In der Bahnhofstraße wartete auf der Brücke ein Dampfzug. Flensburgs letzte Straßenbahn hatte noch ein Rendezvous, dann hatte ihre letzte Stunde geschlagen.

Foto: Aktiv-Bus

Spurensuche

Der „gelbe Blitz“ verschwand schnell aus Flensburgs Alltag. 18 Straßenbahner wurden zu Busfahrern umgeschult, andere gingen in den Ruhestand. Die Strecke wurde demontiert, der Fuhrpark abtransportiert. Bis zuletzt waren elf Triebwagen und acht Beiwagen im Einsatz. Die meisten landeten sehr bald auf dem Schrottplatz. Beiwagen 102 überlebte längere Zeit als Spielgerät im dänischen Kindergarten Martinsberg, wurde aber 2009 verschrottet. Beiwagen 103 war in den 90er Jahren eine Attraktion der „Hansen´s Brauerei“ am Nordermarkt. Den Umzug der Gastronomie an den Hafen machte er aber nicht mit.
Zwei Triebwagen sicherte sich der dänische Verein („Sporvejshistorisk Selskab“). Während die Nummer 40 noch in einer Halle einen Dornröschenschlaf genießt, wurde die Nummer 36 vor einigen Jahren in Gera aufwändig aufgearbeitet. Beim Rücktransport in den Norden war dieser Triebwagen kurz in Flensburg auf Stippvisite, heute befördert er auf Seeland die Gäste vom Parkplatz zum Straßenbahnmuseum Skjoldenaesholm. Immer wieder klingelt es – so wie vor 50 Jahren in Flensburg.

Jan Kirschner

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