15. August 2010: Die Nummer 15 bestimmt an diesem Nachmittag alles. Viele Zuschauer tragen Trikots mit den legendären Ziffern, ebenso die eingeladenen Spieler. Knapp 50 Handballer, darunter die komplette Mannschaft der SG Flensburg-Handewitt, stehen in U-Form auf dem Parkett, als Lars Christiansen die „Hölle Nord“ betritt. Auf der Nordtribüne wandert ein riesiges Transparent mit der hellblauen 15 über die Köpfe. Es ist der letzte Auftritt als SG-Spieler, nach dem Schlusspfiff übermannen der legendären 15 die Tränen. „Die SG ist mein Leben“, schluchzt der Däne.
Jetzt sitzt Lars Christiansen im „Weinkontor Roberto Gavin“ in der Walzenmühle. Ein Espresso steht bereits auf dem Tisch, das Nudelgericht kommt gleich. Das Gespräch kreist um den 15. August 2010 – um die Abschiedsgala vor zehn Jahren. „Es war ein ganz spezieller, schöner Tag“, sagt der mittlerweile 48-Jährige. „Die Art und Weise war sehr beeindruckend. Ich spielte ja noch etwas weiter, wollte in Dänemark aber keinen offiziellen Abschied mehr, da man ihn nicht schöner und größer als in Flensburg hätte machen können.“
Lars Christiansen ist ein Teil der ruhmreichen SG-Vergangenheit, traf in 626 Pflichtspielen unglaubliche 3996 Mal. Tore waren seine Welt. Der Linksaußen inszenierte auf dem Parkett eine Show, die bisweilen an Harry Potter erinnerte. Seine Raffinesse, sein Torriecher und seine Eleganz würzten die Stimmung auf den Rängen zusätzlich. 2010, nach stolzen 14 Jahren im SG-Trikot, brach Lars Christiansen die Zelte in der Fördestadt ab, zog mit seiner Familie nach Juelsminde. Er kehrte zu KIF Kolding zurück und spielte noch bis 2012. In jenem Jahr gewann er zum zweiten Mal nach 2008 mit der dänischen Auswahl die Europameisterschaft. Ein großer Traum erfüllte sich nicht mehr: Die Olympischen Spiele.
Lars Christiansen beendete seine Karriere. Was kaum jemand wusste: Der stets gut gelaunte Handballer steckte mitten in einer tiefen Lebenskrise. Panik-Attacken quälten ihn. Die Familie unterstützte ihn, ein Psychologe half. Bald tingelte der dänische Rekordnationalspieler wieder mit teils autobiographischen Vorträgen durch sein Heimatland, betätigte sich als TV-Experte und beteiligte sich an einer Spie- lerberatungs-Firma. Als Zuschauer tauchte er oft in der Flens-Arena auf. Seit letztem Herbst ist er wieder ein wichtiger Part in der Gegenwart seines Herzensklubs – als „Head of Sport Development“. Dabei spielte auch der Zufall eine Rolle. „Nachdem ich ein Spiel gesehen hatte, plauderte ich mit Maik Machulla über einige Dinge“, erzählt Lars Christiansen. „Daraus wurde dann mehr – auch weil ich ein neues Standbein suchte. Ich wollte weiterhin viele Vorträge halten, aber als TV-Experte hatte ich aufgehört.“ Die Handball-Legende reizte die neue Aufgabe bei der SG, sah für sich einen Platz „zwischen Beirat, Geschäftsstelle und Mannschaft“. Der „Head of Sport Development“ spricht nun sehr häufig mit Maik Machulla und Mark Bult darüber, wie die Mannschaft weiterentwickelt werden kann. Sowohl in der aktuellen Situation wie auch langfristig. Dann dreht es sich um die Frage: Welche Typen passen auf und außer- halb des Spielfeldes zum Team? Daraus ergibt sich dann auch die Aufgabe des Scoutings. „Im Alltag geht es darum, alle möglichen Probleme von der Mannschaft und auch den beiden Trainern fernzuhalten, damit sie sich voll auf die sportlichen Aufgaben konzentrieren können“, erklärt Lars Christiansen. „Der größtmögliche Erfolg ist das Ziel. Dafür muss auch beim Drumherum alles funktionieren.“ Als es in der letzten Saison nötig war, kümmerte er sich um ein spezielles Siebenmeter-Training. Und auch Geschäftsführer Dierk Schmäschke erhält in bestimmten Bereichen eine Unterstützung.
Lars Christiansen besitzt aufgrund seiner bilderbuchhaften Karriere eine natürliche Autorität, hat aber wie jeder andere klein begonnen. Bereits im zarten Alter von vier Jahren jagte er in der Sonderburger Humelhojhallen dem Handball hinterher. Er stammt aus einer Handball-Familie. Sein Vater saß im Vorstand, sein Onkel war Trainer bei Vidar Sonderborg. Ab 1992 reifte Lars Christiansen bei Kolding IF zum Klasse-Spieler. Schon im Oktober 1992 absolvierte er sein erstes Länderspiel. Der Wechsel in die Bundesliga, dem Sammelbecken der Handball-Stars, deutete sich schließlich im Herbst 1995 an, als die SG im EHF-Pokal auf den dänischen Nachbarn traf. Mit seinem starken Auftritt weckte der Linksaußen das Interesse beim Bundesligisten. Nach zähen Verhandlungen mit KIF taute das Eis. Bei der SG war Lars Christiansen an insgesamt sieben nationalen und internationalen Titeln beteiligt. Er war nicht nur eine sportliche Führungsperson, sondern auch ein Sympathieträger der SG.
Nun sitzen wir an einem Tisch in der Walzenmühle. In der ersten Dekade dieses Jahrhunderts hatte der Handball-Star sogar eine Wohnung in diesem traditionsreichen Gebäude. „Ich hatte mit Absicht immer direkt in Flensburg gewohnt, um ein integrierter Teil der Stadt zu sein“, sagt er.
„Das Leben war sehr schön, ja traumhaft. Die SG hatte immer große Ziele, und die Stimmung in der Halle war klasse.“ In den letzten Monaten war allerdings auch für Lars Christiansen alles anders. Auch das Kompetenzteam der SG behalf sich mit Video-Konferenzen und Telefonaten. Direkte Kontakte wurden auf ein Minimum heruntergeschraubt. „Es ging auch immer darum, wann es weitergehen und wie dann das Training aussehen könnte“, erzählt Lars Christiansen. „Es war eine merkwürdige Zeit. Man hatte Ideen, war aber allein. Ich freue mich darauf, wenn es nun bald wieder richtig anfängt.“

Text und Fotos:
Jan Kirschner


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