Der Lichterglanz fehlte, kaum einer schmückte einen Baum – Weihnachten 1944 war trostlos und bedrückend. Viele Männer und Söhne waren an der Front, einige gerade gefallen, und die Töchter mussten zum Arbeitsdienst. Eine Tauschzentrale auf dem Holm regelte, dass zumindest die Kleinsten ein Spielzeug erhielten. Der übliche Weihnachtsbraten fiel bescheiden aus: Selbst Salz und Kartoffeln waren knapp. Die weihnachtliche Extrazulagen bestanden aus einem halben Pfund Fleisch und zwei Eiern. Wilhelm Clausen gehörte zu den wenigen, die in dieser Krisenzeit die Muße fanden, sich dem Schreiben eines Tagebuchs zu widmen. Der frühere Lehrer, der sich dann als Hausverwalter betätigte, hielt unter anderem fest: „Keine einzige Weihnachtskerze ist zu kaufen. Die Lichter sind beschlagnahmt für Bombengeschädigte, denen es vielfach an jeglichem Beleuchtungsmittel fehlt.“
Am Neujahrstag läuft das Radio. Eine Ansprache des „Führers“ wird verlesen. Adolf Hitler lässt verkünden: „Die weltentscheidende Bedeutung des Krieges, in dem wir uns befinden, ist dem deutschen Volk heute klar: ein unbarmherziges Ringen um Sein oder Nichtsein, das heißt um Leben oder Tod.“ Vermeintliche Erfolgsberichte von der Front sollen die Zuversicht fördern. Aber jedem, der das Kriegsgeschehen verfolgt, dürfte auffallen, dass die Meldungen nicht mehr – wie vor zwei Jahren – aus Stalingrad oder Nordafrika kommen, sondern aus dem Baltikum, aus Budapest oder Straßburg.
Legt sich die Schlinge allmählich um das Deutsche Reich? Soll es überrannt werden? Das Leid in den Familien wird immer größer. In den „Flensburger Nachrichten“ häufen sich die Todesanzeigen mit den Militär-Kreuzen – um die fünf bis zehn an einem Tag. Und die NSDAP schreit nach menschlichem Nachschub. Seit September läuft die Aktion „Volkssturm“, um alle bisher noch nicht kämpfenden waffenfähigen Männer zwischen 16 und 60 Jahren für die Verteidigung des „Heimatbodens“ und für den deutschen „Endsieg“ aufzubieten. Der Glaube an eine neue Wunderwaffe und das Menetekel einer Ausrottung Deutschlands sollen die Einsatzbereitschaft heben. Aber die englischen Flugblätter, die manchmal vom Himmel regnen, klingen gar nicht so extrem.
Rationalisierte Lebensmittel und gedrosselte Heizungen
So oder so: Der Flensburger Alltag ist in den düsteren Januar-Tagen 1945 schwer genug. Die Geschäfte haben zwar von neun bis 17 Uhr geöffnet, aber fast alles ist rationalisiert. Bei Essen und Trinken geht nichts ohne die obligatorischen Lebensmittelkarten. Für einige Produkte gibt es Sonderregeln. So bedarf es für Vollmilch eines Haushaltsausweises, da nur Familien mit Kindern und schwangere Mütter bedacht werden sollen. Einbrüche in Vorratskeller nehmen zu. „Größere Mengen Schweinefleisch gestohlen“, melden die „Flensburger Nachrichten“ am 19. Januar. Es regiert in Flensburg der Mangel, aber noch kann der Hunger einigermaßen gestillt werden.
Gas-, Kraft- und Wasserwerk sowie die Straßenbahn erhalten in diesen Tagen einen gemeinsamen Regiebetrieb – unter dem Dach der „Stadtwerke Flensburg“. Es gibt Einschränkungen beim Verbrauch. Nur ein Herd pro Haushalt darf genutzt werden. Die Zentralheizung ist oft gedrosselt und kann dann nur ein Zimmer beheizen – wenn überhaupt. Früh abends ins halbwegs kuschelige Bett – das ist eine pragmatische Lösung. Kohle zwingt sich nicht als Alternative auf, auch bei diesem Brennstoff registriert der Handel einen Engpass. Am 14. Januar treffen sich die Töpfer und Ofensetzer in der „Neuen Harmonie“ zu ihrer Gautagung. Es wird über einen „kriegseinfachen“ Ofen diskutiert, der sich von jedermann aufbauen lässt. Zu einem Lehrfilm ist auch die Bevölkerung eingeladen. Sein Titel: „Kohle sparen, aber wie?“
Die Wirtschaft ist voll auf Krieg ausgerichtet. Die Werft lässt zahlreiche U-Boote vom Stapel, die Maschinenfabriken fertigen Geräte für die Marine oder Schiffsteile, und die „Feldmühle“ hat Toilettenpapier für die Wehrmacht auf der Agenda. Selbst die Herrenschneider sind nur zu 25 Prozent für den zivilen Bereich tätig, sonst dreht sich alles um Uniformen und Ausrüstung. Da viele deutsche Männer im Krieg sind, müssen Zwangsarbeiter aus Osteuropa und Frauen anpacken. Gerade im Textilbereich breitet sich die Heimarbeit aus. Wer sein Haus reparieren muss oder erweitern will, muss sein Vorhaben bei der Stadtverwaltung anmelden. Der Bauführer der Stadt prüft die eingehenden Anträge auf ihre Notwendigkeit. Manchmal gibt es einen Auftragsschein. Nur: Handwerker sind kaum zu kriegen. Der Wohnungsbau ist gelähmt.
Steigende Zahl von Bomben-Alarmen
Zumindest stehen noch fast alle Gebäude. Zwar haben am 19. Mai 1943 durch einen amerikanischen Bombenangriff 83 Menschen den Tod gefunden und sind rund 1500 Menschen im Flensburger Norden obdachlos geworden, sonst gehören aber eher andere Städte zu den Angriffszielen der Alliierten. Der eingangs erwähnte Wilhelm Clausen schreibt am 17. Dezember 1944 in sein Tagebuch: „Wir Flensburger haben hierin einen großen Vorzug vor vielen anderen Orten. Wenn wir uns abends in unseren Betten ausstrecken, denken wir kaum an die Möglichkeit, dass unsere Nachtruhe gestört werden könnte.“
Im Januar 1945 ändert sich aber die Situation. Militärmaschinen fliegen ständig über Schleswig-Holstein ein, um Berlin und andere Orte zu attackieren. Fast täglich ertönt eine öffentliche Luftwarnung in Flensburg, und immer häufiger wird die Alarmierung ausgeweitet, sodass die Bevölkerung aufgefordert wird, die Schutzräume aufzusuchen. Zu dramatischen Ereignissen kommt es zunächst aber nicht. Am 16. Januar 1945 wird an der Eckernförder Landstraße eine Bombe abgeworfen, die einen etwa 3,50 Meter breiten Krater hinterlässt.
Die Möglichkeit eines Luftschlags prägt gerade die vielen dunklen Stunden eines Tages. Nach 22 Uhr darf keine Privatperson mehr auf die Straße. Wohnungs- und Schaufenster sind mit dunklen Stoffen und Pappen abgedeckt. Regelmäßige Hinweise in den Zeitungen weisen auf die Zimmerbeleuchtung hin: „Heute verdunkeln von 16.15 Uhr bis 8.15 Uhr!“ Bedrohliche Plakate warnen vor der tödlichen himmlischen Gefahr. Die Straßenbeleuchtung ist abgeschaltet. Fahrzeuge, selbst der Drahtesel, sind mit schmalen Schlitzblenden versehen. Bei 580 zugelassenen Autos und Lastwagen ist der motorisierte Verkehr in der Fördestadt überschaubar, wird aber dennoch immer stärker reguliert. Der Schienenverkehr wird weiter ausgedünnt. Die Straßenbahn fährt morgens und nachmittags nur noch für Berufstätige. Ab dem 23. Januar treffen keine Schnell- und Eilzüge mehr in Flensburg ein.
NS-Organisationen mit Durchhalte-Parolen
Seit wenigen Wochen ist Hermann Riecken, der NSDAP-Kreisleiter, zurück in der Fördestadt. Als SS-Hauptsturmführer und Ostland-Gebietskommissar ist er in Pernau (Estland) und Düneburg (Lettland) gewesen – bis die Rote Armee die Regie im Baltikum übernommen hat. Statt in einer 20-Zimmer-Dienstwohnung im Baltikum sitzt der 43-Jährige wieder in seinem Büro in der Großen Straße 21. Ein Rede-Manuskript für eine Feierstunde der NS-Organisationen zum zwölften Jahrestag der Machtübernahme von 1933 liegt auf dem Schreibtisch. „Dem Reich verschworen auf Leben und Tod kämpft und arbeitet jeder an dem Platz, an den ihn sein Volk stellt“, wird Hermann Riecken unter anderem sagen. Schließen möchte er mit: „Unser Glaubensbekenntnis ist der Sieg.“
Die Durchhalte-Parolen füttern die NS-Organisationen mit der Aktion „Volksopfer“. Die Menschen, die ohnehin immer weniger haben, sollen auch noch spenden. „Es soll ein Opfer sein, ein Beitrag zum Kampf und zum Sieg“, betont der NS-Kreisleiter. „Je früher das Opfer – desto näher der Sieg!“ Die Hitler-Jungen gehen von Haustür zu Haustür und sammeln Anzüge, Uniformstücke, Essgeschirr, Stoffabfälle, Handschuhe oder Stiefel. Pferdebespannte Blockwagen bringen die Fuhren zu den zehn Sammelstellen in der Stadt, wo Frauen das Sammelgut für Wehrmacht und „Volkssturm“ sortieren.
Die Rolle des Bahnhofs
Zum Schmelztiegel wird immer mehr der Bahnhof. Als letzte Station vor der Grenze zum besetzten Dänemark treffen schon länger viele Transporte mit Truppen und Verwundeten in Flensburg ein. In diesen Tagen registriert das Deutsche Rote Kreuz verstärkt flüchtende Zivilisten aus dem Osten des Reiches. Es gibt allerhand zu tun. Mittendrin Erna Kracht. Sie ist die Ehefrau des hiesigen DRK-Oberstführers Ernst Kracht, zugleich der Oberbürgermeister Flensburgs.
1936 ist der 54-Jährige von den Nationalsozialisten eingesetzt worden. Am Holm hat er sein Geschäftszimmer, aber meistens nutzt er sein Büro in einer Villa im Marienhölzungsweg. Das private Leben in der Dienstwohnung ist längst nicht mehr so schön wie am Anfang der Flensburger Amtszeit. Die beiden Töchter wohnen nicht mehr zu Hause, die beiden Söhne sind im Krieg gefallen. In einigen Räumen leben nun Bombengeschädigte aus Hamburg. Ernst Kracht hat im letzten Frühling ein sogenanntes Behelfsheim beantragt – als Ausweichquartier. Gegen einen Bezugsschein gibt es einen Zuschuss vom Reich: zehn Sack Zement, anderthalb Kubikmeter Holz und etwas Isolierpappe. Allerdings ist das kleine Bauprojekt auf dem Nachbargrundstück vor dem Winter nicht ganz fertig geworden.
Kultur und Unterhaltung zur Ablenkung vom Krieg
Ernst Kracht ist seit Mai 1933 NSDAP-Mitglied, wird aber von den Zeitgenossen nicht als „Aktivist der Partei“ eingeordnet. Er gilt als ausgewiesener Verwaltungsfachmann mit einer Vorliebe für Sozialpolitik und Kultur. Selbst in diesem tristen Januar werden völlig unpolitische Veranstaltungen organisiert. Das Stadttheater ist zwar offiziell seit einigen Monaten geschlossen, da der Großteil des Ensembles an die Front geschickt wurde, alle paar Wochen lockt aber zumindest ein musikalischer Leckerbissen – etwa die Berliner Philharmoniker – ins unbeheizte Ambiente. Die Niederdeutsche Bühne ist noch aktiv und feiert mit „De Schörtenjäger“ sogar eine Premiere. Geöffnet haben auch die Lichtspielhäuser: Das Colloseum zeigt die „Familie Buchholz“, das Holm-Filmtheater setzt auf den Film „Der gebieterische Ruf“, und der Mürwiker Filmpalast hat die Komödie „Der Gasmann“ im Programm. Große Kontingente an Kino-Tickets werden für Soldaten der Wehrmacht zurückgehalten – als Entspannung vom üblen Kriegsgeschehen.
Die Spielfilme auf der Leinwand können aber nicht die dunklen Streifen vertuschen: Leid und Elend werden auch in Flensburg immer größer. Am 24. Januar treffen die ersten deutschen Flüchtlinge aus dem erst 1939 nach der Besetzung Zentralpolens geschaffenen Warthegau ein. Die sowjetrussischen Truppen rücken immer weiter vor. Renate Kracht, die ältere der beiden Töchter des Oberbürgermeisters, kehrt mit einem der letzten Schnellzüge vom Studium aus dem ostpreußischen Königsberg zurück. Aus Berlin trifft wenige Tage später eine neue Anweisung ein: „Der Verlauf des Krieges im Osten und Westen des Reiches macht weitere Umquartierungen in weniger gefährdete Gebiete notwendig.“ Ernst Kracht und Hermann Riecken bereiten einen gemeinsamen Appell vor, der am 1. Februar 1945 in den „Flensburger Nachrichten“ erscheint und zur Solidarität mit den Flüchtlingen aufruft: „Wir erwarten von der Bevölkerung Flensburgs, dass sie den erforderlichen Wohnraum zur Verfügung stellt und die von uns zu treffenden Maßnahmen hinsichtlich der Unterbringung, Verpflegung und Versorgung tatkräftig unterstützt.“
Text: Jan Kirschner
Fotos: Privat