Am 10. Mai 1945 erreichte die 159. Brigade der Briten mit rund 3000 Mann Flensburg. Kommandant John Bryan Churcher wunderte sich über die vielen deutschen Kraftwagen, in denen deutsche Offiziere saßen. Zahlreiche Armeebusse waren unterwegs, und am Hafen patrouillierten deutsche Militärpolizei und Marinekräfte. War der Weltkrieg in Deutschlands Norden wirklich beendet? Die Briten wählten das Polizeipräsidium in Norderhofenden als ihr Hauptquartier und setzten ihre Flagge auf das Dach.

Eine britische Verwaltungstruppe übernahm die zivilen Behörden der Stadt und des Landkreises. Einige Häuser auf der Westlichen Höhe und in der Rathausstraße wurden beschlagnahmt. „Die schönsten Villen und die feinsten Hotels“, jammerte ein Zeitzeuge. Die bisherigen Eigentümer hatten nur 24 Stunden Zeit bis zur Räumung und mussten die Inneneinrichtung zurücklassen. Betroffen war auch der fast 80-jährige Ex-Oberbürgermeister Hermann Todsen.

Der noch amtierende Amtsinhaber Ernst Kracht erhielt plötzlich Besuch. In seinen Memoiren heißt es: „Ein englischer Soldat mit Maschinengewehr meldete sich bei mir im Rathaus und teilte mit, dass der Gouverneur mich zu sprechen wünsche.“ Nach einem kurzen Treffen erfolgte ein Wechsel auf dem Chefplatz der Stadt. Ernst Kracht war nur noch Befehlsempfänger und besorgte Gegenstände, die die britischen Besatzer benötigten: Radio-Apparate, Büromaterial oder Wohnungseinrichtungen.

Flensburg 1945 Folge 7: Der Sonderbereich Mürwik und das Ende des NS-Staates
Mai 1945: Britische Kolonne am Flensburger Hafen; Foto: IMW

Alliierte Überwachungskommission auf der „Patria“

Eine umfangreiche Entwaffnung des deutschen Militärs lief. Bis zum 12. Mai waren Waffen und Munition an allen Dienststellen der Wehrmacht abzugeben. Größere Kaliber und Sprengmittel nahm der U-Boot-Stützpunkt Kielseng an. Alle deutschen Soldaten, die nicht in Flensburg beheimatet und gesund waren, mussten Flensburg umgehend verlassen – so die Theorie. Immer wieder strandeten vereinzelte Soldaten oder versprengte Truppenteile in Flensburg.

Auf dem Wohnschiff „Patria“ residierten nun keine ranghohen Nazis mehr, sondern die 25-köpfige alliierte Überwachungskommission – unter der Leitung des US-Generalmajors Rooks und des britischen Brigadegenerals Foord. Die Weisung des US-Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower lautete: Demilitarisierung und Entnazifizierung. Die letzte deutsche Regierung und die Oberkommandos von Wehrmacht und Marine hatten sich in den „Sonderbereich Mürwik“ zurückgezogen, der am 12. Mai 1945 fixiert wurde.

Dieser umfasste sieben Kilometer Küste von Kielseng bis Meierwik, dehnte sich zwei Kilometer ins Binnenland aus und flankierte die Bahnlinie von Flensburg nach Glücksburg. In dieser Zone befanden sich Nachrichtenschule, Offiziersschule und Sportschule der Marine sowie die Kaserne Meierwik und das Wasserschloss Glücksburg, in dem sich Reichswirtschaftsminister Albert Speer einquartiert hatte – unter vielen Adligen. Zehntausende Soldaten campierten in Mürwik. Die Ministerien waren auf mehrere Standorte verteilt und wohl nur unzureichend arbeitsfähig. Ein Fernschreiben aus dem Auswärtigen Amt: „Bitte sofort Schreibdame mit Maschine und Büromaterial in Kraftwagen nach Mürwik entsenden!“

Eigenleben in der Enklave

Englisches Militär und zwei deutsche Marinewachen schirmten den „Sonderbereich Mürwik“ ab. Es wurde scharf kontrolliert. Standortkommandeur Wolfgang Lüth hatte selbst eine Losung ausgegeben, betrank sich in der Nacht zum 14. Mai 1945 aber dermaßen, dass er sich an das Code-Wort nicht mehr erinnern konnte. Da er dennoch durch eine Sperre drängen wollte, erschoss ihn ein Wachposten.

Die Alliierten duldeten die letzte Reichsregierung, erkannten sie aber nicht an. Die Enklave bildete ihre eigenen Regeln aus. Offiziere und Wachbataillone behielten ihre Waffen. Großadmiral Karl Dönitz hatte am 9. Mai 1945 das Offizierskorps auf die neue Rolle mit ewiggestrigen Worten eingestimmt: „Wir haben die eifrigsten Wächter zu sein über das Schönste und Beste, was uns der Nationalsozialismus gegeben hat, die Geschlossenheit unserer Volksgemeinschaft.“ Während diese Herrschaften von den „Volksgenossen“ Disziplin einforderten, übertrumpften sie sich bei Alkohol-Eskapaden und trieben es mit Wehrmachtshelferinnen.

Die Uhren der NS-Zeit tickten im „Sonderbereich Mürwik“ länger. Erst auf Drängen der Briten wurde die Reichskriegsflagge eingeholt, und erst am 14. Mai ordnete Karl Dönitz an, die Hitler-Bilder aus den Ämtern zu entfernen – aber auch nur, wenn ein dienstlicher Kontakt mit der Besatzungsmacht bestand. Ehrenzeichen der Wehrmacht durften ohne Hakenkreuz weitergetragen werden. Für Generaloberst Alfred Jodl gab es sogar noch eine Feierstunde, während fast zeitgleich der einfache Soldat Johann Süß auf dem Richtplatz am Tremmerupweg zum Tode verurteilt wurde. Da deutsche Lieder und Märsche nicht mehr gespielt und gesungen werden durften, erließ Karl Dönitz den Befehl: „Es wird nur noch gepfiffen.“

Regierungspolitik in der Marine-Sportschule

Die Marine-Sportschule Mürwik war das Reich einer Regierung, die kein Reich mehr hatte, aber Zukunftspläne entwarf. Über 350 Menschen waren für diese machtlose Erscheinung tätig. Dazu gesellte sich ein 200-köpfiges „Nachrichtenbüro“, das sich mit alliierten Medien und eigenen Mitteilungen befasste. Auf den Gängen waren viele Ritterkreuzträger, aber kaum Zivilisten unterwegs. Täglich tagte das Kabinett im Saal, betonte seinen Geltungsanspruch und thematisierte Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit oder soziales Elend. Die Regierungsmitglieder hatten weiterhin ihre Ordonnanz, ließen sich wecken und ihre Diensträume säubern. Das Mittagessen im Offizierskasino gab es ohne Lebensmittelmarken. Weißgekleidete Kellner servierten reich gefüllte Schüsseln.

Diese Scheinregierung versuchte, einen Keil zwischen Sowjets und den westlichen Alliierten zu schieben. Der Vorwurf wurde laut: „Die Besserstellung des ostdeutschen Raumes wird ein Übriges für die Bolschewisierung auch in diesem Teil Deutschlands tun.“ Karl Dönitz widersprach dann aber einer Ostorientierung, da sie die „Aufgabe der völkischen Existenz“ bedeuten würde. Eine Debatte über Deutschlands Rolle in der zukünftigen Weltordnung war entzündet. Das Auswärtige Amt plädierte für eine Neutralität, um nicht zwischen den Großmächten zerrieben zu werden. Andere erwarteten die „größte Handlungsfreiheit“, wenn man sich für den Westen entscheiden würde.

Flensburger Verhaftungswelle

Derweil waren die Briten auf der Suche nach Kriegsverbrechern. In Flensburg erfolgten etliche Verhaftungen – auch von ranghohen NS-Größen. Heinrich Himmler war zwar geflüchtet, Wehrmacht-Chef Wilhelm Keitel konnte aber nicht entwischen. Reichsernährungsminister Herbert Backe und ein paar Tage später Reichsverkehrsminister Julius Dorpmüller wollten zu Fachgesprächen nach Frankreich, wurden aber schon am Flugplatz „Schäferhaus“ verhaftet. NS-Chefideologe Alfred Rosenberg hatte sich bei einem Alkohol-Exzess am Bein verletzt und wurde im Lazarett der Kriegsmarine aufgegriffen.

In der Bismarckstraße klingelte und klopfte es am 14. Mai um 22 Uhr an einer Haustür. Zwölf britische Militärsoldaten fanden Einlass. Bis fünf Uhr morgens folgten Vernehmungen, dann wurden sechs Personen, darunter der Gesandte Karl Schnurre, festgenommen. In der Marienallee war Oberbürgermeister Ernst Kracht dabei, Papiere zu vernichten, da er mit einer Durchsuchung rechnete. Kurz darauf war das Haus umstellt. Ein Militärpolizist führte den Oberbürgermeister ab. Er musste in einen Lastwagen einsteigen. Bürgermeister Mackeprang wurde noch eingesammelt, dann verließ das Fahrzeug die Fördestadt. Das Ziel: das Zentralgefängnis in Neumünster.

Flensburg 1945 Folge 7: Der Sonderbereich Mürwik und das Ende des NS-Staates
Passierschein: Twedter Holz lag im „Sonderbereich Mürwik“

Das „normale“ Leben in der Fördestadt

In Flensburg war eine Phase der Ungewissheit angebrochen. „Einige meinen, Flensburg werde zu Dänemark kommen, andere behaupten, Dänemark lehne dankend ab“, notierte Tagebuch-Schreiber Wilhelm Clausen. Der Frieden brachte Sommerwetter, aber auch ein schweres Gewitter mit Hagelschlag und Sturm. Am 12. Mai 1945 platzte abends der Saal im „Flensborghus“ aus allen Nähten. Der Danebrog flankierte das Rednerpult, erleichterte Worte kamen über die Lippen. Eine Radioansprache des dänischen Königs wurde wiederholt, da sie viele wegen des Strommangels noch nicht gehört hatten.

Tags darauf waren auf Südermarkt und Nordermarkt die Verordnungen der Militärbehörde plakatiert. Die NSDAP war nun offiziell verboten, viele ihrer Gesetze aufgehoben. Eine tägliche Ausgangssperre wurde von 22.15 Uhr bis 5.30 Uhr verhängt. Die Bevölkerung beschäftigte sich hauptsächlich mit ihrer Versorgung. 1200 Kalorien stand jedem täglich zu, was mit fünf Scheiben Brot, zehn Gramm Fett und einem Glas Milch definiert war. Ein englischer Offizier sagte: „Die Deutschen brauchen nicht zu glauben, dass sie Zucker, Fett und Hefe annähernd in normalen Rationen erhalten werden, aber sie werden etwas zu essen bekommen.“ Flensburgs größte Probleme waren der Energiemangel in der Lebensmittelindustrie und zu wenig Wohnraum. Im Hafen lagen Schiffe mit rund 25.000 Menschen – mit KZ-Häftlingen, Soldaten, Verwundeten und Flüchtlingen.

Am 16. Mai war das Haus in der Wrangelstraße 1 mit Blumen geschmückt. Die Militärregierung hatte Jacob Clausen Möller, ein Vertreter der dänischen Minderheit, zum neuen Oberbürgermeister berufen. Neben ihm traten Kaufmann Christian C. Christiansen und Sozialdemokrat Friedrich Drews als Bürgermeister sowie Rechtsanwalt Christian Ravn als juristischer Berater auf. Ein Quartett, das durch keine NS-Vergangenheit belastet war. Die Stadt „kochte“ nur auf Sparflamme. Gerichte, Wohnungsamt, und Arbeitsamt arbeiteten. Dagegen waren die Schulen geschlossen, die Postbeförderung war eingestellt. Ab dem 17. Mai war auch der private Kraftverkehr verboten. 2800 Lastwagen der Wehrmacht standen nutzlos in der Marienhölzung.

Eine „politisch schädliche“ Regierung

Das „Flensburger Nachrichtenblatt der Militärregierung“ berichtete fast täglich über neue Grausamkeiten aus den Konzentrationslagern. Im „Sonderbereich Mürwik“ konnte man an diesem Thema nicht mehr vorbeisehen. Der leitende Minister Lutz Graf Schwerin von Krosigk unterrichtete offiziell Karl Dönitz über Schiffe, die KZ-Häftlinge an Bord hatten. Er schrieb: „Wenn in Konzentrationslagern oder bei Festnahmen Dinge vorgekommen sind, die allgemein gültigen Grundsätzen des Rechts und der Moral und dem Empfinden eines anständigen Menschen zuwiderlaufen, nur wenige Menschen in Deutschland hiervon etwas gewusst haben.“ Ein Regierungspapier wurde aufgesetzt, in dem die Verantwortung an diese Gräueltaten weggeschoben wurden und die Wehrmacht reingewaschen wurde.

Die ausländische Presse beschäftigte sich mehr und mehr mit der Dönitz-Regierung, während die Alliierten bereits konkrete Vorstellungen einer Nachkriegsordnung hatten: Deutschland sollte dezentralisiert, eine Demokratie aufgebaut und Schleswig-Holstein in die britische Besatzungszone integriert werden. Da konnte ein Ansinnen der deutschen Minister, ihren Regierungssitz von Flensburg in den mitteldeutschen Raum oder gar nach Berlin zu verlegen, nur Verwunderung auslösen. In einer Besprechung mit US-Vertretern setzte Karl Dönitz weiter auf die Vorzüge einer Diktatur und lästerte über die Weimarer Republik. US-General Rooks kam zum Fazit: „Für eine Demokratisierung ist diese Regierung politisch schädlich.“ Am 17. Mai traf eine 15-köpfige russische Delegation ein, die den „Sonderbereich Mürwik“ von Anfang an ablehnte. Die NS-Größen mussten nun täglich mit ihrer Verhaftung rechnen.

Noch hatte Flensburg aber ein ganz eigenes, irritierendes Flair. Ein US-Journalist berichtete: „Der Krieg war schon mehr als zwei Wochen zu Ende, aber wir stellten fest, dass die Offiziere und Soldaten der deutschen Armee und der Luftwaffe ihre Rangabzeichen trugen, einander grüßten, Geländewagen fuhren und sich ganz allgemein so verhielten, dass ich das ungemütliche Gefühl hatte, der Krieg ginge weiter und ich sei irgendwo hinter die deutschen Linien geraten.“ Pfingsten (20. und 21. Mai) war entspannt: Die englischen Soldaten ließen sich am ZOB, im Bahnhofshotel und in anderen Gaststätten bedienen – bei wunderbarem Wetter. Die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm.

Die „Operation Blackout“

Am 22. Mai 1945 schrillte zur Nachmittagsstunde ein Telefon in der Marine-Sportschule: die alliierte Überwachungskommission. Karl Dönitz, Alfred Jodl und Hans-Georg von Friedeberg, die höchsten Köpfe der Regierung, der Wehrmacht und der Marine sollten am nächsten Tag um 9.45 Uhr auf der „Patria“ erscheinen. Dann der 23. Mai 1945: Die drei NS-Größen wurden in drei verschiedenen Autos zum Wohnschiff gefahren und setzten sich in der Bar an einen langen Tisch. Begleitoffiziere und Adjutanten schritten auf dem Linoleum-Boden. Nach sechs Minuten erschienen der Amerikaner Rooks, der Brite Foord und der Russe Truskov und setzten sich gegenüber den drei NS-Herrschaften. Rooks kam gleich zur Sache: „Die Mitglieder der geschäftsführenden deutschen Regierung und des Oberkommandos der Wehrmacht sind als Kriegsgefangene in Haft zu nehmen. Die geschäftsführende deutsche Regierung ist aufgelöst.“

Die „Operation Blackout“ lief da bereits. Albert Speer wurde widerstandslos in Glücksburg festgenommen. „Das musste ja so kommen, es war sowieso nur noch Operette“, sagte der Reichsminister. Der gesamte Marinebereich war „führerlos“, sodass britische Panzer-Division und Soldaten blitzschnell einrücken konnten und keinen Schuss abfeuern mussten. Das Kabinett hatte gerade mit der Sitzung begonnen, als ein englischer Soldat in den Saal stürzte: „Hände hoch! Hosen herunter!“ Sämtliche Gefangene wurden nach draußen geführt und auf dem Freigelände versammelt, wo sich nach einer guten Stunde 5000 Personen drängten.

Flensburg 1945 Folge 7: Der Sonderbereich Mürwik und das Ende des NS-Staates
23. Mai 1945: Zahlreiche Verhaftungen im „Sonderbereich Mürwik“; Foto: IMW

Die drei NS-Spitzen waren von der „Patria“ zurück. Hans-Georg von Friedeburg ging noch mit Karl Dönitz auf und ab und wurde dann zu seiner Unterkunft in der Kaserne Meierwik gebracht. Dort legte er all seine Orden an, suchte einen Waschraum auf, schloss sich ein und setzte seinem Leben mit Gift ein Ende. Es war der einzige Todesfall an diesem Tag im „Sonderbezirk Mürwik“. Für die anderen Regierungsmitglieder hieß es plötzlich: „Abfahrt sofort!“ Der eine oder andere Koffer blieb zurück.

Die nächste Etappe war das Polizeipräsidium in Norderhofenden. Die NS-Repräsentanten schmorten dort eine Stunde in der Halle, erfuhren eine gründliche Leibesvisitation und mussten alle ihre Abzeichen aushändigen. Karl Dönitz beklagte den Verlust seines Feldmarschallstabs. Die Alliierten wollten den endgültigen Bruch mit Nazi-Deutschland demonstrieren und initiierten die Verhaftung als Medien-Spektakel. 80 Reporter, Fotografen und Kamerateams waren angereist. Damit alle Teams ihre Aufnahmen machen konnten, wurde Karl Dönitz, Alfred Jodl und Albert Speer befohlen, gleich mehrfach hintereinander den Innenhof des Polizeipräsidiums zu betreten.

Die Kriegsverbrecher wurden am späten Nachmittag in Lastwagen verladen und – von Panzern eskortiert – zum Flugplatz „Schäferhaus“ gefahren. Auf dem Luftweg ging es nach Luxemburg ins Untersuchungsgefängnis. Tags darauf titelten die Zeitungen in Flensburg: „Das Ende der Dönitz-Zeit“. Das US-Magazin „Time“ bilanzierte eher blumig als spektakulär: „Das Deutsche Reich starb an einem sonnigen Morgen in der Nähe des Ostseehafens Flensburg.“ 

Text: Jan Kirschner 

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