Noch steht die Sonne nicht im Zenit, dennoch drückt die Luft. Es ist einer der sehr warmen Sommertage in Flensburg. Bei „Braasch“, dem bekannten Wein- und Rumhaus in der Roten Straße, hat die neue Geschäftswoche gerade begonnen. Eine Gruppe Touristen flutet den gemütlichen Innenhof, der in einer normalen Weihnachtzeit ein großer Magnet ist. Ein Stadtführer erzählt Wissenswertes über die Rum-Stätte. Die vier Gebäude bilden ein Ensemble, das Blickfang, Gewerbe-Lokalität, Ort der Geselligkeit und Museum zugleich ist. Wer an der Geschichte Flensburgs als Rumstadt interessiert ist, ist hier genau richtig. Nicht umsonst kommen immer wieder Fernseh-Teams für kleine Reportagen in das Kleinod, dessen Grundstein Walter Braasch vor einem Vierteljahrhundert legte. Jetzt posiert er zusammen mit Ehefrau Yvonne, Sohn Karsten und Schwiegertochter Katharina für das „Flensburg Journal“.

Erst vor Kurzem war der NDR mit seiner „Nordstory“ zu Gast. Der Regisseur fragte nach einer Besonderheit. Walter und Karsten Braasch dachten sofort an ein Fass, das seit zwei Jahren in der Westerallee lagerte und einen Blend aus Rum von den Karibikinseln Martinique und Jamaika beinhaltete. Diese Privat-Serie wurde zum Hauptdarsteller des Filmbeitrags. Auch ich darf diesen fruchtig-frischen Rum kosten – in dem Raum, in den sich Vater und Sohn oft für einige Stunden zurückziehen, um neue Sorten zu kreieren, zu probieren und zu bewerten. Sie sitzen dann an einem großen Tisch, flankiert von Bildern mit Schiffen, Urkunden, Plaketten und einer topografischen Karte der Karibik. Ein Ambiente, das offenbar inspirierend wirkt und die besondere Note dieser Stätte betont.
Die eher ungewöhnliche berufliche Laufbahn war noch nicht abzusehen, als Walter Braasch am 8. September 1954 das Licht der Welt erblickte. Als Hausgeburt, weil es die Großmutter so wollte. Sie war Hebamme, folgte mit dem Fahrrad den Terminen der Wehen – quer durch Angeln. Da musste eine Geburt zu Hause auf dem Flensburger Bohlberg selbstverständlich eine familiäre Sache bleiben. „Dann musste sich meine Großmutter aber doch eine weitere Hebamme zur Hilfe nehmen“, erzählt Walter Braasch mit einem Schmunzeln. „Sie hatte sich kurz vorher einen Arm gebrochen.“

Die Oma war auch für den schnell folgenden Umzug verantwortlich. Sie heiratete einen Mann, der ein größeres Haus im Unteren Lautrupweg hatte. Der kleine Walter blieb ein Einzelkind, lebte zunächst aber unter einem Dach mit Großeltern, Tante und zwei Cousinen. Mit einem Lächeln betont er: „Ich wurde sehr weiblich sozialisiert.“ Dann wurde am Hafen etwas frei – in der Schiffbrücke 55, direkt an der Einmündung der Norderfischerstraße. „Meine Eltern mieteten eine Parterre-Wohnung, der Hausflur war bei Hochwasser nicht selten geflutet“, erinnert sich Walter Braasch.
Er kam auf die Marienschule, die bislang eine Mädchenschule war, nun aber erstmals Jungen aufnahm. Der Unterricht und das Lernen sollten aber nicht die große Erfüllung werden. Der 67-Jährige schmunzelt: „Ich habe mich mehr oder weniger durchgeträumt, es gab doch viele interessantere Dinge.“ Zum Beispiel die Natur. Und erst recht der quirlige Hafen, der in den 60er Jahren prosperierte und voller Leben war. Fischer liefen mit ihren Kuttern zu den Fanggebieten aus und kehrten mit reicher Beute zurück. Butterdampfer steuerten Kollund, Gravenstein oder Glücksburg an. Und immer wieder kreuzten Frachter auf, deren Mitbringsel auf Lastwagen geladen wurden, die dann über die Schiffbrücke, damals Teil der Europastraße 3, davonsausten. „Das war eine unvergessliche Geräuschkulisse“, erinnert sich Walter Braasch. „Vor unserem Schlafzimmerfenster lag das Kopfsteinpflaster.“

Flensburger Förde und die dänische Südsee waren sein Revier

Dann erwarben die Eltern in Mürwik eine Eigentumswohnung. Die neue Adresse – Wasserlooser Weg – bedeutete nicht nur den Wechsel zur Osbekschule, sondern brachte auch eine neue Möglichkeit der Freizeitgestaltung. „Mit dem Fahrrad fuhr ich zum Twedter Plack und dann als Tramper weiter nach Glücksburg, um den wilden Berg in Meierwik zu meiden“, erzählt Walter Braasch. Die Autofahrer sollen schnell angehalten haben, da der Junge einen blauen Pullover mit weißem Streifen trug und damit sofort als Mitglied des Flensburger Segelclubs zu erkennen war. Schon in der Jugend avancierte er zum Bootsführer auf einem „Piraten“. 50 Jahre lang waren die Flensburger Förde und die „dänische Südsee“ sein Revier. Nun segelt ein guter Freund das Familienschiff „S.Y. Oriole“.
Mit 15 Jahren hatte Walter Braasch ein ernsthaftes Problem. Die wenig spektakuläre Schulzeit ging zu Ende, was eine Frage auslöste: „Was mache ich jetzt? Außer Segeln habe ich doch nichts im Kopf.“ Beim Arbeitsamt saß ein fähiger Psychologe, der den Heranwachsenden Fragebogen ausfüllen und Häuser malen ließ, bis er eine Empfehlung aussprach: eine Ausbildung als Industriekaufmann in der Genussmittel-Branche. Der Vater wunderte sich: „Du kannst doch gar nicht rechnen.“ Sein Sohn meinte es aber offenbar ernst, hatte er doch drei Visitenkarten mit potenziellen Ausbildern in der Tasche: allesamt aus der Beletage im Flensburger „Sternzeichen des Rums“.
Besonders vielversprechend lief das Vorstellungsgespräch bei Andresen-Rum, wo dem Bewerber die Ausbildung als Destillateur schmackhaft gemacht wurde. Walter Braasch hatte von diesem Beruf noch nie gehört, doch als er erfuhr, dass er Rum, Likör und andere Spirituosen herstellen könnte, dachte er sich: „Das kommt ja wie gerufen. Das ist nicht nur Schreibtisch, sondern auch Handwerk und klingt nach viel Abwechslung.“ Der Senior-Chef Hermann Cornils Andresen stellte aber noch eine knifflige Frage: „Was bedeutet die Zahl 831, die bei unseren Fabrikaten auf dem Flaschenhals steht?“ Spontan kam Walter Braasch das ABC in den Sinn. Die Nummern stehen für HCA, die Initialen des Gründers. Der war begeistert: „Den Jungen nehmen wir!“

„Man kann ein Studium beginnen, aber auch das Leben studieren“

Es folgten drei befruchtende Jahre – dank des Junior-Chefs Wolfgang Andresen und vor allem dank Ausbilder Alfred Ritter. Zu ihm entstand eine lebenslange Verbundenheit. Viele Jahre später war er Unterstützer für den Aufbau eines Museums – mit Rat und Exponaten. Walter Braasch indes entdeckte in den frühen 70er Jahren seine Maxime: „Man kann ein Studium beginnen, aber auch das Leben studieren.“ Statt der Theorie der Betriebswirtschaftslehre erlebte er hautnah einen Familienbetrieb, der sich auf dem Markt halten musste. In einem Umfeld von zunächst 26 Rum-Firmen, deren Zahl aber zunehmend schrumpfte.
Um nicht irgendwann, womöglich zu einem ungünstigen Zeitpunkt im Berufsleben, gezogen zu werden, meldete sich Walter Braasch freiwillig bei der Bundeswehr und verpflichtete sich für zwei Jahre im Sanitätsdienst der Marine. Am Flottenkommando Glücksburg hatte er nun mit einem Stabsarzt zu tun, der in der Pfalz auf einem Weingut aufgewachsen war. Das Duo entwickelte einen eigenen Tagesablauf: morgens die Patienten, nachmittags der Wein. „Wir tranken natürlich die eine oder andere Flasche vom edlen Tropfen“, verrät Walter Braasch. „Ein großes Interesse am Wein entstand.“
Der Flensburger blieb allerdings zunächst seiner Profession als Destillateur treu. Da sich die Rum-Branche Mitte der 70er Jahre im Sinkflug befand, musste er dafür seine Heimatstadt verlassen und in Hamburg anheuern. Ein durchaus willkommener Tapetenwechsel für den jungen Mann, zumal er gerade seine spätere erste Ehefrau und Mutter seiner beiden Kinder kennengelernt hatte. Die Hansestadt war aber nur ein kurzes Intermezzo. An der Elbe traf er auf einen Weinhändler, der großes Potenzial in Flensburg ausmachte und Walter Braasch mit nur 22 Jahren zum Schritt in die Selbstständigkeit ermutigte. 1976 startete das „Weinhaus Braasch“ in der Großen Straße 34.
Der Jung-Unternehmer zahlte eine überschaubare Miete von 200 D-Mark, musste in der Hinterhof-Lage aber ohne Laufkundschaft auskommen. Zum Glück gab es in Mürwik einen Nachbarn, der am Holm ein Reisebüro führte und um einen Untermieter für das vordere Drittel der Geschäftsräume buhlte. „Was wir suchen, darf nicht riechen, soll nicht nur für die Jugend sein, aber auch nicht nur für die Älteren“, sagte dieser. „Herr Braasch, wie wäre es mit Ihnen?“ Der schlug ein und zahlte nun 2000 D-Mark als Monatsmiete.
„Ich hatte Woody Allen im Kopf, der in einem Film von den Leuten überrannt wurde, als er die Tür eines Kaufhauses morgens erstmals öffnete“, erzählt Walter Braasch. „Die Realität war eine ganz andere: Vor meiner Tür stand niemand, nach einer halben Stunde kam der erste Kunde und dann irgendwann der nächste.“ Dennoch erzielte er fortan bessere Umsätze. Ohne aufwändiges Marketing ging es aber nicht. Viele Veranstaltungen, Weinproben und Ausschank auf Hof- und Hafenfesten prägten seinen Weg.

Ab 1982 in der Roten Straße zu Hause

Einige Meter weiter, in der Roten Straße, wirbelte bereits Günter Kruse. Der Künstler war dabei, einen der Hinterhöfe zu sanieren und entwarf für seinen Freund Walter Braasch auch eine stilsichere Ausschenk-Vorrichtung für Weinflaschen – aus einem Garderoben-Bügel. Eines Abends hatte er überzeugende Argumente für einen Umzug. Ab 1982 residierte Walter Braasch in der Roten Straße 16, direkt am Eingang zum Sonnenhof. Schnell wurde er aktiv in der lokalen Kaufmannschaft. Er fing bei den Wirtschaftsjunioren an, wurde Vorstandsmitglied der „IG Innenstadt“ und schließlich 26 Jahre lang Vorsitzender der „IG Rote Straße“.

Das Kleeblatt der Roten Straße

Mit Günter Kruse, Harry G. Schmidt und Herbert Remmer galt er als das „Kleeblatt der Roten Straße“, das die Aufbruchsstimmung nutzte, um eine bis dahin vergessene Straße aufzuwerten. Bald zählten die Kinder nicht mehr die Ratten an den Mülleimern, sondern die Touristen und Passanten beim Einkaufsbummel. Einmal im Jahr wurde über zwei Tage gefeiert und hartnäckig um ein Straßen-Lifting gerungen. Auf den Vorschlag für ein Kopfsteinpflaster reagierte die Stadtverwaltung zurückhaltend: „Bis zur Umsetzung müssen Sie mit acht Jahren rechnen, zunächst brauchen wir die Zustimmung aller Anrainer.“ Walter Braasch sammelte schnell die Unterschriften aller Grundstücksbesitzer, die Hälfte der Kosten zu übernehmen und der Stadt zu offerieren, ihr für ihre Hälfte ein Darlehen zu gewähren. Und als die Kaufleute dann noch die Straßenlampen schenkten, ging alles viel schneller.

Zur großen Zäsur wurden die späten 90er Jahre

Walter Braasch war inzwischen geschieden. Sohn Karsten blieb bei ihm und schnupperte immer mehr in den Betrieb. Die Eltern waren eine wichtige Unterstützung für den alleinerziehenden und voll berufstätigen Vater. Dann bürgten sie für ein überraschendes Großprojekt. Die Inhaberin des Kaufmannshofs in der Roten Straße 26 bis 28 verstarb. Im September 1997 war sich Walter Braasch mit den Erben einig über den Kauf der vier Gebäude, an denen der Zahn der Zeit nagte. Entkernung und Sanierhammer wurden zu den häufigsten Worten der nächsten Monate. „Der große Aufwand hatte aber auch einen Vorteil“, erzählt der Unternehmer. „Wir konnten alles auf den neuesten Stand bringen, alle alten Stromkabel und Wasserleitungen verschwanden.“
Seit August 1998 gibt es Weine mit Qualität am heutigen Standort. Die Weißweine stammen hauptsächlich aus deutschen Anbaugebieten wie Pfalz, Rheinhessen und Mosel. Die Rotweine kommen aus Spanien, Italien und Frankreich. Ein Erdrutsch in der lokalen Wirtschaft brachte eine unverhoffte Sortimentserweiterung. Die Firma „H. G. Dethleffsen“ verkaufte „Hansen-Rum“ und „Bommerlunder“, das Ende der Rum-Stadt Flensburg drohte. In der Roten Straße keimte die Marke „Braasch Rum“. Der Inhaber begann mit einer Auflage von nur 150 Litern und wurde von der Nachfrage überrascht. Er baute Kontakte zu Importeuren in Rotterdam, Hamburg, Amsterdam und London auf, zeigte Kreativität, Geschmackssinn und Mut.
Am Marketing sowie am Design der Flaschen war bereits die zweite Ehefrau Yvonne beteiligt. Sie war Grafikerin einer Hamburger Werbeagentur, die für die Holmpassage tätig war. Dort hatte Walter Braasch eine Filiale. Er lächelt: „Im Frühjahr siezten wir uns noch, am 30. Dezember 1999 heirateten wir. Wir konnten nicht mehr warten.“ Es war der letzte Tag im letzten Jahrtausend, an dem das Flensburger Standesamt arbeitete.

Das Ehrenamt: Präsident der IHK zu Flensburg

Zu Beginn dieses Jahrtausends war das „Weinhaus Braasch“ noch ein sehr kleiner Betrieb, der sich auf die langjährige Mitarbeiterin Frauke Simoleit und einige wenige Aushilfen stützte. Dank Ehefrau Yvonne und Sohn Karsten, der sich für den Einstieg ins Unternehmen entschied, hatte Walter Braasch 2003 die Rückendeckung für ein zeitintensives Ehrenamt. Insgesamt sechs Jahre fungierte er als Präsident der Flensburger Industrie- und Handelskammer. Ein Amt, das zuvor Chefs großer Firmen ausgefüllt hatten. „Der etwas andere Blick war für die IHK sicherlich nicht verkehrt, denn die meisten Mitglieder sind kleine Betriebe“, erklärt der 67-Jährige. In seiner Amtszeit ging es schwerpunktmäßig um die bauliche Erweiterung des IHK-Standortes in der Heinrichstraße, um die strukturelle Modernisierung der Kammer und um den erfolgreichen Widerstand gegen ein Expansionsbestreben der IHK Kiel, die sich die kleineren Geschwister in Lübeck und Flensburg einverleiben wollte.
Für ihre Rum-Abteilung dachten Walter und Yvonne Braasch an eine Ausstellung und forschten zur Flensburger Rum-Historie. 2005 besuchten sie sogar für vier Wochen die Karibik-Inseln Saint Thomas, Saint John und Saint Croix, die Dänemark 1917 an die USA verkauft hatte. Die beiden Flensburger waren auf den Spuren der dänischen Kolonialzeit, durchsuchten Keller, Archive und ehemalige Handelskontore nach Unterlagen und beleuchteten auch die Schattenseiten des transatlantischen Dreieckshandels, in dem neben Zucker und Rum vor allem die Sklaverei eine Rolle spielte. Eine historische Ausstellung wuchs und firmiert seit 2014 als „Braasch Rum Manufaktur Museum“. Ausgestellt werden neben einer alten Destille und etlichen historischen Flaschen auch Dokumente und Fotos der eigenen Karibik-Exkursion.
2018 wurde die „Braasch Flensburg oHG“ gegründet und damit der Übergang in die zweite Generation eingeläutet. Derzeitig beschäftigen sich Walter und Karsten Braasch intensiv mit einem Neubau. Sie haben ein Grundstück am Sophienhof gekauft und lassen auf 3000 Quadratmeter eine Halle errichten. Zum nächsten Sommer wurde das angemietete Lager in der Westerallee gekündigt. Dann sollen Lagerung und Produktion im Süden Flensburgs erfolgen.

Und was macht Walter Braasch in seiner Freizeit?

Er lächelt: „Händchenhalten mit meiner Frau!“ Sie ergänzt: „Das Geschäft ist unser Leben.“ Auf dem Tisch der Familie Braasch liegen täglich neue Ideen für das Geschäft, die Rote Straße und die Stadt Flensburg – da bleibt wenig Zeit für Hobbys. Lange wohnten sie sogar im Ensemble in der Roten Straße, inzwischen gibt es eine separate Wohnung ein paar Minuten entfernt und ein Sommerhäuschen in Dänemark. Einen Luxus gönnt sich das Paar dann doch: Es wird fast täglich gekocht und gemeinsam gegessen – mit frischer Ware vom Wochenmarkt, mit schönen Weinen und am liebsten mit der Familie oder mit guten Freunden. Walter Braasch glänzt am Herd mit einer großen Improvisationskunst. „Wenn ich Kochbücher lese, dann eigne ich mir keine kompletten Rezepte an, sondern sauge nur neue Ideen auf, die ich dann spontan abrufe.“ So macht es einer, der nie ein Studium absolvierte, aber immer rege das Leben studiert hat.

Text: Jan Kirschner
Fotos: Privat, Jan Kirschner

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