„Moin, Chef!“ Benjamin Buric erscheint im Eingangsbereich der Duburghalle und grüßt Jan Holpert. Der 51-Jährige ist der Torwart-Trainer der SG Flensburg-Handewitt. Er kümmert sich ein oder zwei Mal die Woche um Torbjörn Bergerud und Benjamin Buric. Während die Feldspieler ein Athletik-Training ohne Ball absolvieren, bewältigen die beiden Keeper ein spezielles 30-Minuten-Programm. Jan Holpert wirft die Bälle, streut Tempowechsel und Übungen ein. Automatismen werden durch Wiederholungen eingeprägt. „Wir feilen an den Stärken und verändern kleine Dinge, aber nicht ihren Stil“, betont der Mentor. Dann geht es um den nächsten Gegner. Die Angriffsspieler werden charakterisiert, ihr Verhalten bei Würfen und bestimmten Spielsituationen besprochen.
Jan Holpert schöpft aus dem Erfahrungsschatz seiner eigenen unglaublichen Karriere, die erst im Alter von 14 Jahren begonnen hatte. Als Kind bevorzugte er den Fußball, agierte als Stürmer torgefährlich. Sein älterer Bruder Fynn war da schon Handballer und stand im Kasten. „Könntest du nicht auch ins Tor gehen, dein Bruder ist doch so gut?“, fragte der Handballobmann von Glücksburg 09. Tatsächlich machte sich der Teenager bald regelmäßig auf den Weg, um vom Wohnsitz in der Flensburger Osterallee zum Training in Glücksburg zu gelangen. Es entwickelte sich eine Torwart-Generation, aber keine Keeper-Dynastie in der Familie Holpert. Vater Peter war einst Feldspieler für den Flensburger TB oder den TSV Vorwärts. Sohn Magnus wirbelt nun im A-Jugend-Rückraum der SG.
Nur rund ein halbes Jahr begab sich Jan Holpert bei Glücksburg 09 unter die Fittiche von Herluf „Shorty“ Linde, der heute bei den Zweitliga-Frauen des TSV Nord tätig ist. Sehr bald wechselte der junge Torwart zum TSB Flensburg, der damals die stärkste Jugendarbeit in der Region besaß. Einmal durfte Jan Holpert sogar mit zu einem Zweitliga-Spiel in Altjührden fahren. Nebenbei gedieh die Mittlere Reife an der Realschule Ost. Das Lieblingsfach: natürlich Sport.
Der Vater wurde als Soldat nach München versetzt. Jan Holpert, der jüngste von drei Söhnen, folgte seinen Eltern, begann eine Lehre zum Groß- und Außenhandelskaufmann und fand in der A-Jugend des TSV Milbertshofen seinen Platz. Im Kampf um die deutsche Meisterschaft reichte es bis ins Halbfinale. Der Münchner Klub zählte damals zu den etablierten Kräften der Bundesliga. Aufgrund der Verletzung eines anderen Torwarts rutschte das große Talent aus dem Norden schon am 13. September 1986 erstmals in den Kader. Als 18-Jähriger! Und dann musste Klaus Wöller, die Nummer eins, eine sechswöchige Sperre abbrummen. Für Jan Holpert die Chance, sich auszuzeichnen. Im Stadtderby zwischen Milbertshofen und Schwabing parierte der Nachwuchskeeper drei Siebenmeter.
Mit „Mil“ spielte er um die Titel. In die Serie 1989/90 waren die Süddeutschen trotz großer Erwartungen katastrophal gestartet. Frühzeitig kam Vlado Stenzel, der Weltmeister-Trainer von 1978, als neuer Coach und schaffte mit der Truppe noch den achten Platz, der die Teilnahme an den damaligen Playoffs garantierte. Plötzlich lief es, und der TSV buhlte in den Endspielen sogar um die Meisterschale. Die Krönung erfolgte mit dem DHB-Pokal. In zwei Endspielen gegen den THW Kiel wanderte der erste Titel in die Isar-Metropole. „Der Erfolg schlug nicht so große Wellen wie heutzutage“, erinnert sich Jan Holpert. „In München hatten wir eine schöne interne Feier in einer gewissen Anonymität.“
In München konnten die Handballer des TSV Milbertshofen das Zuschauer-Interesse nicht wecken, sodass der Klub für die folgenden internationalen Partien nach Augsburg auswich. So kam die Fuggerstadt 1991 in den Genuss eines Europapokal-Triumphs, als der Gast aus der bayrischen Hauptstadt den spanischen Vertreter Bidasoa Irun schlug. Jan Holpert zog dann auch nach Augsburg, wo seine damalige Freundin und heutige Frau Michaela studierte. Der Handballer wusste: „Ob man von Augsburg oder dem Münchener Süden in den Norden Münchens fährt – das tat sich zeitlich wenig.“
Der Kontakt nach Flensburg brach nie ab. In die Heimatstadt reiste der junge Mann zwei bis drei Mal im Jahr und besuchte Freunde. Vorzugsweise mit dem Zug, der länger brauchte als heute. Einen ICE gab es noch nicht. Einige Male trat er als Gast in der Handewitter Wikinghalle an. „Ein negatives Erlebnis“, schmunzelt er heute angesichts der „höllischen“ Stimmung. „Ich hatte mich in der schönen Stadt München sehr wohlgefühlt“, erinnert er sich. „Ich wäre nicht gewechselt, wenn der Verein nicht ausgestiegen wäre.“ Die Rückkehr in seine Heimatstadt Flensburg bezeichnete er stets als „Fügung“.
Am Abend des 2. Juli 1993 kam die Nachricht über das Radio: Der TSV Milbertshofen meldete sein Team aus der Bundesliga ab. Die eigentlich abgestiegene SG musste nicht den Weg in die Zweitklassigkeit antreten. Jan Holpert machte auf dem Weg in den Urlaub gerade Halt bei seinen inzwischen wieder im hohen Norden lebenden Eltern, als ihn die Nachrichten aus München erreichten. Plötzlich war er vereinslos. Sofort signalisierten Kiel und Hameln ihr Interesse – und auch die SG. Dort hatte sich eine spontane Nichtabstiegsfeier entzündet, von der sich Frerich Eilts, Sönke Voß und Dierk Schmäschke mit einem Sonderauftrag absetzten. Sie erschienen bei Familie Holpert und wollten den „verlorenen Sohn“ zurückholen. Beide Seiten wurden sich binnen Kürze einig.
Es musste alles sehr schnell gehen. So bezogen Jan Holpert und seine Michaela zunächst eine Wohnung in der Mühlenstraße. 1996 erfolgte der Umzug in ein Handewitter Neubaugebiet, wo sich die Familie sehr wohlfühlt. Zu Beginn des Jahrtausends wurden Sohn Magnus und Tochter Line geboren. Sportlich fasste der Torwart sofort Fuß und war maßgeblich am fulminanten Aufschwung der Nordlichter beteiligt. Gleich im ersten Jahr, in der Serie 1993/94, stieß die SG von Rang 16 auf die vierte Stelle vor. Ein Jahr später war bereits der Europapokal erreicht.
Im Frühjahr 1997 drang der Flensburger Handball in neue Dimensionen vor, buhlte mit dem dänischen Vertreter Virum Sorgenfri um den EHF-Cup. „Im ersten Spiel in Kopenhagen haben wir fast alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte, verloren zum Glück nur knapp“, erinnert sich Jan Holpert. „Zu Hause trumpften wir auf und lösten mit einem deutlichen Sieg überschwängliche Freude aus. Die SG war in nur kurzer Zeit in die internationale Spitze gesprungen.“ Es folgte eine einzigartige Feier vor dem Deutschen Haus.
Seitdem rollten die Titel nur so in die Geschäftsstelle. Jan Holpert war drei Mal am DHB-Pokal (2003 bis 2005), am Europacup der Pokalsieger (2001) und am internationalen City-Cup (1999) beteiligt. Der Höhepunkt definitiv 2004: Der Schlussmann hatte bis dahin fünf Vize-Meisterschaften der Nordlichter und das Gerede vom „Ewigen Zweiten“ hautnah miterlebt, dann kletterte die SG endlich auf die absolute Spitze. „Den Schlusspfiff, die Erleichterung in der Halle und die Genugtuung, es nach Jahren endlich geschafft zu haben, nehme ich noch immer wahr“, erzählt der 51-Jährige. „Es lief alles wie im Film ab. Viele Dinge sind mir aufgrund von Adre-
nalin und Anspannung nicht mehr bewusst. Am nächsten Tag trafen wir uns in der Marienhölzung. Wir waren alle total kaputt, sodass die Feier nicht mehrere Tage dauerte.“
Neben der SG gedieh die Karriere in der Nationalmannschaft. 245 Mal hütete Jan Holpert das Gehäuse der DHB-Auswahl, trug nach der Europameisterschaft 1998 Bronze am Hals. 1992, in Barcelona, erlebte er die erste von drei Olympischen Spielen. Als dritter Torwart hinter Andreas Thiel und Michael Krieter hatte er viel Freizeit, und sah sich viele andere Sportarten an. In Atlanta folgte ein siebter Rang, in Sydney Platz fünf. „Leider fehlte der große sportliche Erfolg, um aus dem größten Sportereignis der Welt auch ein persönliches Highlight zu machen“, bilanziert Jan Holpert.
Im September 2000 nahm er sich eine Länderspiel-Pause, um neben dem Handball mehr Zeit für die Familie zu finden. Ein unbefriedigendes Kurz-Comeback im Herbst 2002 gegen Österreich bildete schließlich den Schlussakkord im Nationaldress. Mit dem DHB gab es vor wenigen Jahren eine ganz neue Kooperation: Jan Holpert gehörte dem Trainer-Stab der Frauen-Nationalmannschaft an und betreute – natürlich – die Torhüterinnen. Nach der Heim-WM 2017 endete die Zusammenarbeit. „Man war lange von zu Hause weg, das wollte ich ohnehin nicht mehr so gerne“, erzählt Jan Holpert.
Er ist eine von sechs Legenden der SG Flensburg-Handewitt. Seine persönliche Bilanz beläuft sich auf 618 Bundesliga-Spiele in sagenhaften 21 Jahren, und er wurde erst kürzlich als „Rekordmann“ des deutschen Oberhauses abgelöst. Kurz vor Weihnachten 2006 gab der Keeper bekannt, seine Karriere beenden zu wollen. Mit 39 Jahren glückte ihm fast noch der ganz große Triumph: Der Sieg in der Champions League. Im April 2007 fehlten in zwei denkwürdigen Endspielen gegen den THW Kiel nur zwei Tore.
Der Abschied wurde dennoch schillernd. Die „Hölle Nord“ erlebte am 3. Juni 2007 eine Handball-Gala mit vielen alten Weggefährten. Schließlich verließ Jan Holpert um 16.41 Uhr die verdunkelte Flens-Arena. Das Transparent auf der Nordtribüne blieb noch hängen. „5113 Tage SG! Wir danken für jeden einzelnen!“
Jan Holpert fiel in kein Loch. „Vorher hatte ich mir 20.000 Mal Gedanken gemacht, was nach dem Handball kommen sollte“, erinnert sich der 51-Jährige. „Doch bereut habe ich diesen Schritt nicht.“ Nur einmal, gleich im ersten Urlaub nach dem Ende der Karriere, roch es nach einem „Rückfall“. Eines Abends meldete sich der Bewegungsdrang, der langjährige Profi schnappte sich die Laufschuhe. Seine Frau staunte: „Du musst doch jetzt nicht mehr laufen.“ Stimmt, und Jan Holpert genoss den Sonnenuntergang bei einem Getränk.
Das „Schablonen-Leben“, wie er es heute nennt, hatte ein Ende. Der Profisport und sein Spielplan geben alles vor: Hotel, Training und Essen. 21 Jahre lang hatte sich der Torwart damit arrangiert, um Höchstleistung zu bringen. „Aber schon wenige Wochen danach“, erzählt er, „konnte ich mir so ein Leben gar nicht mehr vorstellen.“ Er genoss die Freizeit fast wie eine Befreiung von einem drückenden Korsett. Was aber nicht heißt, dass er mit dem Handball nichts mehr am Hut hat. „Ich habe den sportlichen Wettkampf gesucht, wollte aber nicht groß in der Öffentlichkeit stehen“, sagt der Ex-Keeper. „Mein jetziges Leben ist lebenswert und spannend. Ich habe aber nicht vergessen, dass ich dem Handball und dem Verein viel verdanke.“
2007 war dennoch eine Zäsur. Jan Holpert spricht auch vom „Berufseinstieg mit 39 Jahren“. Er gründete seine Marketingagentur „Planwerk 66“, die sich unter demselben Dach wie die SG-Geschäftsstelle befand. Später baute er die „Strandhütte“ auf, wo er nun als stiller Gesellschafter agiert. Heute genießt der Handball wieder den höchsten Stellenwert im Alltag. Mit dem Aufbau der „Flensburg Akademie“ hatte Jan Holpert eine neue Tätigkeit gefunden. „Das Projekt hat mich sofort geflasht“, gesteht er. Nun dreht sich alles um Talentförderung, Persönlichkeitsbildung, Torwart-Training und Internat. Das SG-Urgestein knüpft Kontakte zur Wirtschaft, intensiviert die Kooperation mit Partnern und erweitert so ein Netzwerk.
Ein Dutzend junger Keeper hat Jan Holpert unter seinen Fittichen – von der C-Jugend bis zum Junior-Team. Die größte Herausforderung sieht der Altmeister in der C-Jugend, wo Basisarbeit erforderlich ist. „Die jungen Torhüter sind zumeist vom Spielsystem im Kinderhandball verhunzt“, erklärt er. „Sie haben fast nur hinter offensiven Abwehrreihen gestanden und sind von den vielen freien Würfen frustriert. Da muss ich erst einmal das Selbstwertgefühl aufbauen.“ Die Grundlagen wie Technik und Athletik seien erlernbar, meint Jan Holpert. „Das Wichtigste ist die Gier nach dem Ball. Die Stilarbeit ist dann die Basis, auf der sich die Leistungspyramide aufbaut.“

Text: Jan Kirschner, Fotos: Jan Kirschner, SG

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