Reaktivierung oder Dornröschenschlaf?

Vor 40 Jahren, mit dem neuen Sommerfahrplan der Deutschen Bundesbahn, war die Strecke von Niebüll nach Flensburg ein Opfer des Zeitgeistes geworden und verschwand aus den Kursbüchern. Sang und klanglos. Es war exakt 11.21 Uhr, als sich am 30. Mai 1981 ein dunkelroter Triebwagen mit der Zugnummer 4285 im Bahnhof von Niebüll in Bewegung setzte. Seine Front zierte ein Transparent, das zugleich das Motto war: „Letzte Fahrt nach Flensburg“.
Heute unvorstellbar, dass sich knapp 92 Jahre zuvor an derselben Trasse mehrere Volksfeste entzündet hatten. Der Fortschritt kam mit der Schiene. Am 1. Oktober 1889 bog der lange Eröffnungszug kurz nach acht Uhr an der „Nordschleswigschen Weiche“ auf den neuen Abschnitt. Die Handewitter empfingen den dampfenden Koloss mit „Hurra-Rufen“, in Wallsbüll erstreckte sich eine „hübsche Ehrenpforte über den ganzen Baukörper“, in Schafflund inszenierte die Feuerwehr-Kapelle einen „schmetternden Tusch“, und in Leck folgten die feierlichen Ansprachen, ehe Lok und die angehängten 20 Wagen nach 36,1 Kilometern bei Lindholm auf die bestehende Marschbahn nach Niebüll einfuhren.
Zeitzeugen erinnern sich an die Eisenbahn-Epoche. Kinder spazierten – unerlaubterweise – auf den Gleisen zum Bahnhof und versteckten sich hinter den Büschen, wenn eine Kontroll-Draisine auftauchte. Die alten Personenzüge hatten Holzbänke. In den Dörfern liefen parallel zu den Gleisen imposante Rampen, auf denen die Landwirte ihr Vieh in die Waggons trieben, um es auf der Marsch weiden zu lassen. Noch in den 50er Jahren fauchten Dampfloks und verschreckten Pferde und Kühe. Und die Bahnübergänge waren oft ungesichert. Nur an wenigen Orten gab es Schranken. Dann waren Bahnwärter wie Johannes Schlott im Einsatz. In Schafflund nannten sie ihn liebevoll „Hannes Dingdong“.

In den 70er Jahren fuhren dunkelrote Triebwagen durch Handewitt
Foto: Lothar Kroll

Ab den 70er Jahren kündigte sich ein Abschied auf Raten an. Zuletzt fuhren an einem Werktag nur noch sechs Triebwagen je Richtung. Am Wochenende schliefen die Gleise. Die Eisenbahn führte angesichts der fortschreitenden Motorisierung, der oft peripheren Lage der Bahnhöfe und des wachsenden Busliniennetzes nur noch ein Nischendasein. Ende Januar 1980 erteilte das Bundesverkehrsministerium der Bundesbahn-Hauptverwaltung in Frankfurt die Genehmigung den Personenverkehr einzustellen.
Die Flensburger Region und die Westküste reagierten mit Protesten. Ein Demonstrationszug rollte nach Niebüll, wo flammende Reden geschwungen wurden. Nur: Es half nichts. Die Bundesbahn-Direktion Hamburg erließ am 27. Oktober 1980, gut drei Wochen nach der Bundestagswahl, die Einstellungsverfügung. Die offizielle Begründung: „ein zu hoher finanzieller Aufwand bei niedrigen Fahrgastzahlen“. Ab Juni 1981 bewegten sich nur noch wenige Sonder- und vor allem Güterzüge über die Schienen. Auch dieser Betrieb wurde zunehmend reduziert, bis die komplette Stilllegung zum 1. März 1999 verfügt wurde.
Eine Wiederbelebung der Eisenbahn zwischen Flensburg und Niebüll wurde in den letzten 40 Jahren immer wieder diskutiert. Dazu gesellten sich immer wieder Gedankenspiele, die eine Verladestation für Autozüge nach Sylt im Flensburger Raum beinhaltete. Nur: Es tat sich nichts. Die Schienen verfielen in einen Dornröschenschlaf. Aber sie wurden nie entwidmet. Das heißt: Die Trasse existiert noch.
In der jüngeren Vergangenheit wurde es konkreter. Die Eisenbahn-Verbindung von Flensburg nach Niebüll wurde im landesweiten Nahverkehrsplan für den Zeitraum von 2013 bis 2017 als „perspektivische Maßnahme“ aufgezählt. Die Jamaika-Koalition verständigte sich 2017 auf eine „Verkehrswende“ im Sinne des Klimaschutzes. Im Koalitionsvertrag heißt es unter anderem: „Stillgelegte und noch gewidmete Bahnstrecken wie zum Beispiel die Strecke Niebüll-Flensburg werden wir im Rahmen eines Gesamtkonzeptes entsprechenden Wirtschaftlichkeitsüberprüfungen unterziehen und gegebenenfalls für einen modernen ÖPNV reaktivieren lassen, um den ländlichen Raum besser zu erschließen und so dem Trend der Landflucht verkehrspolitisch entgegenzuwirken.“

In Kiel scheint man es mit einem landesweiten Ausbau des Schienennetzes ernst zu meinen. Andreas Tietze (Grüne), Vorsitzender des Verkehrsausschusses im schleswig-holsteinischen Landtag, glaubt: „Wenn wir uns also in Schleswig-Holstein entschließen, unsere Landesmittel mit den Bundesmitteln zu verknüpfen, können wir bis zu zwei Milliarden Euro nach Schleswig-Holstein bringen.“ Das Kieler Wirtschaftsministerium ließ ein Gutachten erstellen. In diesem März wurde es vorgestellt. Es ermittelte einen Mangel an Ost-West-Verbindungen im Land zwischen den Meeren und stellte fest: „Auch für die Verbindung Flensburg-Westerland kann eine ausreichende Nachfrage prognostiziert werden.“ Unterhält man sich mit Sachkundigen, wird für die Ertüchtigung der Gleise und ihres Umfeldes sowie eine Elektrifizierung mit bis zu 100 Millionen Euro kalkuliert.
Für die Region Flensburg wird zusätzlich eine Art S-Bahn im 30-Minuten-Takt vorgeschlagen – mit Stationen am ZOB, am Deutschen Haus, am zukünftigen Krankenhaus, am Bahnhof, bei den Berufsschulen an der Exe, in Weiche und in der Gartenstadt. Für das Umland sind Haltepunkte in Handewitt, Unaften, Wallsbüll und Schafflund angedacht.
Es gibt einen ernsthaften Interessenten für den Betrieb: Die „Norddeutsche Eisenbahn Niebüll GmbH“, kurz NEG. Dieses Tochterunternehmen der Luxemburgischen Staatsbahn befördert rund 400.000 Fahrgäste im Jahr, und zwar zwischen Niebüll und Dagebüll sowie von Niebüll nach Tondern. Seit einigen Jahren befindet sich ein „Projekt Flensburg“ in der Schublade. Die NEG glaubt an ein solides Geschäft auf dem Lückenschluss zwischen Nordund Ostsee.
Völlig unklar erscheint ein Endpunkt in Flensburg. Die NEG träumt davon, alle Züge zu einem neuen, dreigleisigen Haltepunkt auf Höhe des Flensburger ZOB zu führen – um möglichst dicht ins Stadtzentrum vorzudringen. Diese Idee erzeugt allerdings regen Widerspruch. Die Stadt möchte den dafür nötigen Bahndamm gerne in einen Radweg verwandeln und den heutigen Bahnhof samt Umfeld aufwerten. Die Umlandgemeinden haben sich bislang noch nicht zu einer Reaktivierung positioniert. In Handewitt beraten die Fraktionen, in Wallsbüll wurde ein Arbeitskreis initiiert, und in Schafflund wurde die Thematik an den Finanzausschuss verwiesen. Wohnbebauungen bis ans Gleis, demontierte Bahnübergänge und Sorgen um den Busverkehr stehen einem Eisenbahn-Comeback entgegen. Man darf gespannt sein…

Text und Fotos: Jan Kirschner

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