Auf den Spuren von Ikarus

Es gab viele Abende auf dem ostpreußischen Gutshof Wargenau, aber dieser entfachte einen Traum: Die achtjährige Beate Köstlin lauschte ihrem deutlich älteren Bruder Ulrich, der eine Sage erzählte. Sie hörte erstmals vom übermutigen Ikarus, der zu nah an die Sonne flog und ins Meer stürzte. Das Kind war fasziniert von der Geschichte – und von der Idee des Fliegens. So sehr, dass es Hühnerfedern sammelte und erste „Flugversuche“ unternahm. Dann bastelte der Stellmacher des Gutshofes aus Latten und Drachenpapier Flügel. Die kleine Beate kletterte auf das Verandadach und landete unsanft im Kiesbett. Die Prellungen und blauen Flecken stoppten die Euphorie nicht, die Charles Lindbergh weiter fütterte. Der US-Pionier hatte 1927 in einer Maschine den Atlantik gequert. Auch in Ostpreußen war er die Hauptfigur so mancher Schulgedichte.
Als erwachsene Frau sollte Beate Köstlin einmal den Erotik-Konzern „Beate Uhse“ gründen. In ihrer Jugend wollte sie unter keinen Umständen in die Fußstapfen ihrer Eltern treten. Landwirtschaft und Medizin reizten nicht. Der Traumberuf hieß Pilotin. Die kleine Beate erntete viel Widerspruch im konservativen Umfeld. Sie flüchtete auf den Schoß ihres Vaters und erzählte ihm, dass die Leute meinten, sie könne nicht Pilotin werden, weil sie ja nur ein Mädchen wäre. Der Vater beruhigte: „Euch Mädchen haben wir so lieb wie euren Bruder. Wenn du etwas wirklich willst, dann wirst du es können.”
Im Sommer 1932 war Beate Köstlin erstmals über den Wolken unterwegs. Zwei junge Männer starteten von einem Stoppelfeld des väterlichen Gutes zu Touristen-Rundflügen über Ostpreußen. Einmal nahmen sie die junge Flug-Enthusiastin mit, die wenige Wochen später in der „Schule am Meer“ auf Juist anfing. Die Nordseeinsel wurde auf dem Luftweg mit Fracht und Post versorgt. Die Flugzeuge gingen auf dem weitläufigen Strandabschnitt vor der Bildungsstätte nieder. Beate Köstlin genoss den wiederholten Anschauungsunterricht.

1932 lief auch der Film „F.P. 1 antwortet nicht“ mit Hans Albers in der Hauptrolle und dem bekannten Flieger-Lied in den deutschen Kinos an. Beate Köstlin soll sich den Streifen gleich sechs Mal angeschaut haben. Sie ließ nie locker, und der Zufall spielte mit: Während einer Reise nach Berlin lernte ihr Vater den Motorflug-Referenten des „Deutschen Aero-Clubs“ kennen, erzählte ihm von seiner „flugverrückten“ Tochter und stieß auf offene Ohren. Schon bald steckte Informationsmaterial über die Pilotenausbildung im Briefkasten. Am 7. August 1937 hatte Beate Köstlin ihre erste Flugstunde – in Rangsdorf, 30 Kilometer südlich vom Berliner Stadtzentrum. Schon drei Wochen später, nach 74 Schulflügen, saß sie erstmals allein im engen Cockpit einer „Heinkel 72“. In Steppmontur und mit Lederkappe bewegte sie die Maschine über die Kiefernwälder und Seen der Umgebung. In ihren Memoiren schrieb sie: „Ich fühlte mich total sicher, empfand keine Angst. Es war wie in einer anderen Welt.“ Mit einem Solo-Überlandflug über Magdeburg, Halle und Leipzig schloss Beate Köstlin die erste Etappe ihrer Ausbildung ab und erhielt an ihrem 18. Geburtstag ihren Flugzeugführerschein A2. Den Autoführerschein hatte sie ein halbes Jahr später in der Tasche. Das zu den Prioritäten.
Dem Flugplatz in Rangsdorf war nicht nur die Fliegerschule angegliedert, sondern auch das Betriebsgelände vom „Bücker Flugzeugbau“, der sich auf Sport- und Schulungsflugzeuge spezialisiert hatte. Carl Clemens Bücker vertraute seine Fabrikate früh auch weiblichen Piloten an. Beate Köstlin war seine Nummer drei als Einfliegerin und hatte die Funktionen der serienmäßigen Flugzeuge zu prüfen: Trimmung, Drehzahl, Öldruck.
Ab November 1937 arbeitete die gebürtige Ostpreußin als Praktikantin. Für 132 Mark im Monat. Sie durchlief alle Bereiche der Firma. In der Produktion und Konstruktion war sie unter 2000 Arbeitern und Monteuren die einzige Frau, galt schnell als „Mannweib“. Im Zeugnis stand davon allerdings nichts: „Sie zeigte zu jeder Zeit Geschick, gute Auffassungsgabe und Fleiß, sodass wir mit ihrer Arbeit in jeder Hinsicht sehr zufrieden waren.“ Noch wichtiger: Beate Köstlin schaffte es während dieser Zeit bis zum Flugschein der Klasse B1.

Die Novizin hatte Glück. Einer der etablierten Einflieger vom „Bücker Flugzeugbau“ musste für mehrere Monate nach Japan. Die Chance für Beate Köstlin. Mit 19 Jahren strich sie bereits ein Gehalt von 1500 Mark ein und flog häufiger mit einer neuen Jungmeister-Maschine in die Nachbarländer. So wurde sie am 20. August 1938 vom Werk aus mit einem „Einsitzer“ ins dänische Svendborg geschickt, um das Flugzeug dort vorzuführen. Die junge Pilotin landete auf einem Feld der kleinen Insel Thurö, während auf der anderen Seite des Svendborg sunds die letzten Vorbereitungen für ein Volksfest liefen. Ruderregatten und Wasserkämpfe lockten 15.000 Menschen an. Beate Köstlin war in ein 45-Minuten-Programm involviert. Mit der „Jungmeister“ zeigte sie über der Strandpromenade manche Kunststücke, brachte dabei aufsteigende Luftballons zum Platzen, und bewarf ein Motorboot mit Mehlbomben. Für die erste Kunstflug-Vorführung in Svendborg erhielt der Gast aus Deutschland beim abendlichen Empfang einen Silberteller von der Stadtverwaltung. „Die Dänen freuten sich sehr, dass sich Deutschland gerade für ihr Fest so eingesetzt hatte“, schrieb Beate Köstlin in einem Bericht.
Sie war für diese besondere Mission genau die richtige Kandidatin, weil sie in ihrer Freizeit weiterhin die Rangsdorfer Fliegerschule besuchte. Erst einen Tag vor dem Dänemark-Trip hatte sie die Kunstflugprüfung K1 abgelegt. Bereits Ende Juli 1938 hatte sie mit einer „Klemm 35“ an einem Sternflug ins belgische Kortrijk teilgenommen und war als Viertplatzierte zum Bankett ins Rathaus von Brüssel geladen worden.
Am 16. Mai 1939 war auch die Prüfung „K2“ geschafft. Drei Monate später platzierte sich Beate Köstlin bei einem viertägigen Küstenflug mit einer „Bücker Student“ auf dem dritten Rang unter den Sportfliegerinnen – trotz der Startnummer 13. Die Aufgaben waren sehr vielfältig. Die Flugplätze in Hamburg-Fuhlsbüttel und auf Fehmarn waren zu genau vorgeschriebenen Zeiten zu überfliegen. Im Wattenmeer musste ein notgelandetes Flugzeug geortet werden. Bei Regenschauer und Gewitter musste über Wyk ein sogenannter Meldebeutel abgeworfen werden.
In ihren Terminkalender trug Beate Köstlin immer häufiger den Namen von Hans-Jürgen Uhse in „Rot“ ein. Sie war erst 18 Jahre alt, als sie den elf Jahre älteren Kunstfluglehrer kennenlernte. Mit Kunstflugstunden war es bald nicht mehr getan. Es folgten Einladungen zu Radtouren, ins Kino oder zum Essen. Bei einem Spaziergang küsste sich das Paar erstmals, agierte in der Öffentlichkeit aber weiterhin vorsichtig. „Fräulein Köstlin“, sagte Hans-Jürgen Uhse. Eine Affäre mit einer Flugschülerin hätte rufschädigend sein können. Beate Köstlin wohnte in Rangsdorf im Kurparkring 93, ihr Freund ein paar Straßen weiter. Dort trafen sie sich an den Abenden, redeten und kuschelten. Sie hatte mit ihm das erste Mal Sex. „Ich fühlte mich genommen, gebraucht, geborgen und getröstet“, erzählte sie Jahre später. Damals radelte sie – wie immer – um 22 Uhr nach Hause. Hans-Jürgen Uhse stellte mehrere Heiratsanträge, seine Angebetete lehnte wiederholt ab. Sie wollte nicht wegen eines Mannes das Fliegen aufgeben. Sie lenkte ein, als ihr Zukünftiger die volle Unterstützung bei ihren fliegerischen Ambitionen versprach. Doch nun stellte sich ihr Vater quer. Nach der Vorstellung von Hans-Jürgen Uhse in Ostpreußen verweigerte der Senior die Einwilligung. „Ich will Schnott und Tränen nicht sehen, wenn mal etwas passiert“, soll er gesagt haben. Zudem hatte er wohl auf einen Nachfolger für das Gut gehofft.

Schließlich wurde die Hochzeit auf den 10. Oktober 1939 festgesetzt. Doch der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zerstörte die Planungen. Hans-Jürgen Uhse erhielt am Morgen des 28. Septembers den Gestellungsbefehl als Ausbilder bei der Luftwaffe. Bereits am Nachmittag hatte er sich in Magdeburg zu melden. Eine sogenannte Kriegstrauung musste reichen – vier Stunden vor der Abreise. Das Standesamt in Dahlewitz stellte fest, dass beide Ehepartner „deutschblütig“ wären. Als Treuzeugen wurden ein Werksmeister und eine Stenotypistin aus Rangsdorf gewonnen. Dann hatte die Braut ihren später so berühmten Namen: Beate Uhse. Das „Festessen“ in der Werkskantine bestand aus Erbsensuppe und Bier. Auf dem Rollfeld gab es den letzten Kuss.
Die „Blitz-Hochzeit“ brachte zumindest ein paar Privilegien. Als verheirateter Soldat erhielt Hans-Jürgen Uhse Ende Oktober 1939 sechs Tage Urlaub. Die kirchliche Trauung ließ sich nachholen. Diesmal mit richtigem Hochzeitsmahl: ein ostpreußischer Entenbraten. Das junge Paar wohnte weiterhin in Rangsdorf, zog in der Groß Machnower Straße 509 zusammen. Ein Haus mit Garten und Telefon. Die Eltern schenkten Möbel. Der Krieg diktierte nun den Lebensrhythmus. Hans-Jürgen Uhse kam immer tageweise aus Warschau oder Posen heim.
Seine Ehefrau flog weiter – und ergatterte sogar einige Film-Jobs. Eines Tages hatte der Aufnahmeleiter des Film unternehmens „UFA“ beim „Bücker Flugzeugbau“ angerufen. Er brauchte einen Piloten für eine Flug-Szene. Die Wahl fiel auf Beate Uhse. Sie war klein genug, um im vorderen Sitz die Maschine unauffällig zu steuern, während hinter ihr der Schauspieler den Piloten mimte. Angeblich soll sie beim Abenteuerfilm „Wasser für Canitoga“ (1939) für Hans Albers geflogen haben. Gesichert sind indes das Mitwirken in den nationalsozialistischen Propagandafilmen „D III 88“ (1939) und „Achtung! Feind hört mit!“ (1940). „Ich meisterte das Manöver, aber nur in der Realität“, schrieb die Stunt-Pilotin in ihrer Autobiografie. „Im Film verfing sich der Böse in den Drahtseilen, er stürzte ab. Das Gute hatte über das Böse gesiegt.“ Pro Drehtag gab es angeblich 600 Mark.
Zum April 1941 wechselte Beate Uhse zum „Flugzeugreparaturwerk Alfred Friedrich“ in Strausberg. 35 Kilometer nordöstlich von Berlin wurden bis zu 45 Maschinen im Monat instandgesetzt. Für die Pilotin bedeutete das eine ständige Bereitschaft und oft zweistündige S-Bahn-Fahrten von Rangsdorf nach Strausberg. Wenn Ehemann Hans-Jürgen Urlaub hatte, begleitete er sie bei den Überführungen nach Wien, Budapest oder Prag. Im Zug ging es dann gemeinsam heim – bis zum Frühjahr 1943. Beate Uhse war hochschwanger. Am 11. Mai 1943 wurde Sohn Klaus geboren. Es folgten ein längerer Aufenthalt auf dem Gut Wargenau und eine Baby-Pause in Rangsdorf.
Im Februar 1943 rief Propagandaminister Joseph Goebbels den „totalen Krieg“ aus. Die letzten Kräfte wurden gebündelt. Beate Uhse gehörte bald dem „Überführungsgeschwader Mitte“ in Berlin-Tempelhof an. Sie war nun Hauptmann der Luftwaffe. „Als Deutscher tat man seine Pflicht für sein Land in diesem schlimmen Krieg“, erklärte sie später. Laut Aktenlage war sie nie NSDAP- Mitglied gewesen, sondern eher ein unpolitischer Mitläufer. Sie war beeindruckt vom Bau der Autobahnen, dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und den Olympischen Spielen von 1936. Und mit Stolz trug sie als eine von nur fünf Frauen eine eisblaue Offiziersuniform der Luftwaffe. Die junge Frau konnte nun Modelle fliegen, an die sie als Sportfliegerin nie herangekommen wäre. Die neue Aufgabe, Flugzeuge an die Front zu bringen, war aber nicht ungefährlich. Oft ging es knapp über die Baumkronen, um sich vor den feindlichen Jägern zu verstecken. Beate Uhse erlebte drei Notlandungen, die schwierigste mit dem Jagdflugzeug Focke-Wulf 190. Über Stendal war die komplette Elektrik ausgefallen. Die Pilotin schaffte es, mit ausgefahrenem Fahrwerk und ohne Landeklappen aufzusetzen. Doch die Landebahn war für diesen Notfall zu kurz. Die Maschine überschlug sich schließlich in einem Kartoffelfeld und pflügte rücklings durch die Erde. Beate Uhse trug gebrochene Rippen und eine Gehirnerschütterung davon.
Das war aber nichts gegen einen privaten Schicksalsschlag. Am 29. Mai 1944 sollte Ehemann Hans-Jürgen von Braunschweig aus amerikanische Bomber angreifen. Doch beim Startvorgang kostete ihn ein Zusammenstoß das Leben. Die Witwe stand nun allein da mit einem einjährigen Kind. Zumindest war sie nicht mittellos: Ihr verstorbener Mann hinterließ einen Erbschein im Wert von 20.000 Mark. Sie selbst flog weiter und beschäftigte die Säuglingsschwester Hanna, die Kind und Haus in Rangsdorf hütete.
Ab Oktober 1944 war Beate Uhse in Berlin-Staaken stationiert. Wenige Wochen später überführte sie eine „Messerschmitt Bf 109 G“ nach Aalborg und stoppte dabei sogar in Flensburg, das – was sie noch nicht wissen konnte – keine vier Jahre später zur Wahlheimat werden wollte. Im Januar 1945 brachte die Luftwaffen-Pilotin eine „Focke-Wulf Fw 190“ nach Gotenhafen (Gdynia) und schaute in Wargenau vorbei. Sie hatte Blanko-Tickets für ihre Eltern dabei, die aber nicht zu überreden waren, das Gut zu verlassen. Es war das letzte Wiedersehen. Der Vater wurde von russischen Soldaten erschossen, die Mutter verlor den Lebensmut und starb wenig später entkräftet.
In den nächsten Wochen flog Beate Uhse weiterhin Aufklärer, Jagdbomber, Nachtjäger und zuletzt sogar die vermeintliche „Wunderwaffe“, den Stahljäger „Messerschmitt Me 262“, an die Front. Der Job wurde immer schwieriger. Anfang Februar 1945 dauerte eine Überführung von Flensburg nach Aalborg 45 Minuten, die Rückfahrt mit dem Zug 50 Stunden. Gegnerische Bomber hatten die Bahnstrecke zerstört.

Am 21. April 1945 kehrte Beate Uhse am Vormittag von einem Überführungsflug aus Leipzig nach Staaken zurück. Die Russen befanden sich inzwischen nur noch unweit von Berlin. Das Flieger-Geschwader musste gen Nordwesten verlegt werden. Die Pilotin kämpfte sich zu Fuß nach Rangsdorf durch, um Sohn Klaus und Kindermädchen Hanna abzuholen. Sie packte die nötigsten Klamotten in den Rucksack. Das Trio drängte sich in überfüllte S-Bahnen und marschierte durch Wälder zum noch offenen Flugplatz Gatow. Dort stand in einem Hangar ein vergessenes ziviles Reiseflugzeug (Siebel Fh 104), behangen mit einem Schild: „Unklar“.
Ein zurückgelassener Bordmechaniker half, die Maschine startklar zu machen, während Beate Uhse das Bedienungshandbuch las: Einen solchen Typen hatte sie noch nie geflogen. Mit zwei Verwundeten, ihrem Sohn, dem Kindermädchen und dem Bordmechaniker startete die Pilotin am 22. April um 5.55 Uhr und landete nach 35 Minuten im pommerischen Barth, wo sie ihre Staffel wiedertraf. Vier Tage später ging die Flucht weiter: Zunächst ins überfüllte Lübeck, dann weiter nach Nordwesten.
Der Tross dachte über Flensburg nach, verwarf diesen Plan jedoch wieder, da sich die politische Großwetterlage radikal geändert hatte. Die Fördestadt im hohen Norden war gerade Sitz der geschäftsführenden Regierung um Karl Dönitz geworden und schien zu unsicher zu sein. Etwa 30 Kilometer weiter gen Westen gab es den nächsten Flugplatz: Leck. Dort traf Beate Uhse am 30. April 1945 um exakt 20.25 Uhr mit ihrem Gefolge ein. 2000 Soldaten waren bereits in der nordfriesischen Kleinstadt gestrandet. Lediglich zwei Baracken dienten als Notquartier. Am 8. Mai tauchten drei britische Panzerspähwagen auf dem Flugplatz auf. Der Krieg war beendet. Alle Soldaten waren nun Kriegsgefangene und durften fortan weder telefonieren, schreiben oder das Lager verlassen. Beate Uhse war mittendrin.

Text: Jan Kirschner
Fotos: Privat

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