Luftretter über Flensburg und Schleswig-Holstein
Die Sonne scheint und auch zu Corona-Zeiten halten sich viele Flensburger und Touristen rund um den Hafen auf. Lauter werdende Geräusche lassen einige Spaziergänger nach oben in den Himmel schauen. Aus Richtung Norden nähert sich in einer Rechtskurve ein Hubschrauber. Kurz darauf ist die rotweiße Lackierung zu erkennen, es handelt sich um den in Niebüll stationierten Rettungshubschrauber Christoph Europa 5. Kein seltener Gast, teilweise mehrmals täglich fliegt die Besatzung die Klinik inmitten der Flensburger Innenstadt an, bringt Patienten oder holt diese für Verlegungen in andere Kliniken ab. Seit wenigen Monaten sind die Niebüller Luftretter mit einer nagelneuen Maschine unterwegs.
Wir haben die Station der DRF Luftrettung in Niebüll besucht und die Besatzung einen Tag lang bei ihrer Arbeit begleitet.
Dienstagmorgen, 6.45 Uhr, die Sonne geht auf, ebenso das schwere, große Rolltor des Hubschrauberhangars unmittelbar neben dem Niebüller Krankenhaus. Wenige Meter weiter steht Jürgen Voiß, Pilot und Stationsleiter, in seiner Hand eine unscheinbare gelbschwarze Fernbedienung. Den Daumen fest auf den oberen Knopf gedrückt schiebt sich die Plattform aus dem Inneren des Hangars nach draußen. Auf ihr steht er, der nagelneue Hubschrauber vom Typ Airbus H145 D2. Ein Wunderwerk der Technik und im Vergleich zum Vorgänger für die Niebüller Einsatzkräfte ein Quantensprung. Von Sonnenaufgang (im Sommer frühestens ab 7 Uhr) bis Sonnenuntergang ist Christoph Europa 5, wie der Funkrufname lautet, einsatzbereit.
Neben dem Piloten besteht die Besatzung des Rettungshubschraubers aus einem Notarzt, der hinten in der Kabine Platz nimmt und einem sogenannten HEMS TC, ein ausgebildeter Notfallsanitäter mit Zusatzqualifikationen, die ihn zu einer Art Co-Pilot machen. Der HEMS TC sitzt links neben dem Piloten und unterstützt diesen während des Fluges unter anderem bei der Kommunikation mit der Leitstelle, der Navigation und der Beobachtung des Luftraumes. Ein eingespieltes Team, jedes der drei Besatzungsmitglieder weiß was wann zu tun ist, Vertrauen und Verlässlichkeit sind auch in schwierigen Einsatzlagen eine wichtige Grundlage. An diesem Tag sind als Notarzt Dr. Torsten Burow und als HEMS TC Gunnar Wegner an Bord.
Maschine und Ausrüstung sind kontrolliert und einsatzbereit, pünktlich um 7 Uhr greift Pilot Voiß zum Telefon, wählt die Nummer der Rettungsleitstelle in Harrislee. „Das Wetter ist gut, wir sind einsatzbereit“, so die Info an den zuständigen Disponenten, der ab sofort bei Notfällen oder Verlegungen auf die fliegenden Retter zurückgreifen kann. „Wir wissen morgens nie was uns erwartet“, berichtet Dr. Torsten Burow, „das Einsatzspektrum ist vielfältig, wir werden gerufen um Patienten von einer Klinik in eine andere zu verlegen, fliegen zu schweren Unfällen oder lebensbedrohlichen Erkrankungen, und das im Norden Schleswig-Holsteins, sowie im benachbarten Dänemark.“ Dabei spielt es keine Rolle, wo sich der Patient befindet. „Ist der Landeplatz ausreichend groß, so können und dürfen wir im Ernstfall nahezu überall landen“, erläutert Pilot Jürgen Voiß, „die meisten Klinken, wie zum Beispiel in Flensburg, haben Landeplätze für Hubschrauber, aber bei Notfällen, sogenannten Primär einsätzen, kommt es auch vor, dass wir plötzlich in einem großen Garten oder auf einer Kreuzung stehen um das medizinische Personal schnellstmöglich zum Patienten zu bringen.“
Bevor es an diesem Tag so richtig ernst wird, steht das obligatorische, gemeinsame Frühstück auf dem Programm. „Kameradschaft und somit auch gemeinsame Mahlzeiten sind hier bei uns auf der Station für alle sehr wichtig“, berichtet Notfallsanitäter Gunnar Wegner, „das schweißt zusammen und ein gutes Frühstück ist ohnehin nicht die schlechteste Grundlage für einen besonders im Sommer oft langen Arbeitstag.“ Dass gemeinsame Mahlzeiten nicht immer möglich sind, wird wenige Minuten später deutlich. Pilot Jürgen Voiß schmiert sich gerade etwas Marmelade auf ein Brötchen, als ein lautes Piepen den Raum erhellt. Alle drei Besatzungsmitglieder greifen an ihren Gürtel, es sind die Funkmeldeempfänger, die ausgelöst haben, für die Besatzung kündigt dies den ersten Einsatz des Tages an. „Wir fliegen auf die Insel Föhr“, so Pilot Voiß, der bereits schnellen Schrittes nach draußen aufs Vorfeld zur Maschine eilt um die Triebwerke anzulassen. Alles geht ganz schnell, keine zwei Minuten später hebt der Hubschrauber ab, zwei Triebwerke mit je 828 PS Leistung treiben die H145 hinaus ins Wattenmeer. Hinter uns die aufgehende Sonne, einige hundert Fuß unter uns die Fähren zu den nordfriesischen Inseln. „Über Bordfunk tauschen sich Notarzt Burow und Notfallsanitäter Wegner über die wenigen Infos aus, die sie im Vorfeld erhalten haben. Verdacht auf Schlaganfall, Patient männlich, 85 Jahre alt, Zielkrankenhaus Flensburg. Mit bis zu 260 km/h geht es auf direktem Weg nach Föhr, keine neun Minuten später setzt Pilot Voiß bereits zur Landung auf dem kleinen Flugplatz der Insel an. Rettungswagen und Notarzt erwarten die Luftretter bereits. Insel- und Hubschraubernotarzt führen eine schnelle Übergabe durch, Pilot Voiß unterstützt seine Besatzung, bereitet die Trage vor um den Patienten kurz darauf umzulagern.
Während des gesamten Fluges überwacht Notarzt Burow die Vitalwerte des Patienten. „Hier im Hubschrauber steht uns alles zur Verfügung, was wir auch bodengebunden im Rettungswagen hätten, großer Vorteil, wir sind deutlich schneller und der Transport ist für den Patienten schonender“, so der 66-jährige Notarzt und Chefarzt des Niebüller Krankenhauses, „besonders von den nordfriesischen Inseln und Halligen ist die Luftrettung das Maß aller Dinge, mit Rettungswagen und Fähre sind die Patienten stundenlang unterwegs, wir hingegen sind keine 20 Minuten nach dem Start auf Föhr in der Notaufnahme der Diako in Flensburg.“
So auch an diesem Tag, keine Wolken, kaum Wind, beste Sichtverhältnisse. „Ideales Flugwetter“, so Voiß, „das kennen wir hier oben an der Küste auch anders. Dichte Wolken oder Nebel bremsen uns auch öfter einmal aus, dann können wir nicht starten oder landen.“ Von Westen aus kommend wird die Silhouette rund um den Flensburger Hafen größer und größer, Segelboote sind auf dem Wasser zu erkennen, Pilot Voiß beginnt mit dem Anflug auf den Dachlandeplatz der Diako inmitten der Stadt. Passanten recken neugierig die Köpfe gen Himmel. Auch wenn der Anblick und vor allem die Geräuschkulisse der startenden und landenden Hubschrauber in Flensburg an der Tagesordnung sind, so weckt ein Hubschrauber doch immer wieder das Interesse der Menschen. „Unsere neue Maschine ist etwas größer als der Vorgänger, doch auch leiser“, so Voiß, „wobei auch die modernen Hubschraubermuster immer noch ordentlich für Aufsehen sorgen.“
Der Patient wird an die behandelnden Ärzte im Schockraum übergeben. Mit dem Fahrstuhl geht es wieder hoch aufs Dach der Diako. Christoph Europa 5 meldet sich wieder frei, es soll zurück nach Niebüll gehen. Doch daraus wird nichts. In der Luft meldet sich die Leitstelle. Ein 82-jähriger Mann ist in Brodersby an der Schlei bei Bootsarbeiten von einer Leiter gestürzt. Erster Verdacht, schweres Schädel-Hirn-Trauma. Bodengebunden sind bereits ein Rettungswagen und ein Notarzt ausgerückt, der Hubschrauber soll einen schnellen und schonenden Transport ermöglichen und wird ebenfalls zum Einsatzort geschickt. „Ein Primäreinsatz“, erläutert Pilot Voiß über Bordfunk, „bedeutet, dass wir uns dort erst einmal einen geeigneten Landeplatz suchen müssen.“
Während der fast 20minütigen Flugzeit meldet sich die Leitstelle: „Die Polizei ist vor Ort und sperrt den Platz vor der Bootshalle, dort könnt ihr landen.“ Minuten später erreichen Voiß und seine Besatzung den Unfall ort, auch die Polizei ist aus der Luft schnell ausfindig gemacht. „Das passt nicht“, sagt Voiß, „die neue Maschine ist einfach zu groß und erzeugt zu viel Abwind, so dass dort lose Gegenstände umherfliegen und die Maschine beschädigen könnten.“ Voiß dreht ab, eine große Koppel, etwa 300 Meter vom Einsatzort entfernt ist für die Landung besser geeignet. Die Einsatzkräfte der Polizei eilen zum Landeplatz und nehmen Burow und Wegner auf, fahren die beiden im Streifenwagen direkt in die Bootshalle, in der der schwerverletzte Mann bereits von Rettungsdienst und Notarzt versorgt wird. Der Mann ist bewusstlos, muss intubiert und künstlich beatmet werden, sein Zustand äußerst kritisch. „Lasst uns zusehen, dass wir schnellstmöglich nach Flensburg in die Klinik kommen“, so Burow zu seinen Kollegen. Neben der Behandlung des Patienten muss auch die Ehefrau betreut werden, Polizei und Rettungsdienst versuchen sie zu beruhigen.
Per Telefon wird der Diako der Patient angekündigt, dort starten umgehend Vorbereitungen für die Ankunft der Luftretter. Kurz darauf ist der Patient transportfähig, mit dem Rettungswagen geht es zum Landeplatz, alle packen mit an, der Schwerverletzte wird umgeladen und in den Hubschrauber geschoben. Dieses Mal sitzt nicht nur Notarzt Burow hinten beim Patienten, auch Notfallsanitäter Wegner hat dort Platz genommen um unterstützen zu können. Elf Minuten nach dem Start an der Schlei taucht vor Christoph Europa 5 erneut der Flensburger Hafen auf, Sekunden später setzt die Maschine auf dem Dach der Klinik auf. Krankenhauspersonal erwartet die Crew und den Patienten, hier läuft alles Hand in Hand. Übergabe im Schockraum, die Klinikärzte übernehmen, kämpfen um das Leben des Patienten.
Über der Stadt auf dem Dach der Diako klingelt das Handy von Pilot Jürgen Voiß. Die Leitstelle. „Es gibt sie, diese Tage, an denen wir von einem Einsatz direkt in den nächsten eilen“, so Voiß, der parallel mit dem Piepen des Funkmeldeempfängers Notarzt und HEMS TC über den Folgeeinsatz informiert. Zielort dieses Mal, Silberstedt. Während des Fluges erreichen die Besatzung weitere Informationen. „Patient 25 Jahre, Herz-Rhythmus-Störung, die Polizei erwartet euch auf dem nahegelegenen Sportplatz, bringt euch dann zur Einsatzstelle“, so der Disponent der Leitstelle. „Ein dankbarer Landeplatz“, so Voiß, „Sportanlagen sind aufgrund der Größe und wenigen Gegenständen, die aufgewirbelt werden können, oft ideal.“ Nach der Landung steigt der medizinische Teil der Crew in den Streifenwagen, mit Blaulicht geht es zum Patienten, wenige hundert Meter entfernt wartet dieser bereits in einem Rettungswagen. Pilot Voiß bleibt bei seiner Maschine, beantwortet Fragen von Schaulustigen und Anwohnern. „Wir bleiben meist nicht lange unentdeckt“, lächelt Voiß, „aber bisschen Eigenwerbung ist auch immer gut.“ Nach rund 15 Minuten kehrt Notarzt Burow zurück: „Der junge Mann ist soweit stabil und kann im Rettungswagen nach Schleswig in die Klink gefahren werden, wir sind wieder frei.“
Es ist mittlerweile 12.30 Uhr – Kurs Niebüll – die Besatzung plant gerade das gemeinsame Mittagessen als sich erneut die Leitstelle meldet. „Allergische Reaktion nach Wespenstich“, so die Info, eine junge Frau klagt über Atemnot, der Notarzt am Boden bereits im Einsatz. Notfallort eine Ortschaft in der Nähe von Niebüll. Polizei und Rettungswagen sind ebenfalls alarmiert, doch als Pilot Voiß zur Landung ansetzt ist zu erkennen, dass die Besatzung von Christoph Europa 5 zuerst am Einsatzort eintrifft. Schnell stellt sich heraus, dass die junge Frau weniger unter allergisch bedingter Atemnot, als unter psychischen Problemen leidet. „Die Patientin wird durch den Rettungsdienst in eine Klinik gebracht, dort wird man ihr sicher helfen können“, erklärt Notarzt Burow.
Den Nachmittag über bleibt es ruhig. Zeit sich den Hubschrauber einmal genauer anzuschauen. „Außen und innen hat sich einiges getan, nahezu alles ist anders, irgendwie aber doch gleich, nur wesentlich durchdachter“, schwärmt Voiß, der zuvor in Niebüll viele, viele Jahre auf einer BK117 geflogen ist. „Während bei der BK117 nahezu alle Instrumente analog waren, hat nun das digitale Zeitalter begonnen“, so Voiß, „große Monitore zeigen alle wichtigen Flug- und Maschinendaten an. Der Hubschrauber verfügt zum Beispiel über ein Wetterradar, welches Gewitterzellen, Hagel, Starkregen uvm. anzeigen kann. Präzise Navigationsinstrumente erleichtern unsere Arbeit ebenso wie eine Hinderniserkennung oder ein moderner 4-Achsen-Autopilot, der ermöglicht, dass der Hubschrauber über alle Achsen automatisch gesteuert werden kann. Höhe, Geschwindigkeit, Kurs oder das Halten einer exakten Position kann der Computer für einen übernehmen.“
Auch die Triebwerke mit jeweils 828 PS sind leistungsstärker als bei der in die Jahre gekommenen BK117. Beim Ausfall eines Triebwerkes kann die Maschine mit dem verbliebenden noch sicher gelandet werden. Geringerer Kraftstoffverbrauch sorgt bei größeren Tanks für mehr Reichweite und rund 3 Stunden Flugzeit. Bei der Landung unterstützt den Piloten eine Heckkamera, die insbesondere bei Außenlandungen auf unbekanntem Terrain zusätzliche Sicherheit bietet. In Puncto Sicherheit sticht auch das Heck des Hubschraubers heraus, er verfügt um einen vollummantelten Heckrotor.
„Nicht nur für den Piloten hat sich einiges getan“, berichtet Gunnar Wegner, „auch für die Kabinenbesatzung und den Patienten ist vieles wesentlich angenehmer und durchdachter geworden.“ Schiebetüren auf beiden Seiten sorgen für schnellstmöglichen Zugang zum Hubschrauber, der geräumige Innenraum mit optimal positionierter medizinischer Ausrüstung lässt Notarzt und Notfallsanitäter auch beim Flug direkt am Patienten arbeiten. „Wir können einige Geräte über Schienen an der Decke so verschieben, dass wir optimal arbeiten können“, so Wegner, „auch die Sitze sind drehbar und so angeordnet, dass beide Besatzungsmitglieder uneingeschränkt wirken und agieren können. Ebenfalls neu ist die Trage, die gemeinsam explizit für die Hubschrauber der DRF entwickelt worden ist.“
Der Nachmittag bringt auch Zeit für Büroarbeit und Einsatzberichte. „Alles muss genau erfasst und dokumentiert werden“, erklärt Notarzt Dr. Torsten Burow, „das ist bei der Luftrettung genau so wie im bodengebundenen Rettungsdienst.“ Bis Sonnenuntergang kann Christoph Europa 5 Einsätze fliegen, eine Erlaubnis für den Nachtflug hat die Station in Niebüll nicht. Am frühen Abend klingelt das Telefon, die Leitstelle Nord in Harrislee, ob noch ein Einsatz auf Amrum möglich ist, so die Frage, Pilot Voiß bejaht. In der Luft erklärt Notarzt Burow was uns erwartet, „jetzt geht es doch noch einmal um Leben und Tod“, so der 66-jährige, „ein an Lungenkrebs erkrankter Patient wird mit extremer Luftnot vom Rettungsdienst versorgt und muss dringend in eine geeignete Klink auf das Festland.“ Kurzer Blick auf die Wetterkarte, kleinere Gewitter mit Starkregen ziehen auf. „Da kommen wir dran vorbei“, so Voiß. Keine 15 Minuten nach Alarmierung setzt der Pilot die Maschine sicher auf dem Landeplatz auf Amrum auf. In kurzer Zeit wird der Patient umgelagert und in die Maschine geschoben. Es geht nach Niebüll, kurz vor Sonnenuntergang befindet sich der Patient im Krankenhaus und die Besatzung zurück an der Station.
Das Rolltor öffnet sich und Jürgen Voiß steht wie 14 Stunden zuvor mit der gelbschwarzen Fernbedienung in der Hand am Hangar, der Feierabend ist eingeläutet. Morgen früh um 7 Uhr sind sie wieder bereit, die Luftretter aus Niebüll.
Text und Fotos: Benjamin Nolte