14. Dezember 1974, ein Spieltag in der Handball-Bundesliga: Der hessische Vertreter Steinheim unterlag nach einer dramatischen Partie gegen Göppingen mit 14:15. Der Torwart der Gastgeber schleuderte den Ball erbost in einen Rücken. Der gehörte Wilfried Tetens, einer der beiden Schiedsrichter. Auch die Fans sahen in den „Pfeifenmännern“ die Sündenböcke. Ordner begleiteten sie in ihre Kabine, die sie zum Schutz sogleich verschlossen. Dann drang Hundegebell durch die hitzige Atmosphäre. Eine Polizei-Staffel begleitete die Unparteiischen aus der Halle und über viele Kilometer auf der Straße. Praktisch ohne Pause ging es nach Hause. Am frühen Morgen wurde Wilfried Tetens in Flensburg von seiner Frau begrüßt: „Ich dachte, ihr wolltet im Süden übernachten?“ „Das ging heute leider nicht!“
Diese ist nur eine von vielen ungewöhnlichen Episoden aus einem aktiven Leben. Wilfried Tetens hatte sich schon in seiner Jugend dem Handball verschrieben. Er war Trainer, Funktionär, Rundfunk-Journalist – und vor allem Schiedsrichter. In den 70er Jahren zählte er zur Weltspitze. Nur mit der Sportschiene ist der Werdegang dieses „Flensburger Kopfes“ aber nur unzureichend beschrieben: Er war Oberstudienrat an zwei Flensburger Gymnasien und bildete ein Faible für Griechenland und die Antike aus.
Inzwischen ist er 82 Jahre alt und genießt die Ruhe von Meierwik, die höchstens die „alten Herren“ Dimitri und Elias durchbrechen. Die beiden Hunde bellen selten, aber wenn, dann im Kanon. Wenn der Hausherr mit seiner Ehefrau Barbara auf der überdachten Terrasse sitzt, schweifen die Blicke über die Flensburger Förde bis nach Dänemark. Die Innenförde versteckt sich hinter einem Hang. Es sind etwa zwei Kilometer bis zur Marineschule Mürwik. Dort, in einem ehemaligen Militärkrankenhaus, wurde der Sohn eines Berufssoldaten im Juni 1939 geboren. Drei Monate vor Kriegsbeginn. „Vielleicht steckt in meinem Namen der Wunsch nach Frieden, ich hatte meine Eltern nie danach gefragt“, erzählt Wilfried Tetens mit nachdenklichem Ton.

Die Familie lebte zunächst in einer Dienstwohnung der Duburgkaserne. Der Vater überlebte die schreckliche Kriegszeit, war aber naturgemäß kaum Zuhause. Immerhin wusste er seine Liebsten in relativ großer Sicherheit. Flensburg war nur selten das Ziel von Bombenangriffen. Allerdings besuchte seine Frau häufiger ihre Eltern in Hamburg.
Der kleine Wilfried behielt auf Puppengröße geschrumpfte menschliche Leichen in Erinnerung – die Folge von Phosphorbomben.
Mit Kriegsende hätte er eigentlich das ABC lernen sollen, doch Flensburgs Schulen waren mit Lazaretten und Flüchtlingen belegt. Erst 1946 marschierte Wilfried Tetens vom neuen Zuhause im Junkerhohlweg zur Goe­the-Schule, die sich aber bald wieder in das klassische Gymnasium verwandelte. In den unruhigen Nachkriegsjahren folgten die Pestalozzischule in der Waitzstraße, die Sankt-Nikolai-Knabenschule und schließlich die Zollschule auf dem Museumsberg. Und nach fünf Jahren eine Reform: Die Grundschule umfasste statt sechs Klassenstufen nur noch vier.
So übersprang Wilfried Tetens auf dem Alten Gymnasium die Sexta und kam gleich in die Quinta. Der Schulalltag war damals noch streng nach Geschlechtern getrennt. Das traditionsreiche Gymnasium besuchten nur vier Töchter aus einflussreichen Elternhäusern, damit sie unbedingt Latein und Altgriechisch lernten. Wilfried Tetens schaffte 1959 das Abitur. Das prägendste Ereignis seiner Schulzeit ist zwei Jahre früher datiert: eine Studienfahrt nach Griechenland. Der Klassenlehrer als Organisator, der Geografie-Lehrer als „Wegführer“ und 17 Schüler wagten sich nach Südeuropa.

Schon die Anreise war ein Abenteuer: mit dem Zug drei Tage durch Europa. Die Nordlichter stiegen in Belgrad aus dem Orient-Express, reisten über Nis und Saloniki weiter nach Athen. Dort wurde das Gepäck auf dem Dach eines nostalgischen Busses verstaut. Dann ging es auf Rundreise: Olympia, Delphi und Epidaurus. Die Akropolis konnten die Flensburger für sich genießen. Die Strände waren leer. Kein Tourismus, keine Eintrittsgelder! Danach stand für Wilfried Tetens fest, Altgriechisch zu studieren. Er bereicherte das Lehramt mit Latein, Sport und Geschichte. In Kiel hielt es der junge Mann in seiner 30-D-Mark-Bleibe nur drei Semester aus.
„Dann“, erinnert er sich, „meinten meine Großeltern, ich sollte es doch mal in Hamburg probieren – und ich könnte bei ihnen wohnen.“
Die sportliche Ader war da längst entdeckt. Anfang der 50er Jahren sah er zusammen mit seinem Vater Feldhandball auf dem Schützenhof und trug bald mit Stolz den FTB-Stern auf der Brust. Mit späteren Bundesliga-Spielern wie Sönke Voß oder Trutz Kob stand er in einer FTB-Jugendmannschaft. Als junger Mann spielte Wilfried Tetens noch für den PSV Flensburg. In Hamburg drohte der Fußball den Handball in der Gunst zu überholen. Früh hatten die „roten Stutzen“ die Liebe zum HSV geweckt. Nun war der HSV-Kicker Jürgen Werner sein Studienkollege. Wilfried Tetens dachte daran, Fußball-Schiedsrichter zu werden. Aber er war Brillenträger. „Es gab noch keine Kontaktlinsen“, erinnert er sich. „Bei Regen konnte ich nichts sehen.“

In der Halle war das nicht das Problem. Der Handball machte das Rennen. So pfiff Wilfried Tetens schon bald die Stadtderbys zwischen FTB und Stern vor 800 Zuschauern in der Duburghalle. 1967 eine Revolution: Im Hallenhandball wurden die Schiedsrichter-Gespanne eingeführt. Als Nummer drei von Schleswig-Holstein tat sich der Flensburger mit dem Hamburger Edgar Reichel zusammen. Am 24. Oktober 1967 hatten sie ihre gemeinsame Feuertaufe: Dankersen gegen Solingen.
Das aufwändige Hobby musste mit dem Beruf kombiniert werden. 1965 hatte Wilfried Tetens das Examen in der Tasche. Das Referendariat wollte er durchgängig am Alten Gymnasium absolvieren, doch es streuten sich zwei Halbjahre in Pinneberg ein. „Eine harte Zeit“, erzählt er. „Ich war ja inzwischen in Flensburg jung verheiratet.“ In zwei Kurzschuljahren musste er in Niebüll „abends durch die Gänge eines Internats laufen“.
Am 10. Februar 1968 durfte Wilfried Tetens an der Auguste-Viktoria-Schule beginnen – aber nicht ohne Überraschung. „Sie können doch auch Mathematik unterrichten“, meinte die Rektorin.

Auf ungewohntem Terrain behauptete sich der Junglehrer offenbar gut. Zumindest durfte er im nächsten Schuljahr gleich alle drei Sextas mit Bruchzahlen und Mengenlehre beglücken. „Die jungen Kollegen müssen die Drecksarbeit machen“, hieß es damals. Kurz darauf befiel der „Geist der 68er“ auch die AVS und manövrierte die gesamte Lehrerschaft in das Establishment. Eine hochpolitische Zeit.
Im Handball war für Wilfried Tetens praktisch alles möglich. Als Referee war er viel unterwegs, als Schiedsrichterwart war er vom Kreis bis zur norddeutschen Ebene tätig. Später wurde er langjähriger Vorsitzender im Kreisverband, zählte zu den Größen im schleswig-holsteinischen Verband. Ehrenmitgliedschaften und sogar das Bundesverdienstkreuz begleiteten in den letzten Jahren seinen Weg.
Was wenige wissen: Wilfried Tetens war auch Trainer – und das höherklassig. Flensburg 08 sprach ihn einfach mal an: Er war ja studierter Sportlehrer. „Eine Trainer-Lizenz machte ich erst später, aber ich war wohl ein guter Motivator“, erzählt das Handball-Multitalent.
08 tummelte sich ab 1969 für einige Spielzeiten in der damals zweitklassigen Regionalliga. Doppelveranstaltungen mit dem FTB in der neuen Idraetshalle waren damals die Regel. Später coachte Wilfried Tetens die aufstrebende SG Weiche-Handewitt, die 1981 fast in die Bundesliga aufgestiegen wäre. Eine Boulevard-Zeitung titelte: „Vorsicht vor Tetens“. Der Vorwurf:
Die SG würde davon profitieren, einen „Mann in Schwarz“ auf ihrer Bank sitzen zu haben, da die Referees der Regionalliga ihren Kollegen bevorzugen würden.

Als Schiedsrichter machte der Flensburger gewiss die größte Karriere. 1971 lag plötzlich ein offizielles Schreiben vom Deutschen Handballbund im Briefkasten:
Edgar Reichel und Wilfried Tetens waren für das Meisterschaftsfinale in der Dortmunder Westfalenhalle angesetzt. Zwei Stunden vor Anpfiff sagte Bundesschiedsrichterwart Karl Weidmann zu den beiden Nordlichtern:
„Männer, wenn ihr das gut macht, dann melde ich euch für die Olympischen Spiele.“ Eine imposante Lautstärke trieb GW Dankersen zum Titel. „Wir konnten uns gegenseitig nicht hören, hatten aber zum Glück eine gute Zeichensprache“, verrät Wilfried Tetens. „Am Ende stand in der Presse: zwei kühle Köpfe aus dem Norden.“

Beim Olympia-Turnier in München leitete das norddeutsche Gespann fünf Spiele und stieg zur Nummer eins in Deutschland auf. Hochkarätige Einladungen folgten: 1973 die Frauen-WM in Jugoslawien, 1974 die Männer-WM in der DDR, 1975 die Frauen-WM in der Sowjetunion und 1976 das Olympia-Endspiel von Montreal zwischen der Sowjetunion und Rumänien. „Da dachten wir, es gibt doch nichts mehr“, erzählt Wilfried Tetens mit einem Lächeln.
Es ging weiter. 1978 wäre sicherlich die Leitung des WM-Finals auf die beiden Unparteiischen zugekommen – wenn die DHB-Auswahl nicht sensationell bis ins Endspiel vorgedrungen wäre. 1980 wurden sie vom Olympia-Boykott des Westens ausgehebelt. Einige Monate später reisten sie dann doch nach Moskau. Ausgerechnet die beiden Schiedsrichter aus der Bundesrepublik sollten beim Ostseepokal die Olympia-Revanche zwischen der Sowjetunion und der DDR pfeifen.
Die DDR gewann, die Sowjets fluchten – und tags darauf war am Flughafen ausnahmsweise der „Ausgang 7“, der sonst immer eine kontrollfreie Ausreise versprochen hatte, gesperrt. Es kam, wie es kommen musste. Die Zollbeamten beschlagnahmten Kaviar und Krim-Sekt, die für ein Sportartikel-Tauschgeschäft gedacht waren. Wilfried Tetens filzten sie besonders gründlich und entdeckten Schweizer Franken und US-Dollars. Die mitgeführten Devisen waren eigentlich ein Freundschaftsdienst für russische Kollegen, endeten nun aber fast in einer Untersuchungshaft für einen „Konter-Revolutionär“.
Zurück in Deutschland sagten sich die beiden Schiedsrichter: „Das müssen wir nicht noch einmal erleben.“ Ihre Karriere war beendet. Nur wenige Monate später war Wilfried Tetens nebenberuflich für den NDR tätig. Auslöser war ein Verbandstag, bei dem der NDR-Sportchef Armin Hauffe über Sport und Medien referierte.
„Wir suchen noch nach Mitarbeitern, sind etwas knapp besetzt“, sagte dieser. Wilfried Tetens meldete sich. „Sportjournalismus war als junger Mann ein Traumberuf für mich“, verrät er. „Da ich aber früh verheiratet war, musste ich früh verdienen.“ Schon sehr bald sprach er Telefonberichte vom Handball und Fußball, aber auch vom Synchronschwimmen, American Football und Dressurreiten.

Griechenland wurde zur großen Liebe. Dort erwarb der Studienrat 1984 ein Haus in einem Bergdorf auf dem Peloponnes. Seither war er jedes Jahr dort – Ausnahme 2020 wegen Corona. Man kann sich gut vorstellen, dass die Olympischen Spiele 2004 für ihn ein einmaliges Erlebnis waren: Sport und Griechenland in Kombination. Seit 1973 hatte Wilfried Tetens an der AVS eine Griechenland-Studienfahrt etabliert. Kurz vor den Herbstferien ging es zu den vielen antiken Stätten. Nach dem Wechsel auf das Alten Gymnasium im Jahr 1992 war das Frühjahr der Hellas-Reisetermin. 2001 ein letztes Mal – mit 80 Schülern. Regelmäßig dabei war Busfahrer Rolf Tramsen. „Wir haben sogar ein kleines Reisebüro gegründet“, erzählt Wilfried Tetens. In kleinen Gruppen begab man sich mehrfach auf die Spuren der Griechen in Südeuropa.
Am Alten Gymnasium konnte er erstmals Altgriechisch unterrichten. Es gab sogar einen Leistungskurs. 2004 ging Wilfried Tetens in den Ruhestand. Seine Ehrenämter hat er inzwischen alle abgegeben.
Gerade übersetzt er die „Weltgeschichte“ des Historikers Diodor aus dem ersten Jahrhundert vor Christus. Wenn er sich mit Alexander dem Großen beschäftigt, steht nicht weit entfernt eine wachsende Sammlung an Schallplatten und CDs des Sängers Vico Torriani. „Mein kleines Juwel“, lächelt der Pensionär.

Natürlich spielt der Handball weiterhin eine Rolle. Im Juni freute er sich über einen guten Sitzplatz in der Flens-Arena. TV und Live-Streams laufen regelmäßig. Dabei geht Wilfried Tetens „kritisch mit den Herren in Schwarz“ um und freut sich über die „hervorragenden Leistungen“ der SG. Für den Herbst hat er eine Einladung nach Athen. Eine Gesellschaft, die sich stark für den internationalen Austausch einsetzt, hat ihn eingeladen und um einen Vortrag gebeten – auf Neugriechisch. Bis dahin wird er noch häufiger auf der Terrasse sitzen und auf die Flensburger Förde blicken. Wilfried Tetens: „So schön es überall in Deutschland auch ist, hier ist das Paradies.“

Text: Jan Kirschner

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