Einen Fußball hat Holger Sohrweide nicht (mehr) im Haus. Doch in seinem Leben drehte sich zwar nicht alles, aber doch vieles um das runde Leder. Er war über sechs Dekaden selbst aktiver Fußballer, aber auch Trainer, Funktionär und Zuschauer. Mit einem Schmunzeln erzählt er: „Als ich eingeschult wurde, war ich schon Weltmeister.“ Als sich am 4. Juli 1954 das „Wunder von Bern“ ereignete, war er Zeitzeuge. Die Familie hatte sich bei Onkel und Tante in der Fuchskuhle versammelt, dort gab es schon einen Fernseher. Dicht an dicht saßen alle zusammen. Die Kinder hockten am Boden und schauten durch die Stuhlbeine. Das legendäre 3:2 der deutschen Nationalmannschaft gegen Ungarn grub sich tief ins Gedächtnis ein.
Heute stöbert Holger Sohrweide in einem Karton voller Bilder. Viele Erinnerungen werden aufgefrischt. Am 15. März 1948 wurde er geboren – natürlich in Flensburg. Die Familie war fest verwurzelt mit der Fördestadt. Deshalb sprach man von „Oma und Opa Hafermarkt“ und „Oma und Opa Duburg“. Letztere betrieben einen Zigarrenladen. Bei beiden Großeltern-Paaren fanden der kleine Holger und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Gerd große Gärten vor. Spannende Eldorados. „Den Geruch der dort wachsenden Wurzeln und Kartoffeln habe ich noch immer in der Nase“, erzählt der 74-Jährige.
Der Sommer 1954 brachte drei große Ereignisse: die Weltmeisterschaft, die Einschulung in die Sankt-Jürgen-Knabenschule und dazwischen ein Sylt-Urlaub. Die Familie hatte kein Auto und der Vater keinen Führerschein, aber als Mitarbeiter bei „Sonnberg Rum“ ein gutes Tauschprodukt, mit dem sich Handelsvertreter oder Freunde locken ließen, die Urlauber nach Klanxbüll zu befördern. Von dort ging es mit der Eisenbahn über den Hindenburgdamm zum Camping-Platz von Dikjen Deel. Fortan gehörten zwei Wochen auf der Nordseeinsel zum wiederkehrenden Höhepunkt der Sommerferien – bis die Sohrweides 1960 in Hörnum von einem Unwetter erfasst wurden. Die beiden Jungen hielten die Stangen fest, der Papa beschwerte die Zeltplane mit Sand. So konnte das Schlimmste verhindert werden. Dennoch wurde die Nordsee gestrichen, dafür wurde der Camping-Platz in Norgaardholz zum „Dauerbrenner“.
Beginn bei Flensburg 08
Einen Teil seiner Kindheit und die komplette Jugend lebte Holger Sohrweide am unteren Ende der Glücksburger Straße. Es waren nur wenige hundert Meter zum Sender. Dort befand sich das ehemalige, längst bebaute Vereinsgelände von Flensburg 08. 1958 erschien ein zehnjähriger Junge das erste Mal zu einer Übungseinheit. Er kann sich so gut an den Zeitpunkt erinnern, weil seine Eltern in jenem Jahr zur Fußball-Weltmeisterschaft in Schweden waren. Und beim Kick unter den Kindern der Umgebung wollte jeder Fritz Walter, Horst Eckel oder zumindest Helmut Rahn sein. Holger Sohrweide trug die ganze Jugend über das 08-Trikot und bestritt seine ersten Einsätze bei den Männern als Torwart. Später wurde er Links-außen. Es war eine wilde Zeit. Nach den Spielen traf man sich regelmäßig in den Party-Tempeln „Grogkeller“ und „Pony“.
Beruflich absolvierte Holger Sohrweide zunächst eine Lehre zum Groß- und Außenhandelskaufmann – beim damaligen regionalen VW-Händler „Baack & Nicolai“. Das Unternehmen hatte die Gebrauchtwagen und die Büros noch in der Bahnhofstraße. Lager und Werkstatt befanden sich aber bereits in der Liebigstraße, der heutigen „Automeile“. 1968 kam es zu einer Zäsur: Der junge Mann war für 18 Monate weg von Flensburg. Überspitzt gesagt war es ein „Auslands-einsatz“: Die Bundeswehr hatte ihn eingezogen – zum Grundwehrdienst nach Albersdorf in Dithmarschen. Dort wurde Holger Sohrweide ziemlich gedrillt, dann rief die Kaserne in Kellinghusen. Beim Antreten fragte der Spieß:
„Wer kann auf der Schreibmaschine schreiben?“ Holger Sohrweide witterte eine Chance auf einen angenehmen Dienst im Schreibzimmer. Ein anderer meldete sich auch. Der Spieß eröffnete das Stechen: „Wie viele Anschläge in der Minute?“ 200! „Das war eigentlich zu hoch gegriffen, aber es hatte geklappt“, grinst Holger Sohrweide. Er hatte die nächsten Monate Bürodienst, beteiligte sich an vielen Sportturnieren und legte die Prüfung für einen LKW-Führerschein ab.
1974: Hochzeit und Weltmeister
Zurück in Flensburg arbeitete er kurze Zeit für ein Unternehmen der Nutzfahrzeug-Branche, dann erhielt er aus 08-Kreisen den Tipp, bei der hiesigen Bundeswehr-Standortverwaltung anzuheuern. In dieser Zeit lernte er auch seine Angela kennen. Das Paar heiratete 1974. In dem Jahr, als Deutschland zum zweiten Mal Fußball-Weltmeister wurde. Holger Sohrweide trug die Haare damals etwas länger – so wie Gerd Müller, Franz Beckenbauer oder Bernd Hölzenbein.
Die eigene Karriere hatte durchaus Fahrt aufgenommen – als Linksaußen. Nach einem lokalen Intermezzo bei DGF Flensborg pendelte Holger Sohrweide zwischen 1972 und 1978 gen Schlei und kickte für Schleswig 06. Bis auf einen Abstieg, der sofort repariert wurde, gehörte der Traditionsverein der höchsten Spielklasse Schleswig-Holsteins an. Einmal zog 06 sogar in die erste Hauptrunde des DFB-Pokals ein, wo es gegen den ehemaligen saarländischen Zweitligisten SV Röchling Völklingen eine 0:1-Niederlage gab. Die meisten Zuschauer lockten allerdings die Derbys gegen den Ex-Klub Flensburg 08 an. „Es war das Größte, dass ich zu einer Zeit aktiv war, als der Amateur-Fußball noch einen sehr hohen Stellenwert hatte“, erzählt Holger Sohrweide heute. Fußball war Hobby. Die zehn Pfennig pro Kilometer, eine geringe Punktprämie und fünf D-Mark Verpflegungszuschlag machten aus dem Freizeitkicker gewiss keinen Profi. Gar nicht beliebt bei den Spielern waren die Ansetzungen am Sonntag. Die geselligen Abende im Klubheim waren lang, und montags rief der Alltag.
Zudem stand 1977 eine berufliche Umorientierung an: Holger Sohrweide schlug innerhalb der Bundeswehr eine Beamten-Laufbahn ein. Als beruflich alles in trockenen Tüchern war, fiel eine Baulücke in Mürwik ins Auge. Bald wurde eine Doppelhaushälfte bezogen. „Damals gab es noch keinen Durchgangsverkehr, und niemand besaß zwei oder drei Autos“, erinnert sich der 74-Jährige. „Die Kinder konnten unbekümmert auf der Straße spielen.“ Die Söhne Tim (1982) und Lasse (1986) wurden geboren. In der sportbegeisterten Familie existierte auch ein Tennis-Talent, der Fußball blieb aber die Nummer eins. Lasse wechselte sogar in die USA, studierte dort und spielte sogar auf professionellem Niveau. Heute lebt er in Hamburg, sein älterer Bruder auf Mallorca.
Der Start der Trainer-Laufbahn
Holger Sohrweide hatte seine leistungsorientierte Laufbahn 1978 beendet. Das neue Fußball-Ziel: Trainer. Er erwarb die B-Lizenz und übernahm bei Flensburg 08, seinem Stammklub, die A-Jugend. Der Stern von 08 sank damals. Im Herbst 1979 bestand akute Abstiegsgefahr, Horst Höfer trat als Coach der Liga-Mannschaft zurück. Holger Sohrweide kehrte mit der A-Jugend von einem Punktspiel aus Husum zurück. Der Vorstand hatte im Clubhaus im Stadion gewartet. Die zentrale Frage: „Würdest du übernehmen?“ Der Umworbene äußerte sich abwartend: „Ich muss das noch mit meiner Frau besprechen.“ Er ahnte schon, dass es eine schwierige Mission werden würde. Einige Spieler waren älter als er. Das Ruder war in der Tat nicht mehr herumzureißen. In den 80er Jahren verschwand 08 in den Niederungen des Fußballs.
Der Lokalrivale TSB Flensburg ging auf die Überholspur. Helmut Schumann, der große Macher der Fußball-Abteilung, lotste Holger Sohrweide 1981 als Trainer an den Eckener Platz. Die Mission begann in der Bezirksliga. Der TSV Kappeln war der ärgste Widersacher. Die TSB-Elf verwandelte im Spitzenspiel einen 0:4-Rückstand in einen 5:4-Erfolg und stieg kurz darauf in die Landesliga auf. Als 1984 eine starke A-Jugend in die Liga-Mannschaft aufrückte, räumte Holger Sohrweide die Bank und fand sich bei Nordmark Satrup wieder. Mit den Angelitern glückte im vierten Anlauf der Aufstieg in die Landesliga. Häufig wurde im „Satruper Keller“ ein Fass aufgemacht.
Weltmeister-Flair in Malente
Seinen Schwager, der als Foto-Reporter tätig war, begleitete Holger Sohrweide im Mai 1986 zur Sportschule in Malente. Dort residierte die deutsche Nationalmannschaft und bereitete sich auf die WM 1986 in Mexiko vor. Es entstand ein Foto mit Teamchef Franz Beckenbauer. Vier Jahre später war Deutschland zum dritten Mal Weltmeister. Zu jener Zeit lief die Trainer-Karriere von Holger Sohrweide beim inzwischen untergegangenen VfB Nordmark aus. Der TSB klopfte wieder an und suchte einen Ligaobmann, der sich um Organisation und Kaderplanung kümmerte. Es folgten zwei Dekaden mit Höhen und Tiefen, garniert mit drei einjährigen Gastspielen in der Oberliga. 2005 gab es eine kurze Unterbrechung, als Helmut Schumann aufgehört hatte und sich die Vereinsstrukturen neu ordnen mussten.
Bei der Bundeswehr war Holger Sohrweide an den Standorten Tarp und Leck im Einkauf tätig, besorgte alles, was die Soldaten so brauchten. Kurz nach der Jahrtausendwende, während der Kosovo-Mission, bestellte er einmal 120 Tannenbäume, damit es die Kameraden auf dem Balkan auch etwas weihnachtlich hatten. Seine letzte Station war Westerohrstedt: Es ging um die Logistik für den Afghanistan-Einsatz. Da lief bereits die Altersteilzeit, die 2009 in die Ruhephase überging. „Ich bin aber niemand, der einfach zu Hause bleiben kann“, schmunzelt Holger Sohrweide.
Ein aktiver Ruhestand
Er ergatterte sich beim Selbsthilfe-Bauverein (SBV) einen Mini-Job. Den Vorstandsvorsitzenden Jürgen Möller hatte er einst trainiert. Heute scherzt dieser: „Früher hast du mich gescheucht, heute ist es umgekehrt.“ Als Dienstbote ist Holger Sohrweide im SBV-Hauptsitz am Willi-Sander-Platz unterwegs oder düst mit dem E-Auto durch die Stadt. „Je älter man wird, desto wichtiger werden einem die sozialen Kontakte“, bemerkt er.
Eines Tages stolperte er über eine Anzeige der Institution „Seniorpartner in School“: Gesucht wurden Mediatoren zur Unterstützung im Schulalltag. Der Pensionär meldete sich und traf beim Kurs eine alte Bekannte. Als gemischtes Team waren die beiden fünf Jahre an der Auguste-Viktoria-Schule tätig. „Es war eine spannende Zeit, es ging darum die eigene Lebenserfahrung einzubringen – mit etwas Handwerkszeug an der Seite“, erklärt Holger Sohrweide. Einmal die Woche war er am Gymnasium. Gerade viele Mädchen öffneten sich und erzählten von ihren Sorgen, Nöten und Problemen. „Das lief auf Vertrauensbasis“, betont Holger Sohrweide. „Lehrer oder Eltern erfuhren nur etwas, wenn wir dafür grünes Licht erhielten.“
Ehrenamt im TSB
Die Kenntnisse der Mediation bringt er auch beim TSB ein. Wenn es in den Abteilungen mal Zwist gibt oder es darum geht, einen Trainer vor den zu großen Erwartungen der Eltern und Kinder zu schützen. Dann werden Lösungen gefunden, mit denen alle leben können. Holger Sohrweide saß ab 2006 als Liga-Manager im TSB-Beirat und stieg 2010 in den erweiterten TSB-Vorstand ein. Er kümmert sich hauptsächlich um den Fußball im größten Verein der Stadt, der die Corona-Talsohle durchschritten hat und auf dessen hauptamtlicher Geschäftsstelle es wieder brummt. Der Funktionär ist zumeist am Eckener Platz oder am Schützenhof anzutreffen und gilt als Bindeglied zwischen Liga-Mannschaft und Vorstand. „Ich bin aber nicht mehr drei Mal die Woche beim Training“, erwähnt Holger Sohrweide, der sich nach dieser Saison auf seine Vorstandstätigkeit beschränken möchte.
Ein abgeschlossenes Kapitel ist der Kreisfußballverband. Als Lehrwart hatte er 14 Jahre lang die Ausbildung der Jugendtrainer (C-Lizenz) koordiniert. Der 74-Jährige gehört noch dem Ehrenrat des Flensburger Sportverbandes an. Dieses Gremium hat sich gerade getroffen, um verdiente Sportler, Trainer und Funktionäre für die nächste Ehrung auszuwählen. „Wir wollen auch die Stillen berücksichtigen, die im Hintergrund arbeiten, aber ganz wichtig für einen Verein sind“, erklärt Holger Sohrweide.
Reisen und Fußball
Zusammen mit seiner Frau Angela verreist er gerne. Mallorca ist nicht nur aus familiären Gründen interessant. Vor einigen Jahren waren sie sogar zu den Galapagos-Inseln.
Mit einem Schiff ging es von Bucht zu Bucht. Es wurde im Angesicht der Seelöwen geschnorchelt und die Riesenschildkröten gegrüßt. Eine ganz eigene Welt im Pazifik! Im Herbst nahm ein Kreuzfahrtschiff Kurs auf Azoren, Madeira und Kanaren. Für den kommenden September ist mit einer Gruppe eine Irland-Rundfahrt gebucht. Natürlich ist Holger Sohrweide auch gerne in der Region unterwegs – zum Beispiel mit seiner Ü60-Männerrunde. „Wir treffen uns alle sechs Wochen zum Minigolf, auf eine Fahrrad-Tour oder zum Dartspiel“, berichtet er. „Jeder ist mal dran, sich etwas auszudenken. Wir schauen auch gerne mal Fußball zusammen und haben dann endlose Diskussionen, da unter uns sowohl HSV- wie auch Bayern-Fans sitzen.“
Er selbst war noch bis vor kurzem in der Altliga aktiv, ehe ihn eine Verletzung stoppte. „Mit 75 Jahren werde ich nicht mehr angreifen“, lacht er. Aber als interessierter Zaungast wird er es gewiss nicht lassen.
So wie kurz vor Weihnachten: Da lief in der Flens-Arena das Handball-Landesderby zwischen Flensburg und Kiel. Ein großer Sieg für die SG, den Holger Sohrweide nicht auskostete.
„Ich bin gleich nach dem Schlusspfiff gegangen, meine Frau wartete schon vor der Halle mit dem Auto“, erzählt er. „Fünf Minuten vor dem Anpfiff des WM-Finales waren wir zu Hause.“
Dann erlebten sie den packenden WM-Triumph von Argentinien im eigenen Wohnzimmer.
Das deutsche Team war dieses Mal nicht so gut, aber vier Mal hatte Holger Sohrweide erfolgreich mitgefiebert. Seine persönliche WM-Biografie sieht so aus: 1954 als Weltmeister zur Schule, 1974 als Weltmeister geheiratet, 1990 die Trainer-Tätigkeit beendet und 2014 schließlich im aktiven Ruhestand.
Text: Jan Kirschner
Fotos: Jan Kirschner, privat