Solange hatte Brigitte Handler ihrer Geburtsstadt Flensburg wohl noch nie den Rücken zugekehrt. Es war eine Mischung aus freiwilligem Entzug und Folgen der Corona-Pandemie. Seit einigen Jahren reist sie mit ihrem Mann Nis-Edwin am Zweiten Weihnachtstag nach Gran Canaria, genießt die Sonne des Südens und das angenehme Wasser im Swimming-Pool. Mit dem Frühling kommt das Ehepaar stets zurück in den Norden. Doch diesmal lichtete sich der Luftverkehr krisenbedingt, der Hund erschwerte eine Buchung zusätzlich. „Die Fluggesellschaften fanden, dass wir länger bleiben sollten“, schmunzelt Brigitte Handler über den zweimonatigen Bonus auf der Atlantik-Insel. Die modernen Kommunikationstechnologien hielten den Kontakt in die Heimat aufrecht. Die langjährige Geschäftsführerin der Kinder- und Jugendinstitution „Adelby 1“ widmet sich weiterhin einigen Ehrenämtern.
Offiziell befindet sich die 68-Jährige im Ruhestand. Als Seniorberaterin von „Adelby 1“ ist sie nicht mehr am Tagesgeschäft beteiligt, mit dem großen Ganzen aber doch vertraut. Sie wird um Rat gefragt oder hilft dabei, alte Unterlagen im umfangreichen Aktenwerk aufzuspüren. Wenn sie redet, spürt man: Ihre langjährige Tätigkeit war mehr als ein Beruf – sie war eine Berufung, die wohl mit der Muttermilch eingesogen wurde. Denn schon ihre Mutter war eine Kindergärtnerin, betont Brigitte Handler, „mit einer hohen Sozialkompetenz“.
Am 30. Juni 1952 wurde sie in Flensburg geboren. In einer Zeit, als die angestammte Bevölkerung zusammenrücken musste, weil zunächst die Flüchtlinge ihre Quartiere im Barackenlager mit einer Wohnung tauschen durften. So krochen die Handlers bei einer Cousine des Vaters unter, ganz in der Nähe vom Burgplatz. 30 Quadratmeter mussten genügen – für die bald fünfköpfige Familie. Nicht nur eine Tochter, sondern auch zwei Söhne erblickten das Licht der Welt. Küche und Bad mussten mit der Cousine, einer Hebamme, geteilt werden. Wenn sie tagsüber ausruhte, mussten die Mutter und die kleinen Kinder oft aus der Wohnung in den Stadtpark, um die Schlafende ja nicht zu stören. Eine kleine Entschädigung der Enge waren zwei Balkone.
Erst 1959 hatten die Handlers eine eigene Wohnung. Das schöne Erkerzimmer wurde allerdings nur sonntags und zu besonderen Anlässen genutzt. Die Konsequenz: Brigitte Handler besaß kein eigenes Zimmer und nächtigte bei ihren Eltern mit im Schlafzimmer. „So war es nun einmal nach dem Zweiten Weltkrieg“, erzählt sie heute. „Unsere Generation hat es so gelernt, seine eigenen Ansprüche etwas zurückzuschrauben.“
Sie war schnell aus dem Haus. Schon als 16-Jährige startete sie in Plön mit einer Hauswirtschaftslehre. Küche, Haushalt und Kinderbetreuung skizzierten das Themenspektrum. Mit zwei anderen Mädchen teilte sie eine kleine Dachkammer. Dann rief wieder Flensburg: die Fachschule für Sozialpädagogik. Da es ihr noch an Geld fehlte, schlüpfte die Tochter wieder bei den Eltern unter. Jetzt hatte sie ein Bett im Durchgang. Längst hatte sie gelernt, sich zu arrangieren. Brigitte Handler beschäftigte das Vorpraktikum. In einem Glücksburger Kinderheim erlebte sie „Zucht und Ordnung“. So nicht, dachte sie nur. Das abschreckende Beispiel entwickelte sich zur Triebfeder, die Erziehung der jungen Generation mit ganz anderen Prämissen anzugehen.
Mit dem Beginn der 70er Jahre notierten die Chronisten einen gesellschaftlichen Umbruch. Auch in der Provinzstadt Flensburg gingen viele junge Leute auf die Straße und demonstrierten gegen Atomkraftwerke, den Vietnamkrieg oder die Springer-Presse. In der Erziehungswissenschaft gewannen antiautoritäre Auffassungen an Bedeutung. Die Fachschule für Sozialpädagogik sei überrollt worden, berichtet Brigitte Handler. „Im Unterricht saßen nun veränderte junge Menschen, die in Hotpants ihre eigene Meinung einbrachten.“ Dagegen beharrten gerade die alten Lehrer auf klassische Lerninhalte und sahen sich bisweilen sogar mit Boykotten konfrontiert.
Derweil hatten Eltern behinderter Kinder einen Verein „Sonderkindergarten Flensburg“ gegründet. Endlich sollte auch ihr Nachwuchs eine adäquate Betreuung erhalten. Ein Antrag beim Land bescherte ein positives Echo und einen stattlichen Zuschuss. Als Immobilie diente zunächst die ehemalige Dorfschule des Handewitter Ortsteils Langberg. Das Gebäude war nicht eben-erdig, knifflig mit Rollstühlen – aber ein Anfang mit vier Gruppen und 24 Kindern war gemacht. 1973 bewarb sich Brigitte Handler. Nach einem Gespräch mit Herbert und Anneliese Fries, dem Vorstands-Ehepaar, hatte sie ihre erste Stelle.
Was sie nicht ahnte: Sie betrat die Keimzelle von „Adelby 1“. 1975 war der Neubau am Preesterbarg fertiggestellt. Er bot bereits 60 Kindern Platz, hatte eine Bewegungshalle und Therapieräume. Drei Jahre später benötigte Brigitte Handler erst einmal einen Tapetenwechsel. Das Diakonische Werk war ihr neuer Arbeitgeber. Sie kümmerte sich um eine Wohngemeinschaft für suchtgefährdete Jugendliche. Im Johanniskirchhof betreute die junge Frau nun eine schwierige Klientel, spürte dabei hautnah den geänderten Zeitgeist. Die Pädagogik setzte bereits auf kleinere Wohngruppen, ein eigenes Wohnzimmer für die Jugend und eine Küche, in der häufig selbst gekocht wurde. Nach einer Weile wechselte Brigitte Handler zur Stadt Flensburg und fungierte als stellvertretende Leitung der Jugendwohngemeinschaften. Nun feilte sie an Konzepten, führte Verhandlungen und initiierte Gespräche – erstmals hatte sie eine Rolle, die der ihrer späteren Tätigkeit als Geschäftsführerin von „Adelby 1“ ähnelte.
Privat hatte sich einiges getan. 1982 und 1984 wurden die beiden Söhne geboren. Da war die „Stadtflucht“ bereits abgeschlossen. In Husbyholz diente ein Resthof als Domizil. Eine befreundete Familie hatte sich die Scheune umgebaut, Brigitte Handler selbst machte es sich mit ihrem damaligen Mann im Wohngebäude gemütlich. Ihr Lebensstil war alternativ zum konventionellen Leben. Als die Kappelner Straße ausgebaut werden sollte und die Anwohner an ihren Häusern vorbeirauschende Autos befürchteten, bildete sich eine Bürgerinitiative. Brigitte Handler war mittendrin, setzte sich für die Knicks ein, die den Verkehrsweg säumten. Das Projekt konnte nicht gestoppt werden, der Eingriff in die Natur wurde aber gemildert.
Plötzlich saß Brigitte Handler für die gerade gegründeten Grünen im Kreistag. Das Schleswiger Parlament war eine Männer-Domäne, in der sich die junge Frau für den Naturschutz oder die Wind-energie einsetzte und die Einstellung einer Frauenbeauftragten forderte. Das politische Mandat hatte sie nur für ein Jahr. „Das war ein Halbtages-Job“, sagt sie rückblickend. „Nebenbei hatte ich noch die beiden Kinder und natürlich den Beruf.“
1986 kehrte sie zurück zum „Kindergarten Adelby“. Ein Architekt vom städtischen Bauamt, der selbst ein Kind in der Einrichtung hatte, sorgte sich, da seinerzeit zahlreiche Wechsel im Vorstand und in der Leitung für große Unruhe sorgten. Brigitte Handler registrierte einen pädagogischen Stillstand und begann mit 45 Kindern sowie 25 Mitarbeitern. Schnell dachte sie an flexiblere Betreuungszeiten, die sich nicht auf vier Stunden am Vormittag beschränkten, und an eine Öffnung nach außen. Die Einrichtung musste aus der Isolation geholt werden. Nun durften auch Kinder ohne Behinderung in der Tagesstätte am Preesterbarg aufgenommen werden, ein benachbarter Kindergarten wurde regelmäßig besucht.
In die Umwälzungen fiel 1988 der Umzug nach Apenrade. Brigitte Handler hatte ihren heutigen Ehemann Nis-Edwin kennengelernt, der als Leiter auf dem Knivsberg, der Begegnungsstätte der deutschen Minderheit, angestellt war. Mit den beiden eigenen Söhnen sowie drei „Bonuskindern“ bildete sich eine Patchwork-Familie, die auch in Dänemark blieb, als Nis-Edwin kurz darauf einen Job in Flensburg bekommen hatte. „Die Kinder waren gerade eingeschult worden und sollten ohnehin Deutsch und Dänisch lernen“, erklärt Brigitte Handler, die stets zwei bis drei Mal am Tag zwischen Apenrade und Flensburg hin- und herpendelte.
Eines Tages hatte sie einen Termin im Flensburger Rathaus, wo sie am riesigen Tisch des Sozialdezernenten Klaus Barnitzke Platz nahm. Sie referierte über drei neue Integrationsgruppen in unterschiedlichen Flensburger Kindergärten, in denen sogenannte Regelkinder und einige Schützlinge mit Handicap gemeinsam betreut werden sollten. Für den hohen Norden eine völlig neue Philosophie, doch Klaus Barnitzke schob seine üppigen Augenbrauen nur kurz hoch: „Kostet es etwas?“ Brigitte Handler verneinte und durfte loslegen. Integration und Inklusion wurden zum stetigen Wegbegleiter von „Adelby 1“. 1993 bildeten sich in der Kita „So-Lie“ fünf heilpädagogische Gruppen. Es entstanden immer mehr Integrationsgruppen in weiteren Kindergärten. Bis 2015 wuchs das Netzwerk auf zwölf Standorte in der Region Flensburg und rund 400 Mitarbeiter. Die Anfänge erwiesen sich durchaus als ein pädagogisches Abenteuer. Es gab keine Erfahrungswerte. „Das Konzept mussten wir erst noch schreiben“, erzählt Brigitte Handler mit einem Lächeln. „Bei den behinderten Kindern registrierten wir große Entwicklungsschübe, die anderen nahmen Rücksicht, und alle Kinder halfen sich gegenseitig.“ Warum nicht viel früher so, dachte man letztendlich. Brigitte Handler: „Mit der Inklusion schließlich gaben wir endgültig auf, die Kleinen in Schubladen und Schachteln zu sortieren. Alle genießen das gleiche Recht auf Betreuung.“
Trotz der beruflichen Beanspruchung fand die heute 68-Jährige stets Gelegenheit für weitere Ehrenämter. Sie war Vorsitzende im „Deutschen Jugendclub Apenrade“, initiierte mit dem Grenzpendler-Verein ein Infocenter und baute das Hilfsangebot „Schutzengel“ mit auf. In der Freizeit segelt sie auf Traditionsschiffen, singt, kegelt oder wandert. „Einer meiner beiden Söhne“, schmunzelt sie, „sagte einmal zu mir: Du warst nie eine Glucke. Deshalb konnten wir auch schon früh selbst kochen und unsere Wäsche waschen.“
Brigitte Handler mischt noch immer gerne mit, äußert sich aber glücklich darüber, die große Verantwortung 2015 abgegeben zu haben. Just in jenem Jahr schossen die Zahlen der Flüchtlinge enorm in die Höhe. „Hut ab vor den Flensburger Bürgern, die damals gerade am Bahnhof unheimlich viel geleistet haben“, sagt Brigitte Handler. Sie selbst betätigte sich damals eher als „Logistikerin“, übernahm dann aber in der Flüchtlingshilfe den Vorsitz, den sie gerade erst abgegeben hat. Statt der Spenden in der Anfangszeit mussten Anträge auf Zuschüsse für das Vereinshaus gestellt werden. An der Schiffbrücke etablierten sich internationale Frauen- und Kindergruppen oder eine afghanische Kulturgruppe. Auf dem Wunschzettel: ein hauptamtlicher Koordinator.
Brigitte Handler hat längst das Reisen für sich entdeckt. Vor Dekaden stöberte ein befreundetes, älteres Ehepaar in Prospekten zu Gran Canaria und war dann im Winter stets verreist. Als der Mann verstarb, versprachen Brigitte Handler und ihr Mann Nis-Edwin der Witwe:
„Wir kommen einmal im Jahr dich besuchen!“ Die Weihnachtszeit und der Jahreswechsel erhielten so sommerliches Flair. Inzwischen besitzt das Ehepaar ein eigenes Appartement. Die Aufenthalte wurden länger. Nis-Edwin gründete einen Chor, sie singt mit. Auf der Atlantik-Insel ist Brigitte Handler nun auch im Förderverein der Evangelischen Kirchengemeinde engagiert.
4300 Kilometer sind es nach Hause. Ähnlich weit ist es ins russische Omsk. Dorthin pflegt Brigitte Handler einen jährlichen Austausch mit Erzieherinnen, die in „Adelby 1“ hospitieren. Sie selbst war schon in Sibirien. „Ein anderes Land und andere Rahmenbedingungen“, sagt sie. „Ich habe liebenswerte und kreative Menschen kennengelernt.“
In der neuen Geschäftsstelle von „Adelby 1“, die im ehemaligen Gebäude der Bundesbank residiert, trifft man Brigitte Handler nur selten an. Kürzlich besuchte sie aber mal wieder alle Einrichtungen der Adelby1-Gruppe, um die letztendlich abgesagte 50-Jahr-Feier vorzubereiten. Ein Slogan lautet: „Mitdenken. Mitnehmen. Mitmachen“. Der passt auch zu ihrem abwechslungsreichen Leben. Brigitte Handler: „Ich habe immer viel gelernt.“
Text: Jan Kirschner
Fotos: Jan Kirschner, privat
Brigitte Handler: „Ich glaube, dass es gut wird!“
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