Halbförmig umringt von einer Hecke steht am nördlichen Ende des Parkplatzes am Verwaltungssitz des Selbsthilfe-Bauvereins (SBV) ein rotbrauner Gedenkstein. Auf ihm sind das Konterfei eines Mannes und das Datum 21. Juli 1949 zu entdecken. Es handelt sich um Willi Sander, der vor 75 Jahren als Gründungsvater der Wohnungsbaugenossenschaft agierte. Er war Ratsherr, erster SBV-Vorsitzender und im Flensburg der Nachkriegszeit äußerst präsent. Er eilte oft mit Bauplänen unter dem Arm von einer Behörde zur nächsten, schleppte dringend benötigtes Werkzeug zu den Baustellen oder machte sich auf den Weg nach Kiel, um im Ministerium die Gemeinnützigkeit des SBV durchzuboxen. Im Volksmund erhielt der Stadtteil Fruerlund bald den Spitznamen „Sanderup“, benannt nach Willi Sander, der im Juni 1995 verstarb.
Es war der 21. Juli 1949, als sich am späten Abend 36 Heimatvertriebene, vor allem aus Schlesien, Ostpommern und dem Sudetenland, im Lokal „Sanssouci“ (Friesische Straße 21) trafen. Sie hatten Bombenkrieg, Vertreibung, Kriegsgefangenschaft oder Hunger hinter sich und lebten nun in einem der Flensburger Massenquartiere. In der blitzschnell zur Großstadt angewachsenen Fördestadt waren Wohnungen Mangelware. Die Anwesenden griffen zur Selbsthilfe, gründeten einen Verein, wählten einen Vorstand und sagten der Wohnungsnot den Kampf an. Viele Männer der Praxis taten sich zusammen. Zu den Gründern gehörten unter anderem zwei Bauführer, ein Baumeister, ein Betonpolier, ein Tischler und ein Zimmermann.
Die Aufbauphase im Wirtschaftswunder
Der organisatorische Rahmen wurde schnell geschaffen. Im Januar 1950 wurde der SBV ins Genossenschaftsregister eingetragen, im April war die Gemeinnützigkeit anerkannt, und im August folgte die erste Mitgliederversammlung in der „Neuen Harmonie“. Danach ging es Schlag auf Schlag: In ihrer ersten Dekade baute die Genossenschaft nicht weniger als 600 neue Wohnungen. Willi Sander war es gelungen, Mittel aus dem Marshallplan zu akquirieren. Das Wachstum war so fulminant, dass einige Zeitgenossen gar meinten, dass es nicht mehr weit sei, bis „Mürwik zur Großstadt avancieren und das kleine Flensburg eingemeinden wird“. Andere mutmaßten angesichts der großen Investitionen, dass der SBV eigentlich pleite sein müsste.
Das enorme Tempo der Anfangsjahre ließ sich nicht unendlich fortsetzen. Der SBV setzte aber weiterhin Trends. Etwa 1964, als die Genossenschaft in der Travestraße eine erste Fernwärme-Versorgung installierte. Inspiriert von einer Idee aus Dänemark und noch vor den Stadtwerken entstand ein Zentralheizwerk mit einem über 30 Meter hohen Schornstein, der in den Baukörper eines achtgeschossigen Wohngebäudes integriert war. Die Befeuerung erfolgte über eine Müllverbrennungsanlage.
Epochenwechsel im Vorstand
1975 ging Willi Sander in den wohlverdienten Ruhestand – mit einer Feier im damaligen „Hotel Europa“. Seine Nachfolge trat Helmut Schumann an, der 1954 als Lehrling beim SBV angefangen hatte und den SBV bis 2002 führen sollte. Der Philosophie der Genossenschaft blieb er treu, wenngleich sich die Zeiten rasch änderten. In den 80er Jahren hatte sich der Bedarf nach Wohnungen stark reduziert, es musste gar ein Leerstand verwaltet werden, und 1990 verloren bundesweit die Wohnungsbauunternehmen ihre Gemeinnützigkeit. Der Zustrom von Spätaussiedlern, Menschen aus der ehemaligen DDR und Flüchtlingen ließen Wohnungen dann doch wieder zu einem begehrten Gut werden.
2002 übernahm Raimund Dankowski für 15 Jahre den Vorstandsvorsitz. Mit dem Diplom-Betriebswirt an der Spitze erwarb der SBV von der Stadt Flensburg deren Wohnungsbaugesellschaft „WoBau“ mit 4800 Einheiten für 115 Millionen Euro. Die Kommune hätte mithilfe von Investoren ihre Schulden gewiss noch stärker abbauen können, entschied sich aber für ein genossenschaftliches Dach ihres ehemaligen Bestandes.
Der SBV heute
Der SBV zählt heute 13.000 Mitglieder und 7600 Wohneinheiten. Die Bautätigkeit erlahmt nicht. Zuletzt wurde der Wohnpark Tarup mit 300 Haushalten und einem Nahversorgungszentrum realisiert. Am Schwarzen Weg entstehen demnächst 100 weitere Einheiten. Ein weiteres Projekt auf einem Parkplatz an der Heinrichstraße befindet sich in der Endabstimmung.
Derzeit sind Grundstücke nur schwer zu bekommen und die Baukosten explodiert. Dennoch lässt die Stadt Flensburg derzeit prüfen, ob es sinnvoll wäre, eine eigene kommunale Wohnungsgesellschaft zu gründen. „Wir sollten an einem Strang ziehen, gemeinsam entwickeln und nicht in Konkurrenz treten“, meint der seit 2017 amtierende SBV-Vorstandsvorsitzende Jürgen Möller. „Die gleichen Firmen, die für uns bauen, würden es für die Stadt nicht günstiger machen.“ Vielmehr sei es wichtig, das Bauen im Spektrum von Klima-Maßnahmen und EU-Regelungen zu vereinfachen.
Eine aktuelle Statistik besagt: Die Miete beim SBV beträgt im Schnitt 5,96 Euro für einen Quadratmeter. Der Trend zeigt nach oben. Die Kosten steigen trotz Fernwärme und machen auch vor einer Genossenschaft nicht Halt. Zudem ist geplant, in der nächsten Dekade 380 Millionen Euro in den Bestand zu investieren: Modernisierungen und energetische Maßnahmen sind nötig. Manchmal gibt es keine Alternative zu einem Ersatzneubau.
Die Philosophie des SBV
Der Geist von 1949 tickt weiterhin im SBV. „Die Mitglieder, die Mieter und die Mitarbeiter halten weiterhin den genossenschaftlichen Gedanken hoch“, wissen Jürgen Möller und Vorstand Michael Ebsen, der seit 2017 das Vorstands-Team komplettiert. Diese Einstellung spüren sie besonders in der Keimzelle Fruerlund, aber auch in den Stadtteilen, die erst 2006 auf der SBV-Karte erschienen. Miteinander sprechen, das Miteinander pflegen sind gelebte Grundsätze, die trotz aller Fluktuation nicht verschwunden sind. Inzwischen haben auch Jüngere, vor allem Studenten, den SBV als Vermieter entdeckt und schätzen moderne Errungenschaften wie das Car-Sharing, das gemeinsam mit anderen Mitgliedern des Flensburger Klimapakts – der SBV ist ein Gründungsmitglied – nach Flensburg geholt worden ist.
Jedes Jahr animiert der SBV durch das „Frühstück mit den Nachbarn“ zu einem gemeinsamen Vormittag vor den Häusern. Das wird dieses Mal, nämlich am 6. Juli, nicht anders sein, aber zusätzlich unter das Motto „75 Jahre SBV“ gestellt. Das Jubiläum selbst bekommt am 20. Juli seine große Bühne. Am Hafen gibt es zunächst einen offiziellen Empfang, dann ein Familienfest, ehe am Abend in der Werft „Robbe & Berking“ ein Festball aufgezogen wird. 600 Karten werden ausgegeben. Die zehn Euro sind ein genossenschaftlicher Preis, mit dem in den Gründungstag hineingefeiert wird. Es war der 21. Juli 1949.
Jan Kirschner