Immerhin gab es keine sprachlichen Probleme. Aber es ist nun einmal in wenigen Tagen viel zu regeln, wenn sich ein Handballer aus einem anderen Land mitten in der Saison der SG Flensburg-Handewitt anschließt. Der Österreicher Boris Zivkovic bezeichnete diese Phase als „sehr turbulent“. Aufgrund des nahenden Endes der Wechselfrist zum 15. Februar musste alles schnell gehen. Auch der private Umzug von Ostpolen an die Förde. Der Profi traf zusammen mit Ehefrau Dania und dem kleinen Sohn ein – aber ohne Möbel. „Die habe ich erst einmal nach Österreich geschickt“, erzählt der Neuzugang mit einem Schmunzeln. Sein Vertrag bei der SG läuft nur bis Ende Juni. Was dann kommt, steht noch in den Sternen.
Es war ein Dienstag, als Boris Zivkovic erstmals in seinem Leben Flensburger Boden betrat. Und wenige Stunden später schnupperte er die Atmosphäre der „Hölle Nord“. Seine zukünftigen Teamkollegen spielten erfolgreich gegen Bjerringbro-Silkeborg, der österreichische Linkshänder meisterte auf dem Spielfeld ein erstes Interview. Tags darauf hatte die Mannschaft frei, der Neuzugang hatte aber volles Programm und sammelte nebenbei ein paar Eindrücke von Flensburg. „Das Wetter ist ja nicht so gut, aber sonst ist es ein schönes Fleckchen“, stellte er fest. Der Sportliche Leiter Ljubomir Vranjes half bei der Wohnungssuche. Tags darauf war das erste Training. Es gab für Boris Zivkovic unheimlich viel Input. Seine neuen Kollegen kannte er nur als Gegner – wenn überhaupt.
Wurzeln auf dem Balkan
Mit allen kann der Österreicher auf Deutsch sprechen, mit einem plaudert er in der Freizeit auf Serbokroatisch: mit Benjamin Buric. Der Torwart wurde im bosnischen Doboj geboren, genau in dem Ort, in dem einst die Eltern von Boris Zivkovic lebten. Sie flüchteten vor dem Bürgerkrieg aus Bosnien-Herzegowina und ließen sich am Bodensee nieder. Im österreichischen Bregenz wurde der Sohn im Mai 1992 geboren. Früher war er häufiger auf dem Balkan bei Verwandten zu Besuch, jetzt lebt aber nur noch eine Oma dort.
Boris Zivkovic wuchs im „schönen Ländle“, wie die Einheimischen das österreichische Bundesland Vorarlberg nennen, auf. Der Vater war ein guter Handballer. Da war es naheliegend, dass auch der Junior in diesem Sport groß werden würde. In Hard, einer Nachbargemeinde von Bregenz, ist einer der erfolgreichsten Klubs Österreichs ansässig: der HC Alpla. Das wurde der Stammverein, dem Boris Zivkovic lange treublieb. Mit 17 Jahren schaffte er den Sprung ins Männer-Team, mit dem er ab 2012 insgesamt sechs Mal österreichischer Meister wurde.
Auf einige dieser Titel hätte er verzichten müssen, wenn es früher etwas mit einer internationalen Karriere geworden wäre. Mit 23 Jahren hatte Boris Zivkovic bereits einen Vertrag in Bern, der Hauptstadt der Schweiz, unterschrieben. Nach einem Kreuzbandriss ließ der Klub aber das Arbeitspapier auflösen. „Mit 19 Jahren hatte ich eine Schulter-OP, dann etwas am Knöchel“, erzählt der 31-Jährige. „Im Prinzip hatte ich alle zwei Jahre eine Verletzung, sodass es lange nichts wurde mit dem Ausland.“
Der Wechsel nach Polen
Erst 2021 konnte ihn sein Berater erfolgreich beim polnischen Erstligisten Azoty-Pulawy ins Gespräch bringen. „Ich war der erste österreichische Handballer in Polen“, erzählt der Linkshänder. „In Pulawy war es einfacher, vom Sport zu leben, als in der Heimat.“ Mit seiner Frau war er in einer polnischen Provinzstadt ohne Altstadt-Flair gelandet. Diese liegt aber nur eine halbe von Lubin und eine ganze Stunde von Warschau entfernt. Dank seiner slawischen Vorprägung erwies sich die polnische Sprache nicht als Hindernis. Die sportlichen Perspektiven waren zunächst gut. Azoty-Pulawy trat zunächst als dritte Kraft hinter Kielce und Plock an. In der European League scheiterte man aber früh an Berlin und den Kroaten aus Nexe, ehe in dieser Saison die europäische Bühne einen Bogen um das Städtchen an der Weichsel machte. In Boris Zivkovic reifte der Gedanke, seinen eigentlich bis Mitte 2025 laufenden Kontrakt zu verkürzen.
Das Interesse der SG
Der Zufall wollte es: Die SG klopfte aufgrund des längeren Ausfalls von Kay Smits den Transfermarkt ab. Der war praktisch leergefegt. Also schaute man nach Linkshändern, die über eine gewisse Klasse verfügen und – vor allem – relativ problemlos aus laufenden Verträgen entlassen werden konnten. Was Boris Zivkovic interessant machte: die Erfahrung im österreichischen Nationalteam. Er bringt es auf 60 internationale Einsätze und erlebte bei der Heim-EM 2020 sowie beim EM-Turnier im Januar zwei Höhenflüge der Alpen-Handballer.
Anfang Februar erhielt Boris Zivkovic den Anruf einer unbekannten Nummer. Er ging nicht ran. Kurz darauf erreichte ihn eine Nachricht. Sie stammte von SG-Trainer Nicolej Krickau. Der fragte beim Österreicher an, ob er sich einen Wechsel vorstellen könnte. „Wenn ein Verein wie die SG anfragt, überlegt man nicht lange“, dachte Boris Zivkovic und sagte zu. Azoty-Pulawy legte ihm keine Steine in den Weg.
Für die SG gab der Österreicher bei den Rhein-Neckar Löwen sein Debüt und reiste mit ins serbische Novi Sad. Gegen die Füchse Berlin folgte das erste Heimspiel vor 6300 Zuschauern in der Campushalle. „Im Vereinshandball habe ich noch nie vor so einer Kulisse gespielt“, erwähnt Boris Zivkovic, der sich gut in Flensburg einlebte. „Trainer und Mannschaftskollegen sind alle nett zu mir“, spürt er den Teamgeist. „In Pulawy ging nach den Spielen oder nach dem Training immer alles schnell auseinander. Das scheint hier anders zu sein, man unternimmt auch mal etwas zusammen.“
Text und Fotos: Jan Kirschner