Es war der erste Millionenraub in der Geschichte Flensburgs: Anfang März 1923 entwendeten Gauner bei Kaufmann Uldall in der Norderstraße mehrere Damenmäntel im Wert von über einer Million Mark und steckten in einem Waffengeschäft zwei Millionen Mark teure Revolver ein. Das Diebesgut verkauften sie dann an einen Hehler in Hamburg und flogen dort auf. Viel hatten die Kriminellen also nicht von ihrem Raubzug, zumal die Entwertung des Geldes im Inflationsprozess immer stärker wurde.
So finden sich viele Meldungen in den „Flensburger Nachrichten“ über scheinbar gigantische Ganoven-Coups. Anfang Februar 1923 wurden bei der Güterabfertigung der Staatseisenbahn 29 Pfund Margarine aus einem Waggon gestohlen. Der Schaden: 165.000 Mark. Und rund einen Monat später ließ ein früherer Angestellter einer Firma in der Johannisstraße Zigarren im Wert von einer Million Mark mitgehen. Die Kriminalität nahm zu. Deshalb wurde im Juni eine Beratungsstelle der Polizeiverwaltung eingerichtet – zum Schutz vor Einbruch und Diebstahl. Ein Tipp: „Misstraue jeglichem Fremden, der dein Haus oder deine Wohnung betritt, gib Unbekannten niemals Auskunft über deine und deiner Hausbewohner Verhältnisse.“
Der Sommer 1923 war in Flensburg alles andere als gut. Die Witterung drückte das ohnehin angeschlagene Gemüt der Menschen weiter. Die Zeitgenossen hatten das Gefühl, dass die Welt aus den Fugen geraten war. Im Lande herrschten überall Unruhen und wirtschaftliche Not. Der Nährboden für einen Putsch war bereitet. Die Regierung um Kanzler Wilhelm Cuno war gescheitert und trat schließlich am 12. August 1923 zurück. In der Außenpolitik entflammten immer wieder Krisenherde. Franzosen und Belgier besetzten seit Monaten das Ruhrgebiet. In den Vereinigten Staaten, die immer mehr zur Weltmacht aufstiegen, verstarb ganz plötzlich Präsident Warren G. Harding. Im Mittelmeerraum standen sich Italien und Griechenland unversöhnlich gegenüber. Und die Prophezeiungen waren gar nicht gut: Eine Sonnenfinsternis kündigte sich in Nordamerika an, andernorts ein Komet. Zwei Unglücksboten des Aberglaubens.
Inflation seit dem Ersten Weltkrieg
Den Alltag der Menschen prägten in der jungen Weimarer Republik vor allem eine grassierende Armut und eine Hyper-Inflation. Ende Juli 1923 gab die Reichsbank in drei Tagen nicht weniger als zwei Billionen Mark heraus. Der neueste Schrei aus Berlin: Banknoten über 500.000 Mark und Millionen-Scheine. Unter den Bürgern gab es immer mehr Millionäre, allerdings gab es für eine Million Mark auch immer weniger zu kaufen. Ihr Wert hatte zunehmend homöopathische Dosen.
Eine Inflation gab es schon im Ersten Weltkrieg, ab 1922 zeigten sie extreme Auswüchse. Was waren die Ursachen? Zum einen hatte die Bevölkerung dem Staat Millionen von Mark für die Kriegskosten vorgestreckt – in sogenannten Kriegsanleihen. Diese mussten zurückgezahlt werden. Zudem pochten die Alliierten auf Reparationsleistungen. Die Weimarer Republik kam den ausländischen Forderungen nicht ausreichend nach, sodass Franzosen und Belgier im Winter 1923 das Ruhrgebiet besetzten. Die deutsche Regierung rief zum passiven Widerstand und Streik auf – und brachte mehr und mehr Geld in Umlauf. Ein Teufelskreis hatte begonnen. Wer seinen Lohn nicht gleich nach Erhalt wieder ausgab, konnte sich schon Tage, manchmal Stunden später, kaum noch etwas kaufen.
Stetige Forderungen nach mehr Gehalt und Streiks prägten das Krisenjahr 1923. Im April gingen die Flensburger Bäckergesellen auf die Barrikaden und pochten auf eine Erhöhung des Wochenlohns von 60.000 auf 75.000 Mark. Die Arbeitgeber zeigten sie zunächst stur, dann schaltete sich ein Vermittlungsausschuss ein. Letztendlich waren viele froh, überhaupt Arbeit zu haben. Flensburg zählte immer mehr Erwerbslose: Mitte Oktober waren es offiziell 1.985.
Baubranche in der Krise
Rund ein Fünftel der Flensburger Beschäftigten war in der Baubranche tätig. Zwar wurde im März 1923 noch Richtfest für das neue Reichsbankgebäude am Südergraben gefeiert, doch die Wirtschaftskrise ließ die Konjunktur erlahmen. Bei Baumaterial, Löhnen und Frachtkosten verzeichneten die Bauherren ungeheure Verteuerungen. Die Stadt stellte im Juli fest, dass das Reich nur Zuschüsse in Höhe von 150 Millionen Mark bewilligt hatte und kürzte das eigene Bauprogramm weiter. Die Summe aus Berlin war zu einem bescheidenen Sümmchen mutiert. Allein das neue Krankenauto für die Sanitätswache kostete 400 Millionen Mark.
Die Hyper-Inflation hatte die Kassen der Kommunen in ein Chaos gestürzt. Am 20. April 1923 berieten die städtischen Kollegien sechs lange Stunden über den neuen Haushalt, der stolze 6,7 Milliarden Mark bilanzierte. Hauptsächlich wurde über die Gewerbesteuer debattiert, die schließlich auf 4000 Prozent angehoben wurde. Die Stadt brauchte rasch Mittel und dachte sogar über die Stilllegung der Straßenbahn nach. Im Laufe des Sommers klaffte ein immer größeres Defizit im Budget. Anfang Juli 1923 waren es zehn Millionen, einen Monat später bereits 40 Milliarden.
Gewerbesteuer-Erhöhungen im Dauer-Modus
In jeder Sitzung erhöhten die Gremien nun die Gewerbesteuer. „Diese ist ja gar keine Steuer mehr, sondern eine Verringerung des Vermögens“, meinte ein Stadtrat. „Wer die kleinere und größere Geschäftswelt kennt, weiß von einer nie dagewesenen Zahlungsunfähigkeit.“ Die Verbände der Handwerker und des Handels luden immer wieder zu Protestversammlungen ein. Auch bei den Gastronomen gärte der Unmut. Wegen einer neuen Getränkesteuer schlossen sie im September für einige Wochen fast alle Hotels und Restaurants.
Während es in den umliegenden Bauerndörfern zumindest genug zu essen gab, sorgte die schwindende Kaufkraft in der Urbanität für eine existenzielle Not. Die „Flensburger Nachrichten“ schrieben am 4. August 1923: „Es ist kein Wunder, wenn den Hausfrauen vor dem nächsten Tage graut, wenn sie abends vor Kopfzerbrechen und häufig genug vor regelrechter Angst nicht in den Schlaf fallen können. Wer kann wissen, wie am nächsten Morgen die Preise für die notwendigen Lebensmittel stehen? Sie machen sich auf schmerzliche Enttäuschungen und Überraschungen gefasst, die aber immer übertroffen werden.“ Ein Beispiel: Anfang August kostete ein Liter Vollmilch 28.000 Mark, am 24. August 1923 waren die 100.000
erreicht.
Beschaffung von Papiergeld
Ein Währungswirrwarr griff um sich. Es gab die klassische Papiermark, aber auch eine Kontomark, eine Goldnote und Notgeld verschiedener lokaler Institutionen. Falsche Blüten tauchten vermehrt auf. Ausländische Devisen wie Dollar und dänische Kronen wurden immer beliebter. Am Nordermarkt, vor dem Sitz der dänischen Zeitung „Flensborg Avis“, entwickelte sich eine „Straßenbörse“ – das berichtete zumindest die konservative „Flensburger Nachrichten“. Bei einer Razzia sollen 30 Personen abgeführt und 100 Kronen sowie zwei Dollar angefunden worden sein.
Die offiziellen Geldinstitute zogen sich immer mehr zurück. Die Flensburger Banken und Sparkassen schlossen im August 1923 ihre Geschäftsräume an den Nachmittagen und am Mittwoch sogar ganztägig. Der Grund: Überlastung. Um genug Geld im Umlauf zu haben, wurde auch die Stadt aktiv. Mitte September teilte Oberbürgermeister Hermann Todsen mit: „Um sofort eingreifen zu können, haben wir beim Ministerium beantragt, Notgeld im Betrag von fünf Billionen Mark herausgeben zu können. Das nötige Papier mit Wasserzeichen ist vorhanden, die Herstellung wäre in einer Nacht möglich.“ Am 24. Oktober lief tatsächlich die Druckerpresse und spuckte Notgeldscheine über zehn Milliarden Mark aus. Einen Tag später folgte die städtische Spar- und Leihkasse mit Schecks über zehn, 20 und 50 Milliarden Mark.
In dieser Notlage dachten viele Menschen über eine Auswanderung nach. Zu denen, die Ernst machten, gehörte Carl Gerhardt. Der langjährige Spielführer der Fußballer des MTV Flensburg ging in die USA und gab am 21. Oktober 1923 seine Abschiedsvorstellung. In den Zeitungen warb die Reederei „Norddeutscher Lloyd“, die eine Filiale an der Schiffbrücke hatte, mit „Dampfern nach Südamerika über Spanien“. Unter den Privatanzeigen der „Flensburger Nachrichten“ fand sich diese Annonce: „Hübsche 21-jährige Deutsch-Amerikanerin mit zwei Millionen Dollar wünscht sich mit Herrn, auch ohne Vermögen, zu verheiraten!“
Hunger in der Stadt
Besonders schwer hatten es die Sozialschwachen, die Hunger litten. In Flensburg gab es im Herbst 1923 2000 Erwerbslose, 1500 Sozialrentner und 1000 Kleinkapitalrentner. Über die Flensburger Kirchen liefen Spendenaktionen. Ein Flensburger Hilfswerk wurde eingerichtet, um Notleidende mit Kleidung und Lebensmitteln zu versorgen. Dennoch registrierte man immer mehr geplünderte Gemüsegärten.
Stadt und Land rückten zusammen. Am 13. Oktober 1923 lud Landrat Anton Wallroth (DNVP) die wirtschaftlichen Organisationen aus Stadt und Kreis ein, um die Ernährungslage zu erörtern. Am Ende des Gesprächs stand das Versprechen der Kreisvertreter, überschüssige Lebensmittel „in erster Linie an die Bewohner der Stadt Flensburg zu liefern“. Allerdings hatte der eher ungünstige Sommer die Kartoffelernte beeinträchtigt. Flensburg meldete einen Bedarf von 120.000 Zentnern an, der Landkreis glaubte allerdings, dieses Volumen nur zu 20 bis 25 Prozent decken zu können.
Am 6. November 1923 folgte eine große Sitzung im Flensburger Rathaus. Vertreter aus Stadt und Umland bildeten nun eine Notgemeinschaft. Flensburg sicherte dem Landkreis zu, dass Gaben nur noch auf dem offiziellen Wege der gemeinsamen Fürsorge eingefordert werden sollen und man zugleich der „Hausbettelei energisch entgegenzutreten“ habe. Das Motto lautete: „Gebt den Hungernden zu essen und tretet den Zuchtlosen entgegen!“
Der Höhepunkt der Inflation
Die städtischen Gremien trafen sich nun jeden Mittwoch. Man befand sich im Krisenmodus. Die Gewerbesteuer wies nun das 624.000fache der Sätze aus dem dritten Quartal auf. Ein anderes Thema am 24. Oktober 1923: Einige Menschen hatten Gutscheine für Strom und Gas gehamstert und später mit „kolossalem Gewinn“ veräußert. „Die haben 400 Millionen Mark an einem einzigen Kubikmeter Gas verdient“, raunten die Stadträte. Allerdings mussten solche Summen schnell investiert werden. Eine einzige Fahrt mit der Straßenbahn kostete an jenem Tag 300 Millionen Mark. Dann tätigte die Stadt Flensburg die nominell größte Investition in ihrer Geschichte: Der Magistrat beschloss den Ankauf von 3000 Zentnern Kartoffeln zu 150 Billionen Mark.
Im November 1923 hatte die Inflation ihren dramatischen Höhepunkt erreicht. Während die Reichsbank mittlerweile auch Geldscheine über 100 Billionen Mark drucken ließ, zerbröselte allerorts ihr Wert. Kostete im Januar ein Brot noch 400 Mark, waren es nun 600 Milliarden. Aufs Geld zu schauen, war in jenen Tagen töricht, das Schuldenmachen – wenn möglich – ein gewiefter Zug. Und Geldstrafen sollte man am besten ein paar Tage aussitzen. Als ein Flensburger Schlachtergeselle wegen Beamtenbeleidigung 100 Milliarden Mark aufgebrummt bekam, war diese Summe sehr bald nur noch ein Taschengeld.
Die Währungsreform
Am 20. November 1923 war die Zeit der astronomischen Zahlen vorbei. Die Regierung um Reichskanzler Gustav Stresemann führte eine Währungsreform durch: Aus einer Billion Mark wurde eine Rentenmark, im Volksmund auch Goldmark. Der Staat war selbst der größte Profiteur: Die gesamten Kriegsschulden in Höhe von 154 Milliarden Mark beliefen sich plötzlich auf nur noch 15,4 Pfennige. Die „Flensburger Nachrichten“ erschienen am 20. November noch mit einem Kaufpreis von 80 Milliarden Mark. Dann setzten sie für einen Tag ihr Erscheinen aus und waren am 22. November für ganze zehn Goldpfennige zu kriegen.
Für den Erfolg der neuen Währung war eine außenpolitische Wende am wichtigsten: Angesichts der katastrophalen Zustände in Deutschland überdachten die Alliierten ihre Strategie der Reparationszahlungen und definierten sie mit dem sogenannten Dawes-Plan neu. Der Lebensstandard der Menschen erreichte aber erst 1928 wieder das Niveau von 1913, dem letzten vollen Friedensjahr vor dem Ersten Weltkrieg. Die oft zitierten „goldenen Zwanziger“ waren also sehr kurz, denn bereits im Herbst 1929 erfasste die Weltwirtschaftskrise den Globus.
Text: Jan Kirschner
Fotos: Stadtarchiv Flensburg