Die bunten Wahlplakate hingen auch in Bönstrup, als Lokalmatador Wolfgang Börnsen insgesamt sieben Mal für den Bundestag kandidierte und vier Mal direkt sowie drei Mal über die Landesliste in den Bundestag einzog. Die 26 Jahre währende Zeit als Abgeordneter war stets mit einem besonderen geografischen Spagat verbunden. Von der Hauptstadt ging es nach Hause in den hohen Norden, ins nur 300 Einwohner zählende Dorf, das abseits größerer Straßen liegt und als ein Hort der sprichwörtlichen Ruhe bezeichnet werden kann.
In Bönstrup genießt der inzwischen 80-Jährige einen Ruhestand, den vor allem die Familie belebt. Wenn man aus Husbymühle kommt, ist der Familienstein an der Einfahrt nicht zu übersehen. Auf einem ehemaligen Bauernhof halten drei Generationen zusammen. Der Blickfang ist das Reetdachhaus aus dem Jahr 1854, das sich harmonisch in die Idylle Angelns einfügt. Wolfang Börnsen und seine Ehefrau Jenny bewohnen die Abnahme und betreuen gerne die fünf Enkelkinder, die sich auf dem Grundstück tummeln. „Die spielen die größte Rolle in unserem Leben“, sagt der Großvater mit einem Lächeln. Sonst widmet der Senior seine Zeit hauptsächlich dem Schreiben von Büchern und Theater-Stücken.
In Bönstrup aufgewachsen
Wolfgang Börnsen wurde am 26. April 1942 in Flensburg in der Diakonissenanstalt geboren. Mit der Mutter, dem Bruder, den Großeltern und der Großtante wuchs er auf dem Bauernhof in Bönstrup auf – ohne Vater. Dessen Spuren verloren sich am Ende des Zweiten Weltkriegs in Rumänien. Stattdessen waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit 17 Flüchtlinge auf dem Hof einquartiert. Als die Familie wieder unter sich war, wurde der landwirtschaftliche Betrieb eingestellt. Wolfgang Börnsen ging nach Grundhof zur Schule. Drei Kilometer hin und drei Kilometer zurück – alles zu Fuß. Nach der sechsten Klasse fuhr ein Bus weiter nach Sterup. Das Ziel: die mittlere Reife.
Es folgte eine Maurerlehre in Husby. Der junge Mann packte mit an, als Häuser in Hürup, Munkbrarup oder Solitüde gebaut wurden. Als Geselle verdiente Wolfgang Börnsen schon etwas mehr Geld, wenngleich er im Winter stempeln musste. Damals wurden einige Getreidesilos hochgezogen. „Du hast zwei linke Hände“, bekam Wolfgang Börnsen wiederholt zu hören. Er selbst war auch mehr fasziniert von dem, was so alles auf dem Jugendhof Scheersberg passierte. Er war bald Assistent für Gruppenpädagogik, organisierte Zeltlager mit und schätzte vor allem Veranstaltungen der politischen Bildung sowie das Theater.
Die 60er Jahre waren noch jung, das Interesse an der weiten Welt groß, als Wolfgang Börnsen einige Monate für die Entwicklungshilfe in Indien unterwegs war. Seine Erfahrungen als Handwerker halfen, um in der Millionenmetropole Madras oder in der Provinz des Südens das Potenzial geeigneter Arbeitsplätze auszuloten. Dann besuchte der deutsche Gast ein Camp mit Lepra-Kranken am Himalaya und gewann schockierende Einblicke. Infizierte wurden nicht etwa mit geeigneten Medikamenten behandelt, sondern isoliert.
Der Amerika-Tripp
Als Nächstes entdeckte Wolfgang Börnsen eine Ausschreibung, die ihn erstmals in die USA brachte. Zusammen mit jungen Leuten aus Italien, Norwegen oder China betreute er zunächst in New Jersey ein achtwöchiges Ferienlager – für Kinder jüdischer Familien. Viele Eltern protestierten gegen den Deutschen angesichts des Holocausts zur Nazi-Zeit. Die beiden Hauptorganisatoren, ein jüdisches Ehepaar, hielten zu Wolfgang Börnsen, der deshalb sehr bald eine Theater-Inszenierung mit 120 Kindern leiten konnte: „As You Like It“ von William Shakespeare.
Weitere Stationen in den Staaten folgten. Der junge Mann besuchte die Mormonen in Montana, bewunderte die Berge von Arkansas und tourte schließlich 14 Tage mit Greyhound-Bussen durch das Land. Er genoss in New Orleans den Jazz, stieß dort aber auch auf den Schatten der Rassentrennung. „In den Bussen saßen vorne die Weißen, hinten die Schwarzen“, erzählt Wolfgang Börnsen. „Ich bin immer nach hinten gegangen und musste mir dann böse Kommentare von den Weißen anhören.“
Wieder in Deutschland dachte er an das Abitur, war aber zu alt für den normalen Bildungsweg. Und gegen die Abendschule sprachen die vielen anderen Aktivitäten. Angesichts dieser Rahmenbedingungen erschien die Begabten-Prüfung in Kiel als die beste Lösung. Wolfgang Börnsen lernte zweieinhalb Jahre intensiv und verdiente nebenbei Geld mit Vorträgen in der Erwachsenen-Bildung oder als Schlagzeuger in diversen Bands. „Gerade Hochzeiten waren bei uns beliebt“, erinnert er sich. „Da gab es gut zu essen und auch gute Honorare.“
Als Lehrer an Grund- und Hauptschulen
Nach bestandener Prüfung studierte Wolfgang Börnsen politische Wissenschaft und Geschichte. Später kam die evangelische Religion hinzu. Auch die darstellende Kunst behielt eine große Bedeutung, sodass er sogar als Lehrbeauftragter für die Freizeit- und Theaterpädagogik in Kiel und Flensburg fungierte. Der Lehrer unterrichtete an den Grund- und Hauptschulen in Langballig und Munkbrarup, ehe die Käte-Lassen-Schule in Flensburg 14 Jahre lang den Alltag prägte. „Ich bin gerne Lehrer gewesen“, betont der 80-Jährige. „Ich fehlte in der ganzen Zeit nur drei Stunden, weil ich einmal gefeiert hatte und es am nächsten Tag irgendwann nicht mehr ging.“
Die Rolle der Politik wurde immer größer. Wolfgang Börnsen engagierte sich im Kreisjugendring und in der Landjugend, trat 1967 in die CDU ein und saß schon bald im Kreistag von Flensburg-Land. Für die Bundestagswahl 1980 rückte der Bönstruper erstmals auf die Liste potenzieller Abgeordneter. Franz Josef Strauß aus Bayern, der Kanzlerkandidat der Union, löste beim Nordlicht allerdings keine überschwängliche Euphorie aus. Der fast gleichaltrige Harm Dallmeyer schaffte den Sprung in den Bundestag nach Bonn und gewann 1983 den Wahlkreis „Flensburg-Schleswig“ für die CDU. Doch nur wenige Wochen später verstarb dieser völlig überraschend.
1987 begann die Bundestagsära
von Wolfgang Börnsen, nachdem er sich mit seiner Ehefrau abgesprochen hatte. Diese hatte sich nun weitgehend allein um die vier Kinder, die zwischen vier und elf Jahre alt waren, zu kümmern, da der Familienvater unter der Woche in einer kleinen Bonner Wohnung residierte. Damals gab es nur das Festnetz-Telefon, aber keine Handys oder gar Video-Konferenzen. Immerhin: Für die Abstinenz seines Vaters hatte der jüngste Sohn bald eine stolze Erklärung: „Mein Papa ist nun Bundesliga-Abgeordneter.“
Wolfgang Börnsen war nicht immer zu Sitzungen in Bonn oder später in Berlin. Es standen auch bis zu 100 Veranstaltungen im Wahlkreis pro Jahr auf dem Plan. Der Abgeordnete stellte in Schulen die Arbeit im Bundestag vor, besichtigte Betriebe zwischen Kupfermühle, Kappeln und Kropp oder besuchte Institutionen wie die „IG Metall“ oder die Landfrauen. „Ich wollte immer die Hemmschwelle zwischen der Politik und den Bürgern senken“, erklärt er. „So erfuhr ich, wo der Schuh drückte, und konnte dann etwas tun.“
Nobody schlägt Egon Bahr
Den ersten Wahlkampf hat Wolfgang Börnsen noch bestens in Erinnerung. Er war bisweilen frostig – wegen der Witterung. Die Bundesbürger hatten ihre Stimmen am 25. Januar 1987 abzugeben. In den Wochen zuvor buhlten die Kandidaten um die Gunst der Wähler. Der einzige aussichtsreiche Mitbewerber war damals Egon Bahr, die Ostpolitik-Koryphäe der SPD. Die beiden trafen sich im Landgasthof Bönstrup, einigten sich darauf, sich in der Sache auseinanderzusetzen, sich aber nicht persönlich anzugreifen.
Am Ende resultierte aus dem Vorsprung von 4000 Stimmen die Schlagzeile: „Nobody schlägt Egon Bahr.“ Der Herausforderer profitierte von der politischen Wetterlage, aber auch von seiner Verwurzelung in der Region. Kreistag, Kultur und Museen – Wolfgang Börnsen tanzte auf vielen Hochzeiten. Zuvor hatte er bei Frost und Schnee die Menschen auf der Straße angesprochen, war mit einem Oldtimer-Bus im Wahlkreis unterwegs gewesen und hatte als Kino-Freund eigene Werbespots eingefädelt. Da warf er sich auch mal in der Montur eines American Footballers ins Getümmel. Die gewünschte Botschaft: „Dieser Abgeordnete setzt sich für die Menschen ein und schmeißt sich für sie sogar in den Dreck.“ Einmal hatte sich Wolfgang Börnsen mit seiner Wahlkampf-Strategie kräftig verschätzt. Im Frühling besäte er eine Koppel hinter dem Haus, um im Spätsommer schöne Sonnenblumen zu verteilen. 200 bis 300 Stück – so die Kalkulation. „Ich hatte 12.000“, schmunzelt der 80-Jährige. „Ich war in Seniorenheimen, Krankenhäusern, ja praktisch überall. Ich konnte die vielen Sonnenblumen dennoch nicht alle loswerden.“
Der politische Alltag …
Im Politik-Alltag ging es ernster zu. Oft ging es um Schicksale oder den Verlust von Arbeitsplätzen. Das Ende vieler Bundeswehr-Standorte im hohen Norden und das Auslaufen der zollfreien „Butterfahrten“ drohten der ohnehin strukturschwachen Region in den 90er Jahren zu schädigen, da stieß Wolfgang Börnsen auf eine besondere Umzugsliste. Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA), seit 1952 in Flensburg ansässig, gehörte zu den Behörden, die nach der Wiedervereinigung in die neuen Bundesländer verlegt werden sollten. „Wir kämpften erfolgreich um das KBA“, erzählt Wolfgang Börnsen, der sich über die ökonomische Entwicklung seines ehemaligen Wahlkreises freut: „Es ist ein Verdienst der mittelständischen Wirtschaft, dass es heute mehr Arbeitsplätze gibt als vor 25 Jahren.“ Er selbst hatte immer stets zwischen den Interessen des Wahlkreises, dem Gemeinwohl, der Parteipolitik und dem eigenen Gewissen abzuwägen. Dabei legte er sich vier Mal mit Helmut Kohl an. Erst frisch auf der Bonner Bühne hatte Wolfgang Börnsen die Flensburger Erotik-Händlerin Beate Uhse für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen. In einer Fraktionssitzung sprach sogar der Bundeskanzler eine Rüge aus und wunderte sich, wie ein CDU-Abgeordneter eine solche Frau für eine so hohe Ehrung ins Gespräch bringen konnte.
Ein anderes Mal ging es um eine Finanzhilfe für China. „Staaten, die die Todesstrafe praktizieren, Menschen- und Bürgerrechte missachten, haben keinen Anspruch, ihre Ein-Parteien-Diktatur mit Kapital aus Deutschland fördern zu lassen“, meinte Wolfgang Börnsen. Dann wollte der bulgarische Künstler Christo den Berliner Reichstag in weißen Stoff verpacken. Die Öffentlichkeit diskutierte: Kunst oder nicht? „Das verletzt die Würde dieses historischen Gebäudes“, zürnte Helmut Kohl und bestellte 35 Abweichler zum Rapport. Der schien Wirkung zu zeigen, bis Wolfgang Börnsen, das Nordlicht, aufstand: „Ich bleibe bei meiner Meinung, und das gilt auch für meine Kollegen.“ Der Reichstag wurde – weltweit beachtet – verhüllt.
Monate danach suchte Helmut Kohl neue Staatssekretäre und meldete sich auch bei Wolfgang Börnsen. „Ein zweites Mal werde ich Sie nicht fragen“, betonte der Bundeskanzler. Der Umworbene scheute die Kabinetts-Disziplin, fürchtete vor allem ein weiter reduziertes Privatleben und lehnte die Offerte ab. Von Helmut Kohl gab es nie wieder ein persönliches Wort.
Wolfgang Börnsen agierte im Bundestag gewiss nicht immer stromlinienförmig. So war er stets ein strikter Gegner von Auslandseinsätzen der Bundeswehr und trat lieber als Wahlbeobachter in Togo oder in der Ukraine auf. In fünf Ländern wurde er während seiner Auslandsreisen zu einer „Persona non grata“ erklärt. Er zählt auf: „Aserbaidschan, Malawi, Jemen, Belarus und Transnistrien.“ Auch im eigenen Land konnte es sehr unangenehm werden. Als Wolfgang Börnsen Ende der 80er Jahre im Untersuchungsausschuss einer U-Boot-Affäre saß, schreckten anonyme Anrufer auch nicht davor zurück, seine kleinen Kinder zu ängstigen und einzuschüchtern. „Ich dachte daran, aufzuhören – da wurde Politik unmenschlich“, verrät er heute.
Eine Bundestagsdebatte auf Plattdeutsch
Viel lieber erzählt er von der Errungenschaft, die er mit dem Arbeitskreis für Regionalsprachen und Minderheiten auf den Weg brachte: eine Bundestagsdebatte auf Plattdeutsch. Die Bundestagsverwaltung hatte auf dieses Ansinnen zunächst skeptisch reagiert. „Wir haben doch gar keine Protokollanten, die mitschreiben können“, hieß es. Doch dann hatte das neue Bundesland Mecklenburg-Vorpommern zwei Beamtinnen, die Plattdeutsch stenographieren konnten.
Wolfgang Börnsen selbst hielt rund 120 Reden im Plenum. „Die waren alle von mir selbst geschrieben, und der Vortrag war immer von Lampenfieber begleitet“, verrät er. 2013, mit 71 Jahren, war dann Schluss. „Ich wollte aufhören, ich spürte nicht mehr die Dynamik früherer Tage“, sagt der frühere Berufspolitiker. Es blieben einige ehrenamtliche Aufgaben. Die letzte, den Vorsitz in der Senioren-CDU, gab er im Dezember ab.
Im Plattdeutschen zu Hause
Untätig ist er dennoch nicht. Eine Leidenschaft gehört dem plattdeutschen Theater. Eine seiner Inszenierungen – „Leute, Luther und der Düwel“ – gehörte 2017 zum Programm des Kirchentags in Berlin. Wolfgang Börnsen spielt selbst nicht mit, sondern führt bei Stücken wie „Weltünnergang, man nich bi uns“ oder „Rocker gahn nich in Rente“ die Regie. Einmal griff er auch dem Schriftsteller und jetzigen Vize-Kanzler Robert Habeck unter die Arme und übersetzte für dessen Schauspiel „1918“ die Dialoge von Matrosen, Soldaten und Werftarbeitern ins Plattdeusche.
Derzeit arbeitet Wolfgang Börnsen am nächsten Theaterstück, das im Spätherbst seine Premiere feiern soll. Auch die Lesungen seiner „Angeln-Saga“ laufen wieder an. Die lange Corona-Pause war für viele Kulturschaffende ein großes Dilemma. Auch der Bönstruper vermisste das Publikum, hatte aber zumindest keine finanziellen Sorgen. Die Erlöse seiner Veranstaltungen spendet er ohnehin an ein Kinderheim in Addis Abeba.
Seit 2001 Buchautor
Auch als Autor ist Wolfgang Börnsen weiterhin tätig und verarbeitet Historisches, Politisches und Biografisches. Sein Erstlingswerk von 2001, „Vorbild mit kleinen Fehlern – Abgeordnete zwischen Anspruch und Wirklichkeit“, erschien in zwölf Sprachen.
Er schrieb auch über die drei Wochen Flensburgs als Nazi-Hauptstadt oder den ehemaligen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Gerhard Stoltenberg.
Derzeit entsteht ein neues Werk. Der Arbeitstitel: „Abenteuer Deutscher Bundestag“.
Im eigenen Haus hat der 80-Jährige natürlich auch ein Arbeitszimmer, das mit Gemälden und historischen Relikten verziert ist. Aber er tut sich dort schwer mit dem Schreiben. Er findet Zuhause einfach keine Ruhe. Stattdessen reist er quer durch die Republik, zieht sich an diversen Orten für einige Wochen zurück und sitzt über dem Manuskript. Ein Stück Papier nach dem anderen füllt er mit seiner Handschrift. Er benutzt keinen Computer. Wolfgang Börnsen lächelt: „Ich muss das Schreiben fühlen.“
Text: Jan Kirschner,Fotos: Jan Kirschner, privat