Keine Frage: Der Schrangen, das denkmalgeschützte Gebäude aus dem 16. Jahrhundert, gehört zu den Hinguckern der Flensburger Altstadt. Einst wurden Fleisch und Brot in der unmittelbaren Nachbarschaft des Nordermarktes verkauft. Heutzutage flanieren gerne Touristen durch den langen Gang mit den gemauerten Bögen. Im Innern residieren verschiedene Büros der evangelischen Kirche. Wenn der Besucher den zweiten Eingang wählt und dann die Holztreppen bis in den zweiten Stock nimmt, stößt er auf eine Tür mit vielen Aufklebern. Auf ihnen stehen Sprüche, die zum Reformationsjubiläum gesammelt wurden. Es war eines der zahlreichen Projekte, die Stadtpastor Johannes Ahrens in seinen bislang sieben Amtsjahren anschob oder begleitete.
Gerade in der Anfangsphase seiner Tätigkeit beinhaltete seine Funktion einen gewissen Erklärungsbedarf. Er ist keiner Kirchengemeinde zugeordnet, sondern direkt der Pröpstin im Kirchenkreis Schleswig-Flensburg als eine Art Stabstelle untergeordnet. Da drängt sich zwangsläufig die Frage auf: Was ist eigentlich ein Stadtpastor? Zur Beantwortung muss man schon etwas ausholen, da dieses Amt deutschlandweit unterschiedlich interpretiert wird: mancherorts kulturell, andernorts eher sozial. Johannes Ahrens selbst vergleicht sich gerne mit einem „Guerilla-Gärtner“, der Zwischenräume und Brachflächen beackert und an den Stellen etwas ausprobiert, zu denen die klassischen Kirchen-Institutionen nur schwer vorstoßen.

Auf der Homepage des Kirchenkreises liest es sich so: „Das Stadtpfarramt hat den Auftrag, neue Formen von Kooperationen mit Partnern aus Kultur, Politik und Wirtschaft zu erproben. Zusätzlich unterstützt der Stadtpastor die Innenstadtgemeinden.“ Johannes Ahrens hat auch einen Predigt-Auftrag in Sankt Marien und Sankt Nikolai, kümmert sich auch um Konfirmanden, hauptsächlich ist er aber der Kopf eines „Experiments“, das vorerst bis 2023 angelegt ist. „Die Gesellschaft befindet sich in einem starken Veränderungsprozess“, erklärt er. „Die Menschen sind nicht mehr automatisch in der Kirche und noch weniger erleben sie an einem Ort Taufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung.“ Auf diese gesellschaftliche Entwicklung müsse Kirche reagieren, die Menschen an Projekten teilnehmen lassen, während die Kirche selbst auch die „Randzonen“ des christlichen Betätigungsfeldes im Blick behalten müsse.
Johannes Ahrens selbst wuchs zunächst am „Rande“ des Erdballs auf. Zwar wurde er 1967 in Lübeck geboren, doch die ersten Kindheits-Erinnerungen sind mit der großen Insel Neuguinea in Ozeanien verbunden. Er hat noch immer vor Augen, wie damals die australische Flagge vom Mast heruntergeholt wurde und die Nationalflagge des neuen Staates Papua-Neuguinea gehisst wurde. Ein Land mit einem Gewirr von rund 800 verschiedenen Sprachen, tiefen Urwäldern und unzähligen Insekten. Den Alltag würde man hierzulande als extrem einstufen. Nur alle paar Wochen kam ein Schiff vorbei, das eine Tonne mit den Bestellungen und der Post gen Ufer drückte. Der elektrische Strom war von den Macken eines Diesel-Generators abhängig. Und der Kühlschrank wurde mit Gas betrieben und war für Medikamente absolut erforderlich. Etwa für die kühle Lagerung von Antiserum gegen Schlangengift.
Der Aufenthalt der Familie Ahrens auf der anderen Seite der Erde entsprang der missionarischen Tätigkeit der Eltern. Der Vater war Religionswissenschaftler und beobachtete in einem kleinen Dorf, zwei Bootsstunden von der Stadt Madang entfernt, die Mischung von christlichen und indigenen Glaubensvorstellungen. Deutsche Missionare hatten um 1870 eine Kirchengemeinde aufgebaut und für den Kirchturm eine Glocke gespendet. 100 Jahre weiter musterte der Bewuchs des Dschungels das spendierte Fabrikat, während sich die Einwohner verstärkt ihrem traditionellen Glauben zuwandten. Die Mutter war auch Theologin und wurde während eines Deutschland-Urlaubs als eine der ersten verheirateten Frauen zur evangelischen Pastorin ordiniert. In Papua-Neuguinea widmete sie sich der Seelsorge im Krankenhaus und setzte sich für Frauen ein, die in einer patriarchalischen Gesellschaft einen schweren Stand hatten.

Johannes Ahrens nahm schöne, und prägende, aber auch nachdenkliche Bilder mit nach Deutschland. Schockiert hatte ihn schon damals die Ausbeutung der Naturreichtümer. Etwa die Abholzung der Regenwälder oder riesige Fischerei-Trawler, die mit ihren Schleppnetzen fast die komplette Fauna und Flora abrasierten. Die Folge: Die Teller der einheimischen Familien blieben die nächsten Wochen ziemlich leer. Beschwerlich war die Schulbildung. Lesen, Rechnen und Schreiben lehrten die Eltern. Die Schulbücher brachte die Tonne. Sie wurden „blind“ bestellt. Das Ergebnis: ungewöhnliche Aufgaben. „Wie lange braucht ein Zug von Ansbach nach Schweinfurt?“ Sohn Johannes kannte weder die Orte, noch hatte er jemals eine Eisenbahn gesehen. Dann besuchte er ein Internat, auf dem neben Englisch und Pidgin auch auf Deutsch unterrichtet wurde.
Es sollte ein deutsches Abitur werden, so die Überzeugung der Eltern. Doch die nächste Möglichkeit dafür gab es in Tokio, was gewiss kein Tagestrip war. Also kehrte die Familie 1978 zurück nach Deutschland. Die Eltern arbeiteten nun für das evangelische Missionswerk in Hamburg. Menschen aus aller Welt saßen oft zu Hause mit am Tisch, während der Sohn mit Rolltreppen und U-Bahnen konfrontiert wurde. Eine ganze andere Welt. „Ich bin ein Integrationskind, meine neuen Mitschüler mussten mir vieles beibringen“, schmunzelt Johannes Ahrens. Aus seinen eigenen Erfahrungen rührt wohl sein Engagement in der Flüchtlingshilfe.
In seiner Jugend wanderten auch mal hebräische Vokabeln über den Küchentisch. Ein Studium der Theologie erschien als der absolut logische Schritt. Es gab aber eine besondere Leidenschaft: die Fotografie. „Zur Konfirmation wünschte ich mir ein Labor“, erzählt der 53-Jährige. „Dann konnte ich von meinen Aufnahmen selbst Schwarz-Weiß-Abzüge anfertigen.” Er inhalierte förmlich ein Buch des Landschafts- und Naturfotografen Ansel Easton Adams. Seine Technik inspirierte. In der Medienstadt Hamburg schien vieles möglich.

Dass die Fotografie zwar ein bis zum heutigen Tage geschätztes Hobby blieb, aber nicht zur beruflichen Mission wurde, lag am Zivildienst in einer Kirchengemeinde von Hamburg-Altona. Die Erfahrungen waren komplex und vielseitig. Johannes Ahrens besuchte Senioren, lernte „fünf Arten, die Fenster zu putzen“, engagierte sich in einem Jesus-Musical einer Jugendgruppe und war begeistert vom Kirchentag in Frankfurt.
Es folgte das Studium der Theologie – an drei völlig verschiedenen Standorten. Bethel bei Bielefeld war sehr überschaubar. Ideal, um Hebräisch und Griechisch zu lernen. Die zweite Etappe hieß Tübingen, eine klassische Studentenstadt. Schließlich Berlin, das kurz nach der Wiedervereinigung ein besonders spannender Schauplatz war. Johannes Ahrens wechselte zwischen vier Theologie-Fakultäten im Ost- und Westteil der Stadt und wählte die Lehrveranstaltungen aus „wie die Kinos im Stadtprogramm“. Das Examen kündigte sich im Sommer 1995 an, kurz zuvor sollte der Künstler Christo in Berlin den Reichstag verhüllen. Der Prüfling zögerte, ließ sich das Kultur-Ereignis aber nicht entgegen. Er erntete in Berlins Mitte besondere persönliche Eindrücke – und plötzlich baute sich das Prüfungsthema „Veränderung von Wirklichkeit“ über die Verhüllung des Reichstags auf.

Heute unvorstellbar: Damals war es schwer, eine Pfarrstelle zu bekommen. Die Universitäten produzierten Mitte der 90er Jahre so viele Theologie-Studenten wie nie. Johannes Ahrens jobbte als Redakteur und erlebte, wie Kirchengeschichte kompakt in zwei Buch-Projekte passte. 1997 begann er als Vikar in Rellingen. Eine Kleinstadt vor den Toren Hamburgs, die für Baumschulen steht – und für ihre Barock-Kirche. „Am Kanzelaltar saß die Gemeinde um einen herum“, erinnert sich Johannes Ahrens. „Und auf den beiden Emporen fühlte man sich wie in einem römischen Stadion.“
Angesichts der Stellenknappheit stieg er 1999 in die Öffentlichkeitsarbeit ein – und landete in Flensburg. Damals wurde im Kirchenkreisrat heiß diskutiert: „Brauchen wir wirklich eine Homepage?“ Dann gab es grünes Licht für die Domain „kirche2000.com“. Für das Millenniumjahr hatten die Kirchengemeinden im hohen Norden ein besonderes Programm ausgearbeitet. Die Präsentation war noch Internet-Steinzeit. Jetzt hat Johannes Ahrens als Stadtpastor gerade eine Whatsapp-Gruppe gegründet. „Ich will möglichst niedrigschwellig ansprechbar sein“, sagt er.

2003 endlich ein Pastorat: Sieverstedt. Mit der Familie wohnte er nun auf dem Land. Die beiden Söhne wurden groß zwischen Freibad und Sportverein. Allerdings hatte Johannes Ahrens nur eine halbe Pfarrstelle. Deshalb unterstützte er zunächst die Kirchengemeinde Tarp beim Konfirmanden-Unterricht und hielt Andachten im Seniorenheim. „Alles nicht einfach, denn ich hatte eine Familie zu ernähren und auch eine Miete zu zahlen“, erzählt er. „Erst mit 40 Jahren bekam ich mein erstes volles Gehalt.“ Das stellte ein neuer Zusatzjob an der Flensburger Fridtjof-Nansen-Schule sicher: Der Pastor übernahm den Religionsunterricht der Jahrgänge acht bis zwölf.
Der Lehrauftrag lief allerdings 2010 aus. Es drohte wieder ein „Halb-Stellen-Dasein“. Zum Glück meldete sich der damalige Bischofsbevollmächtigte Gothart Magaard. Er suchte nach einem Leiter für seine Bischofskanzlei in Schleswig. „Ich hatte schon immer Interesse, in die Kirchenleitung zu schnuppern“, verrät Johannes Ahrens. „Leider musste ich mich deshalb schweren Herzens aus Sieverstedt verabschieden. Dort kenne ich mich noch heute blind im Altarraum aus.“ In guter Erinnerung blieb ihm beispielsweise das Krippenspiel, das Heiligabend durch das Dorf zog. Oder die Vorbereitungen für die Kindergottesdienste, die bisweilen für die Erwachsenen in einen Gesprächskreis mit elementaren Themen abdrifteten.
Nun pendelte der Theologe von der neuen Wohnung in Flensburg zum neuen Arbeitsplatz in Schleswig. Viele Telefonate und Mails waren notwendig, um die Gottesdienste des Bischofsbevollmächtigten im gesamten Sprengel „Schleswig und Holstein“ vorzubereiten. Er war beschäftigt mit Ghost-Writing, Pressearbeit und vielen Abstimmungen. Gothart Magaard selbst tauchte nur einmal die Woche zur Besprechung in der Kanzlei auf. Die Zusammenarbeit war eigentlich auf fünf Jahre angelegt. Doch dann wurde die Stelle des Flensburger Stadtpastors eingerichtet und nach der zweiten Ausschreibung ab November 2013 mit Johannes Ahrens besetzt.

Er zog in das ehemalige Kirchenmusiker-Häuschen, das mit der Nikolaikirche verwachsen ist und nun in die „Wohnung des Stadtpastors“ umfunktioniert wurde. Die Wände im Bad und im Wohnzimmer grenzen direkt an die Orgel. „Andere würden das vielleicht als Lärmbelästigung empfinden, ich als Luxus“, sagt Johannes Ahrens mit einem Augenzwinkern. „Wenn Organist Michael Mages nur übt, klingt das bereits so wie bei anderen, wenn sie ihr Bestes aufbieten.“ Inzwischen ist der Pastor mit seiner zweiter Ehefrau Anja verheiratet, die im Kirchenkreis für die Pressearbeit zuständig ist.
Zurück zur Stelle des Stadtpastors, die – neugeschaffen – zunächst einmal definiert werden musste. „Es gab keine Blaupausen und keine Fußstapfen – es war learning by doing“. Viele neue Projekte entstanden. Zum Beispiel die Sonntagsführungen auf dem Museumsberg. Museumsdirektor Michael Fuhr wählte einen kunsthistorischen Ansatz, Johannes Ahrens nahm eine biblisch-theologische Einordnung der präsentierten Gemälde vor. Oder das Reformationsjubiläum 2017. Auf die allgemeine Frage „Was ist Reformation?“ gingen viele Zuschriften ein. 95 verschiedene Aufkleber wurden produziert. Und als im selben Jahr die Kirche einen sehr langen Tisch in der Innenstadt positionierte, um mit den Bürgern eine Art öffentliches Abendmahl zu feiern, freute sich Initiator Johannes Ahrens über die vielen entstandenen Gespräche wie ein „Guerilla-Gärtner“.

Text: Jan Kirschner
Fotos: Jan Kirschner, privat

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