Die Schneewolken hängen tief über der Förde, die im Gemisch von Morgendämmerung, Flocken und Nebel nicht viel mehr als zu erahnen ist. Im Volksbad ist schon Licht. Thomas „Gerri“ Christiansen hat sich mit Fahrrad die vier Kilometer von Wassersleben durchgekämpft und öffnet nun die Tür an der straßenabgewandten Seite des Gebäudes. Kurz blinzelt er das Nordertor und den Besucher an, dann führt der Mann mit der Mütze seinen Gast durch die Eingangstür, auf der sich schon viele Künstler und Darsteller mit Aufklebern verewigt haben. Es geht ins erste Stockwerk, in den Back-stage-Raum, wo sich sonst die Musiker entspannen und auf ihre Auftritte vorbereiten. Nun erlebt dieses Ambiente einen Rückblick auf eine interessante Biografie, die allein das Volksbad zwei Dekaden lang prägte und nun einen beruflichen Wandel vollzieht. Die neue Aufgabe liegt nur 300 Meter entfernt in der Norderstraße: die „folkBALTICA“.
Thomas Christiansen ist kein gebürtiger Flensburger, aber ein Nordlicht durch und durch. In Husum, in der „grauen Stadt am Meer“, wurde er 1976 geboren und wuchs im kleinen Bohmstedt auf. Mitten in Nordfriesland, wo das Plattdeutsche die Konversationen bestimmte. Schon mit zwölf Jahren entdeckte der Junge sein Faible für die Musik und wollte eine eigene E-Gitarre. Dafür tauschte er seinen Computer C64 ein und erhielt obendrauf noch 120 D-Mark. Ein „Kurs“, der verdeutlicht, dass es sich nicht mehr um das intakteste Instrument handelte. Thomas Christiansen war dennoch glückselig, zu Hause proben zu können – zum Leidwesen der Eltern. Aber er machte Fortschritte und genoss auch zwei Jahre Unterricht in Husum.

Proben im Wohnzimmer

Die Metal-Band „Napalm Death“ war so etwas wie der persönliche Urknall. Thomas Christiansen infizierte sich mit der völlig neuartigen Musik und inspirierte einen Mitschüler dazu, seinem Kumpel einen Spitznamen zu verpassen: „Gerri“ – dabei blieb es bis heute. „Davon bin ich bis heute nicht mehr weggekommen“, schmunzelt der 46-Jährige. „Jeder darf mich weiterhin Thomas nennen, aber außer meiner Familie macht das niemand.“ Und erst recht nicht die Freunde, die Anfang der 90er Jahre mit Schlagzeug und Bass im Wohnzimmer der Familie Christiansen auftauchten und zusammen mit „Gerri“ den Punk glorifizierten, während nebenan die Mutter in ihrem Schneiderbetrieb scheinbar unbeeindruckt ihre Kundschaft bediente. Eine Szenerie, die reichlich Gesprächsstoff im Dorf verursachte.
So viel zum Hobby. „Gerri“ Christiansen besuchte die Schule in Bredstedt und Husum, begann dann eine klassische Ausbildung als Meierist in Langenhorn. Im kleinen genossenschaftlichen Betrieb produzierte der Lehrling hauptsächlich Butter. Ein Studium der Lebensmitteltechnik an der Fachhochschule war angedacht. „Wie es so ist, wenn man jung ist“, verrät er. „Das Ganze war dann doch nicht mehr so meins.“ Das coole Hamburg lockte. Das Nordlicht jobbte auf Messen und entdeckte dann die Leidenschaft für das Fotografieren. Als Assistent folgten Aufträge auf Hochzeiten oder beim Tennisturnier am Rothenbaum. Später machte „Gerri“ Christiansen häufig Aufnahmen in der Musik-Branche. Für das angestrebte Kommunikationsdesign-Studium war aber weder in der Elbmetropole noch in Bielefeld ein Platz zu bekommen.

Der Weg ins Flensburger Volksbad

Der Zufall sorgte für eine Wendung: Einige Bekannte aus Flensburg erzählten von einer alternativen Wohnform. „Gerri“ Christiansen war neugierig und zog 1999 in die Fördestadt. „Ich habe das mal ausprobiert“, erzählt er. „Es gab gute Ansätze, aber das Ganze hat nicht so lange gehalten, und ich bin wieder ausgezogen.“ Ohne Folgen blieb diese Episode aber nicht. Eine Mitbewohnerin war Mitarbeiterin im soziokulturellen Zentrum Volksbad. Nach einem nächtlichen Ausflug in den Husumer „Speicher“ saß „Gerri“ Christiansen plötzlich mit dem Volksbad-Team gemeinsam im Auto und erfuhr, dass gerade eine Aushilfe gesucht wurde. Kurz darauf hatte der gebürtige Nordfriese die Stelle und plakatierte, reparierte Dinge und bereitete Veranstaltungen vor.
Das Volksbad nährte dann auch das eigene musikalische Comeback. Das Max-Dröge-Quintett drohte zum Quartett zu werden. „Du spielst doch Gitarre?“, fragten die Band-Mitglieder nach einem Auftritt bei „Gerri“ Christiansen. Er musste nicht lange überlegen. „Die Musik war wirklich progressiv und schwer in eine Stilrichtung einzuordnen“, erklärt er. „Wir waren laut, hatten aber auch elektronische Elemente und einen Disc-Jockey dabei.“ Ein paar Jahre hielt er dieser Formation die Treue. Parallel mischte „Gerri“ Christiansen bei diversen Bands mit. Am langlebigsten war „Hallo Kwitten“. Das Punk-Trio gründete sich aus dem Volksbad-Team und hörte am zweiten Weihnachtstag mit Konzert Nummer 270 auf.

Die Impressionen von Deutschland-Tourneen

Zeitweise waren die Punk-Musiker sehr rege gewesen und gingen sogar auf Deutschland-Tour durch etliche Klubs. „Ich hatte aber nie davon geträumt, die Musik zu meinen Beruf zu machen“, verrät „Gerri“ Christiansen. „Ich fand es immer toll, aufzutreten und einfach zu spielen.“ So dienten die Touren nicht dem Gelderwerb, sondern als Quelle von Spaß und Zeit mit Freunden. Manchmal war es grenzwertig: Dann warteten in der hessischen Provinz nur vier Zuschauer oder es tickte beim Eintreffen der Nordlichter mit ihrem angemieteten Kleinbus bereits der Countdown, da der ehrenamtlich organisierte Veranstalter die Bühne noch gar nicht aufgebaut hatte. Andere Male ging buchstäblich die Post ab, und dem Gig folgte die Party. Als weniger gut erwies sich die Idee, sich im Internet bei einem Mitfahrgelegenheiten-Portal anzumelden, um Kosten zu sparen. „Mal war es witzig, mal nervig – aber wir hatten so immer fremde Menschen unter uns“, erzählt „Gerri“ Christiansen.
Konzerte waren sein Metier. Zwischen 2002 und 2004 war er einer der ersten in Schleswig-Holstein, die sich zum Veranstaltungskaufmann ausbilden ließen. Er lieb-äugelte mit der Berufsschule in Hamburg, durfte dann aber doch nicht die Landesgrenze überschreiten und musste nach Lübeck. Als „Gerri“ Christiansen mit der Ausbildung fertig war, schien das Volksbad-Team vollbesetzt zu sein und keine Perspektive zu bieten. Dann hörte der damalige Geschäftsführer überraschend auf und löste eine Rochade aus. Der Veranstaltungskaufmann war nun einer von drei hauptamtlichen Kräften der gemeinnützigen Kultureinrichtung und freundete sich schnell mit dem besonderen Rhythmus an: freie Zeiteinteilung in der Woche, Vollbetrieb am Wochenende.

Geschäftsführer im Volksbad

2017 wurde „Gerri“ Christiansen sogar Geschäftsführer des freien Kulturträgers und hatte seitdem das Booking für das Programm fest in seiner Hand. 100 bis 120 Veranstaltungen, zumeist Live-Konzerte, fährt das Volksbad jährlich. Bis zu 40 E-Mails am Tag gehen ein mit Angeboten der Agenturen. Eine Menge, die gar nicht vollständig beantwortet und erst recht nicht berücksichtigt werden kann. Es ist die Kunst aus den Möglichkeiten einen Mix der unterschiedlichen Stilrichtungen zu kreieren, der möglichst viele anspricht. Mal wird der Saal bestuhlt für den Auftritt eines Singersongwriters, ein anderes Mal kündigt sich ein „wilder“ Gig an. Das Spektrum reicht von Rock und Punk über Folk bis hin zu Hip Hop. Neue Impulse sind gerne gesehen, ebenso kleine Preise.
Das ehemalige Badehaus an der Schiffbrücke ist aber auch ein Hort für Lesungen, Filmvorführungen oder den offenen Tangoabend. Der Dauerbrenner ist die „S&L-Disco“, die schwul-lesbisch-queere Party. Längst hat sich ein Netzwerk entfaltet, Kooperationen mit anderen Organisationen sind entstanden. Zum Beispiel mit den „Sportpiraten“ am Schlachthof. „Gerri“ Christiansen sitzt bei diesem Verein mit im Vorstand.

Buntes Programm beim freien Kulturträger

Im Volksbad waren durchaus schon Berühmtheiten. Etwa Fettes Brot, Beatsteaks, Absolute Beginner oder Samy Deluxe. Diese Prominenten eint, dass sie alle auch mal vor einem überschaubaren Publikum den direkten Kontakt zu ihren Fans suchten. Die US-Band „Against Me!“ trat einst vor nur 50 Leuten in Flensburg auf und war wenige Monate später nicht mehr zu greifen, da das Management ein Ambiente mit mindestens 1000 Zuschauern forderte. Die kanadische Folk-Formation „The Dead South“ erlebte in Husum einen Abend mit norddeutschen Musikern und war für das Volksbad schon für eine kleine Gage verpflichtet. Zehn Euro Eintritt – die Plakate waren gedruckt. Eine Woche vor dem Konzert die Absage: In Kanada lockte ein lukrativer Auftritt. Der größte Hit der Band hat inzwischen über 300 Millionen Zugriffe im Internet.
„Gerri“ Christiansen verwaltet das Volksbad-Budget von rund 250.000 Euro. Zu 40 Prozent wird es aus dem Kulturhaushalt der Stadt gefördert. Dazu kommen Beiträge der rund 50 Mitglieder und auch Spenden. Es sind keine einfachen Zeiten. Die Corona-Pandemie hinterließ Spuren, nun wirken sich Inflation und Energiekrise auf Fahrtkosten, Unterbringung und Gagen aus. Die öffentliche Finanzspritze erfuhr noch keine Anpassung. „Kultur braucht Förderung“, weiß der Geschäftsführer. „Es ist wie bei einer jungen Blume, die gewässert werden muss.“

Angeln und Surfen

Der Flensburger pflegt zwei maritime Hobbys. Zum einen schätzt er von klein auf das Angeln. Oft tritt er nur ein paar Schritte vor die Haustür, aber auch die Arlau und die Auen der Nachbarschaft sind Idylls. „Hauptsache man ist draußen, die großen Fische fangen andere“, erklärt „Gerri“ Christiansen. Das zweite Steckenpferd, das Surfen, hat ihm seine Freundin Inken eingebrockt. „Sie wollte einen Urlaub ohne Angeln und schlug ein Surf-Camp in Dänemark vor“, verrät er. Seitdem war das Paar schon mehrmals mit dem Wohnwagen im nordjütländischen Klitmöller, ritt in der Nordsee auf den Wellen und genoss die Ruhe nördlich des Limfjords.
Von der Musik kann „Gerri“ Christiansen nicht lassen. Vor einigen Jahren war er nochmals an einer Band-Gründung beteiligt. Ein Musik-Kollege postete: „Wer hat Bock auf eine Country-Band?“ Die Antwort: „Ja, aber nur wenn ich in meiner Muttersprache singe – also auf Plattdeutsch, das hat Potenzial.“ Bald probte „Aalkreih“, auf Hochdeutsch Kormoran, erstmals im Volksbad. Häufiger als einmal in zwei Wochen kommt derzeit aber kein Treffen zu Stande. Zwei Krankenpfleger haben wechselnde Tagesabläufe, und „Gerri“ Christiansen ist seit anderthalb Jahren Vater der kleinen Tochter Lucie.

Die nächste „folkBALTICA“ im Mai

Beruflich lockte vor wenigen Monaten eine neue Aufgabe. Die „folkBALTICA“, die in Kooperation mit dem Volksbad schon häufiger einige Konzerte an die Schiffbrücke vergeben hatte, schrieb eine der beiden Posten der Festival-Leitung aus. „Gerri“ Christiansen bewarb sich. „Nach 22 Jahren könnte ich mal etwas anderes machen“, dachte er sich. „Und die folkBALTICA lebt von einem vielfältigen Programm, das sich immer wieder neu erfindet.“ Tatsächlich hatte er im Juli ein Vorstellungsgespräch – und dann wurde er genommen. Im September begann die Übergangsphase: 20 Stunden im Volksbad und – 300 Meter entfernt in der Norderstraße – im Büro von „folkBALTICA“ ebenfalls 20 Stunden.

Mit dem Jahreswechsel vollzog sich der vollständige Wechsel. Das Programm für die mehrtägige Auflage im Mai ziert bereits eine lange Tafel. Der künstlerische Leiter Harald Haugaard hat schon längst das große Thema der kommenden „folkBALTICA“ auserkoren und danach die Musiker eingeladen. 27 Konzerte an 23 Standorten im Norden von Schleswig-Holstein und im Süden Dänemarks verschmelzen im Frühling zu einem grenzübergreifenden Kultur-Highlight. Für die Eröffnungen in Husum und Sonderborg feiert „Gerri“ Christiansen mit Justine Boesen, der diesjährigen Hauskünstlerin der „folkBALTICA“ an einem besonderen Stück – auf Dänisch und Plattdeutsch.
In Flensburg werden das Volksbad, das Schifffahrtsmuseum, das Flensborghus und die Werfthalle von „Robbe&Berking“ zur Folk-Bühne. Mit Nele Spitzley, der Festival-Leitungs-Kollegin, geht es nun an die Umsetzung des Programms, um die Abschlüsse der Künstler-Verträge und um etliche Details in den Spielstätten. Vier Monate sind schnell vorbei. In diesen Wochen ist „Gerri“ Christiansen immer wieder in Flensburg unterwegs und denkt: „Diese Stadt ist übersichtlich und familiär, sie hat ihren Charme – und für die Größe ein relativ großes, kulturelles Angebot.“

Text: Jan Kirschner
Fotos: Jan Kirschner, privat

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