Ende April 1945 war der Alltag aus den Fugen geraten. Flensburg war zwar im Bombenkrieg nur wenig zerstört worden, dafür füllte sich die Stadt immer mehr mit Menschen: Flüchtlinge und Soldaten strandeten im hohen Norden des Dritten Reiches, Hunderte von KZ-Häftlingen wurden auf unmenschliche Weise herantransportiert. Die Versorgung war zunehmend angespannt. Einige befürchteten sogar eine Hungersnot, während andere die Kornsuppe, zubereitet mit Saft und Zucker, empfahlen – als die beste Lösung für einen leeren Magen.
Das Stromnetz hatte viele Aussetzer. Wenn es funktionierte, liefen auch die Radios, die im Schutz der Privatwohnung oft auf Feindsender eingestellt waren – um zu erfahren, wie aussichtlos der Krieg inzwischen aus deutscher Sicht war. Man hörte von der Begegnung amerikanischer und sowjetischer Soldaten in Torgau oder von Waffenstillstandsverhandlungen, die SS-Reichsführer Heinrich Himmler mit den Westmächten führte. „Noch immer glauben dumme Menschen an den Sieg“, schrieb der Flensburger Wilhelm Clausen in sein Tagebuch und hielt fest: „Nun ist es wohl sicher, dass die Engländer zu uns kommen, und das betrachten wir als das kleinere Übel.“ Dass nicht die Sowjets in Flensburg einmarschieren würden, war im Grunde seit der Jalta-Konferenz im Februar beschlossene Sache. Zu diesem Zeitpunkt war aber wohl niemandem in den Sinn gekommen, dass die Fördestadt sogar für ein paar Tage zur inoffiziellen Reichshauptstadt werden könnte. Diese Entwicklung war das Ergebnis der Kriegswirren und ihrer spontanen Ausschläge.

Vorbereitungen für einen Regierungsumzug
Spätestens im Februar 1945 rechneten Regierungs- und Behördenvertreter damit, dass Berlin nicht zur Metropole „Germania“ aufsteigen, sondern in alliierte Hand fallen würde. Die Front näherte sich so rasch Berlin, dass selbst das größenwahnsinnige NS-Regime seine Hauptstadt als heißes Pflaster wahrnehmen musste. Es bildeten sich interne Arbeitsstäbe, die sich mit der Evakuierung der Reichsministerien beschäftigten. Mitte April ließ Adolf Hitler höchstpersönlich das Deutsche Reich für die weitere Kriegsführung in einen Nord- und in einen Südraum aufteilen. Zugleich setzte er für beide Bereiche jeweils einen Oberbefehlshaber ein. Der Mann, der im Norden das Vertrauen des Führers rechtfertigen sollte, war Karl Dönitz, der Großadmiral der Kriegsmarine. Der 53-Jährige galt als überzeugter Nationalsozialist und glühender Anhänger von Adolf Hitler. Sein Weltbild stellte „Führer, Volk und Vaterland“ dar.
Der Großadmiral verließ in der Nacht zum 22. April mit einer kleinen Gefolgschaft Berlin. Das Ziel: das noch unbesetzte Schleswig-Holstein. Unterwegs stieß die kleine Gruppe immer wieder auf Flüchtlingszüge und rückflutende Wehrmachtskolonnen. „Allen gemeinsam steht der große Motor dieser Völkerwanderung – die Furcht – im Gesicht geschrieben“, notierte der Adjutant. Am Vormittag erreichte Karl Dönitz sein neues Hauptquartier: eine Baracke am Plöner See. In seinem Kriegstagebuch notierte er ein paar Tage später: „Da die Kapitulation ohnehin die Vernichtung der Substanz des deutschen Volkes bedeuten muss, ist es auch aus diesem Gesichtspunkt richtig weiterzukämpfen.“ Der Großadmiral folgte der unsinnigen Aufforderung, leichtbewaffnete Marinetruppen nach Berlin zu schicken, und bewies so eine bedingungslose Treue zum Führer – im Gegensatz zu den NS-Größen Hermann Göring oder Heinrich Himmler.
Das „politische“ Testament
Die Reichsregierung sollte eigentlich im Raum Eutin zusammengefasst werden, einige Minister trafen nach und nach ein. Karl Dönitz ging davon aus, dass Adolf Hitler in Kürze folgen würde. Diese Einschätzung änderte sich, als Feldmarschall Wilhelm Keitel und Generaloberst Alfred Jodl, die beiden wichtigsten Personen im Oberkommando der Wehrmacht, die Reichshauptstadt ohne den Führer verlassen hatten. Und dann am 30. April 1945 um 18.35 Uhr ein Funkspruch aus Berlin: „Anstelle des bisherigen Reichsmarschalls Göring setzt der Führer Sie, Herr Großadmiral, als seinen Nachfolger ein.“ Was diese Meldung nicht verriet: Adolf Hitler hatte drei Stunden vorher Suizid begangen.
Am 1. Mai gingen im Holsteinischen bruchstückhaft weitere Meldungen aus Berlin ein. Am Nachmittag hieß es schließlich: „Führer gestern 15.30 verschieden. Testament vom 29. April überträgt Ihnen das Amt des Reichspräsidenten.“ Karl Dönitz war nun der erste Mann im Dritten Reich, und bereitete eine Rede vor. Am späten Abend meldete der Reichssender Hamburg aus dem Hauptquartier: „Hitler ist vor dem Feind gefallen, nachdem er bis zuletzt gegen den Bolschewismus gekämpft hat.“ Dann stellte sich Karl Dönitz in einer siebenminütigen Ansprache als Nachfolger vor. „Die Hauptsorge der militärischen Führung in der augenblicklichen Situation ist die Rettung deutschen Landes und deutschen Volkstums vor dem Bolschewismus“, sagte er und betonte: „Der Schwerpunkt der Kampfführung liegt daher eindeutig im Osten. Es wird militärisch alles nur Mögliche getan, um den Abfluss deutscher Menschen zu ermöglichen.“
Die Lage in Flensburg
Flensburg hatte Strom, etliche Radios waren eingeschaltet. Bei einigen Zeitgenossen überwogen Schock und Trauer darüber, dass der Führer nicht mehr lebte. Der „Endsieg“ bestimmte noch immer ihren verblendeten Glauben. Bei den meisten waren aber die Sorge um den Lebensunterhalt und die Angst vor Bombenangriffen so groß, dass die neue Situation an der Spitze der Reichsregierung die Hoffnung auf ein sehr baldiges Kriegsende nährte. Aber warum sprach Karl Dönitz von „Kampfführung“ und nicht von Waffenstillstand? Der Flensburger Wilhelm Clausen bilanzierte enttäuscht: „Noch also kein Ende des aussichtslosen Krieges.“
Unter den NS-Größen hatte da bereits ein regelrechter Wettlauf nach Flensburg begonnen. Die Grenzstadt war so weit entfernt vom Frontverlauf wie kein anderer Ort im Deutschen Reich. Bereits am 28. April tauchte Alfred Rosenberg, Reichsminister der nicht mehr von den Deutschen besetzten Ostgebiete, am Marinestützpunkt Mürwik auf. Heinrich Himmler wurde am 2. Mai vormittags das erste Mal gesehen. Der SS-Reichsführer Heinrich Himmler selbst stieg im Polizeipräsidium Norderhofenden ab und bezog das Zimmer 69. Er traf mit einem großen Tross ein. Einige seiner Leute schliefen im Museum und demolierten dort im Suff. Tagsüber saß Heinrich Himmler in der Feuerwehrschule Harrislee. Dort stand auch der Fuhrpark, der sogar eine Milchkuh für den persönlichen Bedarf befördert hatte. Wüste SS-Gelage waren an der Tagesordnung. Wurst, Schokolade und Zigarren – sonst alles Mangelware – gab es hier im Überfluss.
Im Flensburger Rathaus pflegte man einen kurzen Draht zur Marine in Mürwik, wo mit Offizier Wolfgang Lüth ein strammer Nazi als Standortkommandeur agierte. „Wir waren uns darin einig, dass ein Hinübergreifen des unmittelbaren Kriegsgeschehens in den Norden des Landes verhindert werden müsse“, schrieb Oberbürgermeister Ernst Kracht in seinen Erinnerungen. „Die Stadt Flensburg, die bisher glimpflich davongekommen war, sollte nicht einem letzten schweren Angriff ausgesetzt werden.“
Karl Dönitz: Vom Plöner See an die Flensburger Förde
Am 2. Mai harrte Karl Dönitz noch am Plöner See aus und ärgerte sich, dass die deutsche Armee in Italien eigenmächtig kapituliert hatte. Da betrat sein Adjutant das Arbeitszimmer und berichtete von einem Telefonat: Durch Lübeck rollten britische Panzer. Das letzte Tor zwischen Ost und West hatte sich damit geschlossen, die Westfront hatte keinen Sinn mehr. Karl Dönitz entschloss sich, sein Hauptquartier zu verlegen – nach Flensburg. 1911 hatte er dem ersten Seeoffiziers-Jahrgang an der neuen Marineschule in Mürwik angehört.
In einer fünf Tonnen schweren Panzerlimousine, ein Geschenk von Adolf Hitler, ging es zusammen mit Reichsfinanzminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk und dem Adjutanten Walter Lüdde-Neurath in den hohen Norden. Um 21 Uhr war die Levensauer Hochbrücke bei Kiel erreicht. Dort wartete bereits Hans-Georg von Friedeburg, der neue Oberbefehlshaber der Kriegsmarine. Dieser erhielt den Auftrag, mit dem britischen Feldmarschall Bernhard Montgomery Verhandlungen für eine Teilkapitulation aufzunehmen. Während der Weiterfahrt beschnupperten sich Karl Dönitz und Lutz Graf Schwerin von Krosigk ausgiebig. Das Ergebnis: Der Großadmiral hatte seinen neuen Außenminister gefunden.
Der letzte Bombenangriff auf die Stadt Flensburg
Das gepanzerte Fahrzeug stoppte immer wieder – aus Vorsicht. Denn gegen den Bordwaffenbeschuss aus der Luft bot es nur unzureichenden Schutz, und es waren in dieser Nacht viele Jagdbomber unterwegs. Die Briten vermuteten eine Truppenkonzentration im Nordraum und ließen Angriffe in mehreren Wellen fliegen. 15 Maschinen näherten sich Flensburg. Um exakt 22.46 Uhr schreckte ein Vollalarm viele aus den Betten. Sie schlüpften schnell in die Kleidung und eilten in die Schutzräume und Keller. Währenddessen knatterten schon die Flug-Abwehr-Kanonen, deren Leuchtmunition den Himmel schaurig-schön färbte.
Eine halbe Stunde später fielen die ersten vier Sprengbomben auf die Straßenbahn-Endhaltestelle in Mürwik. Sie töteten sechs Soldaten und eine Luftwaffen-Helferin. Es folgten 150 Brandbomben und 44 Sprengbomben auf südliche Stadtteile. Es starben 49 Menschen. Die meisten Opfer gab es in der als Hilfskrankenhaus dienenden Landwirtschaftsschule in der Eckernförder Landstraße. Der Südwestflügel stürzte ein und begrub mehrere Dutzend Personen unter sich. Auch Häuser in Teichstraße, Mittelstraße und Waitzstraße wurden getroffen. In einem Etagenhaus im Südergraben wurden die Bewohner durch einen Einschlag geweckt. Die zerfetzte Decke gab den Blick in den Nachthimmel frei.

Der erste Regierungstag in Flensburg
Um 3 Uhr nachts war es wieder ruhig. Dann erst trafen Karl Dönitz und seine Begleiter in Mürwik ein. Der Standortkommandeur Wolfgang Lüth begleitete die Neuankömmlinge auf den großen Passagierdampfer „Patria“, der getarnt an der Blücherbrücke lag und als Wohnschiff diente. Das Wasser kräuselte sich nur leicht, dennoch kam Karl Dönitz nicht in den Schlaf. Er beschäftigte sich pausenlos mit neuen, schwer kontrollierbaren Informationen über Vorstöße alliierter Truppen, stellte fest, dass bis auf Ostfriesland und Schleswig-Holstein Nordwestdeutschland inzwischen komplett besetzt war und sprach den Befehl aus, den Nord-Ostsee-Kanal zu verteidigen – als letzten Puffer für die neue Reichshauptstadt Flensburg.
Am Morgen eine Überraschung: Die Baracken, die für den Führungsstab vorgesehen waren, waren erst teilweise eingerichtet und beinhalteten nur eine bescheidene Nachrichtentechnik. Wolfgang Lüth räumte kurzerhand das Standortgebäude für die Regierungsvertreter und für das Oberkommando der Wehrmacht. Aber auch in diesem Ambiente fiel die Lagebesprechung verheerend aus: Im gesamten Reichsgebiet war das Verkehrswesen zusammengebrochen, was den Transport von Rohstoffen und Lebensmitteln torpedierte. Es bewegten sich fast nur noch die Flüchtlingsströme und das zurückweichende Militär. Aus dem Süden des Reiches traf ein Telegramm ein: „Ordnung nur noch in Oberdonau, Auflösungserscheinungen in Truppe und Verwaltung, herumlungernde Soldaten.“ In Mürwik war allen klar: Der Krieg war militärisch verloren. Es konnte eigentlich nur noch darum gehen, möglichst viele Menschen und Gebäude vor Tod und Zerstörung zu bewahren.
Der Sonderzug „Auerhahn“
Noch nicht in Flensburg eingetroffen war der Sonderzug „Auerhahn“. In seinen Waggons befanden sich nicht nur Lebensmittel, Wehrmachtsgüter und eine Funkstelle, sondern auch geheime Dokumente der Kriegsmarine und viele private Gegenstände von Karl Dönitz. Der Großadmiral persönlich hatte Asmus Jepsen, einem Kapitänleutnant aus Angeln, befohlen, den Zug vom alten Hauptquartier in Holstein an die Flensburger Förde zu überführen. Das war alles andere als eine kleine Aufgabe in Zeiten größter Kriegsmüdigkeit und weiterer Fliegerangriffe.
Es dauerte fast einen Tag, ehe Eckernförde erreicht war, das inzwischen zur „Offenen Stadt“ erklärt worden war und nicht mehr verteidigt werden sollte. Viele deutsche Soldaten setzten sich ab und versuchten, sich auf eigene Faust in ihre Heimatorte durchzuschlagen. Asmus Jepsen blieb eine kleine Restmannschaft. Überdies war die Lok abgekoppelt worden, und es dauerte etliche Stunden, bis sich Ersatz fand. Als der Sonderzug „Auerhahn“ im Bahnhof Sörup eintraf, griffen britische Flugzeuge an. Die Verbindung nach Mürwik brach ab, die wichtige Lieferung steckte fest. Asmus Jepsen soll die Geheimsachen vernichtet und viele Lebensmittel an Flüchtlinge verteilt haben. Die Dienstpflicht war offenbar beendet, und der Kapitänleutnant ging nach Hause. Nur wenige Männer blieben am Sonderzug, der einige Stunden später seine Fahrt doch noch nach Flensburg fortsetzte.

Am nächsten Morgen – es war der 5. Mai – erhielt Asmus Jepsen überraschenden Besuch von der geheimen Feldpolizei. Er wurde vor den Augen seiner Familie festgenommen. Die NS-Marinejustiz stufte das Verhalten von Asmus Jepsen in einer Eilsitzung als „Fahnenflucht“ und „Plünderung“ ein und verurteilte den Angeklagten zum Tode. Karl Dönitz bestätigte dieses Urteil mit seiner Unterschrift. In seiner Zelle in Mürwik schrieb Asmus Jepsen einen Abschiedsbrief an seine Frau: „Du, die Kinder und mein Vaterland waren es, für die ich stets kämpfte, damit wir alle in einem schönen Vaterland leben konnten. Leider ist es anders geworden. Deutschland wird nichts mehr bedeuten und ihr werdet nichts als Not und Sorgen kennen!“ Am nächsten Abend wurde der Familienvater auf dem Twedter Feld erschossen und an Ort und Stelle verscharrt. Noch in der Nacht gruben einige Angehörige den Leichnam wieder aus und überführten ihn zum Friedhof Adelby.
Wilde Gerüchte am 3. Mai
Am 3. Mai 1945 war die „Flensburger Nachrichten“ nicht erschienen – wegen eines Stromausfalles am Vortag. Stattdessen kursierten Gerüchte: Angeblich wolle Karl Dönitz Flensburg bis auf den letzten Mann verteidigen, hieß es, während andere davon erzählten, dass die US-Amerikaner acht Kilometer vor Flensburg stünden. Zur Mittagszeit stürmten die Massen die Bunker und Unterstände, da ein Bombenangriff die Stadt „pulverisieren“ sollte. Es geschah nichts. Die Polizeidirektion forderte via Drahtfunk: „Bewahrt Ruhe, Ordnung und Haltung!“ Um 19.30 Uhr nahm eine neue Radiostation mit dem großspurigen Namen „Reichssender Flensburg“ ihren Betrieb auf. Es sprach Rüstungsminister Albert Speer. Er appelliert an die Deutschen, Disziplin zu bewahren und eine Lähmung des öffentlichen Lebens zu verhindern.
Text: Jan Kirschner