Flüchten zu müssen, sein Land zu verlassen, seine Heimat aufzugeben, einen Neuanfang in einem anderen Kulturraum zu wagen, ist nicht nur eine brennend aktuelle Thematik. In den Jahren nach dem 2. Weltkrieg haben Heimatvertriebene und Ausgebombte bei uns dieses bittere Schicksal erfahren müssen. Doch in der Geschichte unserer Landschaft, im frühen 5. Jahrhundert, hat es schon einmal ein außergewöhnliches Ereignis von Emigration und Flucht gegeben: Die Landnahme der Angeln vor über 1.500 Jahren in Britannien. Wenn auch Ludwig Uhland diese Begebenheit in seiner Ballade „Der blinde König“ verdienstvoll umgesetzt und der Steruper Schriftsteller Heinrich Andresen sie in seinem Gedicht vom „Angeln-treck“ dramatisch bearbeitet hat, ist die Ausbeute der Archäologen über Fakten, Belege und Beispiele bisher lückenhaft geblieben. Kritiker formulieren schärfer. Die Angeln haben nie zu den Forschungsschwerpunkten der Historiker in Deutschland oder Dänemark gehört. Sie seien ein „vergessenes“ Volk. Das gelte auch – nicht ganz so extrem – für die Landnahme der Sachsen und Jüten in Britannien. Alle drei Völker, belegen Aufzeichnungen in Britannien, haben wesentlich zur Grundlage der englischen Gesellschaft beigetragen. Das gilt besonders für das Volk, das rund um Flensburg lebte, damals ein Flecken von fünf Hofstellen.
Die Angeln im Jahre 456 n. Chr. Geburt: So könnte es zum Aufbruch der Auswanderung gekommen sein
Die Entscheidung fiel auf dem Thorsberg, im Zentrum des heutigen Zentralortes Süderbrarup, im Juli des Jahres 456 nach Christi Geburt. Eigentlich hätte es ein wohltuend warmer Sommer sein sollen. Aber wieder, wie in den Jahren zuvor, rasten kalte Regenstürme über das Land, Hagelschauer vernichteten die Ernte, bitterer Hunger herrschte im Land der Angeln zwischen Alsen und der Eider. Die zehnjährige Elise konnte sich an keinen wirklichen Sommer in ihrem bisherigen Leben erinnern. „Ruut ut Land!“ klang die Losung von Dorf zu Dorf. „De Dood treckt in uns Heimat!“
Die radikale Forderung, das Land fluchtartig zu verlassen, hatte durch eine Krankheitswelle neue Nahrung erhalten. In fast allen Sippen hatte sie zu Not, Tod und neuem Elend geführt. Auch Elises Zwillingsschwester war Opfer dieser Art Beulenpest geworden und hatte in ihren letzten Stunden nur noch Blut und Eiter erbrochen. Von ihren einstmals siebzehn Geschwistern hatten nur Almara, Alwinus, Idea, Frode und Henriette, die noch im Wochenbett lag, überlebt.
Trotz aller Opfergaben für die heilige Nerthus, die oberste Göttin des Volkes der Angeln, war kein Ende der Regenzeit, des Unwetters erkennbar. Wildtiere blieben weg, Seuchen befielen die Haustiere, die Monate klirrender Kälte wurden mehr. Der Klimawandel war unübersehbar.
Diese Aussichtslosigkeit förderte die Verzweiflung der Menschen und ihren Willen, das Land der Väter und Vorväter endgültig zu verlassen. Alle Versuche in den Vorjahren, weit im Norden neu zu siedeln, waren an den Grenzbarrikaden von Jüten und Dänen gescheitert.
Auch mit Sack und Pack durch Holstein in den Süden zu ziehen, wurde zuerst durch die Sueben, dann durch Wagrier und Slawen verwehrt. Sie alle waren Opfer der östlichen Völkerwanderung, nun wollten sie nicht wieder weichen.
„Was uns bleibt“, hatte Ocke, der gewählte Stammesfürst, auf dem Thorsberger Thing erklärt, „ist der gefahrvollste aller Wege nach Westen über die Westsee nach Britannien. Wir wollen uns weder von unseren Nachbarn in Nord noch in Süd versklaven lassen!“
Und als er mit seiner Donnerstimme ausrief: „Einen Krieg zu führen lehnen wir friedliebenden Angeln ab. Aber unsere Freiheit und Unabhängigkeit die gilt es zu verteidigen und zu erhalten”, da schlugen die blondbärtigen, fast zahnlosen Nordmänner so kraftvoll auf ihre Holzschilde mit dem Eisenbuckel, dass die Krähen aus dem nahen Eichenkratt erschrocken in die Luft stiegen und beleidigt zur Slie (Schlei) abstrichen.
Doch bevor es an diesem Tag den folgenreichen Thingbeschluss gab – die Heimat zwischen Förde, Schlei und Eider aufzugeben – gingen die Männer, so wie es bei großen Entscheidungen üblich war, zurück in ihre Sippen, um sich dort zu beraten. Ob Alt oder Jung, Frau oder Mann, jede Meinung wurde bei einer Mahlzeit aus Wasser und steinhartem Fladenbrot angehört.
Doch es bleibt dabei: Fast alle waren für das Verlassen des Angelnlandes, für die Flucht vor einem langsamen aber unweigerlichen Tod. Nur die Mehrzahl der Alten verweigerte das Wagnis, sie wollten bleiben. Zeitzeugen berichten später augenzwinkernd: Die Greise in Angeln seien mit Plattfüßen gesegnet, deshalb zu langen Wanderungen nicht geneigt! Unmittelbar nach dem Thing begann der Bau der Ruderboote. Wie groß muss die Not gewesen sein, um die stürmische, unberechenbare Nordsee in winzigen Nussschalen zu überqueren! „Jürn ut Westerderholdmohlendiek: „Seemann, de bün ik nich, man över Bord schiffen, dat liggt mi!“ Kunstvoll wurde deren Steven geschnitzt, um den Schutz der Göttin sicher zu sein. Ein ganzes Volk brach auf. Nicht nur Nahrung, Kleidung und Werkzeuge wurden verstaut. Nein, die Bootsflüchtigen trugen ein unsichtbares Gepäck mit nach Britannien, in das neue Land der Angeln. Sitte und Brauchtümer, Wohnart und Lebensweise, ihre Kultur, den Glauben und die Sprache. Mit all jenen Bräuchen, so ist die Auffassung englischer Archäologen, haben die Angeln in herausragender Weise zur Grundstruktur der englischen Gesellschaft und Lebensart beigetragen. Überspitzt könnte man sagen „England – Made in Germany“. Über fünf Jahrhunderte haben allein angelsächsische Königsreiche Britannien geprägt!
Zu den entscheidenden Einflüssen der Angeln zählen britische Forscher u. a.
· deren Wille zu Freiheit und Unabhängigkeit
· die Thing-Demokratie als Vorläufer des Parlamentarismus
· den ein Volk einigenden Wert der niederdeutschen, der Plattsprache
· was damals bis heute nicht selbstverständlich ist, mit Nachbarvölkern und Fremden friedvoll umzugehen.
Ein Grund dafür war der Glaube der Angeln. Ihre höchste Heilige war Nerthus, eine Frau, die für Fruchtbarkeit und damit Liebe sorgte, kein schwertschwingender, breitbrüstiger Kriegsgott wie ihn z. B. die Sachsen verehrten. Dieser Sachverhalt mag auch eine Rolle bei der gemeinsamen Landnahme in Britannien durch Angeln, Sachsen und Jüten gespielt haben. Während die Letzteren den auf der Insel sesshaften, aber verfeindeten Briten, Pikten, Iren, Walisern und Kelten zeigten, „wo die Harke hing“, also durch wüste Eroberungen für neue klare Machtverhältnisse rund um London sorgten, übernahmen die friedliebenden Angeln die Funktion der Brückenbauer zwischen Neu- und Altbürgern mit durchaus diplomatischem Geschick. Von Haus aus Handwerker, Händler und Bauern, waren sie auf Verständigung und gute Nachbarschaft eingestellt, so wie sie es seit Hunderten von Jahren gewohnt waren. Diese friedfertige Lebensart wurde durch rege Händler in ganz Britannien verbreitet. Fiete ut Laikjeerholt: „Höker de bün ik nich, man huddeln dat kann ik!“ Damit verbunden war der Siegeszug der plattdeutschen Angeln-Sprache, so mutmaßen englische Wissenschaftler. Diese wurde ergänzt durch die Übernahme von Sprachteilen der Urvölker. Sie wurde die beherrschende Volkssprache, die Dachsprache der Menschen im Angelnland, in England. Auf der Insel vieler Völker, zahlreicher Sprachen wurde das Niederdeutsche, das Platt der Angeln, ein einigendes Band, nach Meinung des Benediktinermönches Beda Kenerabilis, der um 731 n. Chr. die Kirchengeschichte des englisches Volkes verfasste.
Was nicht belegt und wohl auch nie bewiesen werden kann, ist der Einfluss der selbstbewussten, weizenblonden, klugen, kernigen wie ansehnlichen Angeln-Töchter wie Elise, die von ihren Sippen in andere Familien in nah und fern verheiratet wurden. Es ist wohl nicht nur bei der Übernahme von Kochrezepten wie Schnüsch und Schwarzsauer geblieben!
Wolfgang Börnsen